Archiv


Aufflackernde Filmkunst

Sie heißen "Orizzonti", "Settimana internazionale della critica" und "Giornate degli autori", gemeint sind damit die Autorenfilmreihen bei den Filmfestspielen in Venedig. Die beachtenswerte Filme setzten vor allem gesellschaftskritischen Schwerpunkte.

Von Christoph Schmitz |
    Ein Schwarzafrikaner traut seinen Augen nicht. Sein Boot voller Wirtschaftsflüchtlinge ist gerade vor Europas Gestaden gekentert, eine Welle hat ihn in letzter Sekunde an den Strand gespült, da kommt eine große, blonde nackte Frau auf ihn zu, wie eine antike Göttin, um ihm zu helfen. All seine Rettungswünsche für ein besseres Leben im Norden scheinen sich zu erfüllen. Am Ende aber wird der Afrikaner das bleiben, was er in Europas Augen ist – der Invasor, der eindringende Feind. Und so heißt auch der Film des belgischen Regisseurs Nicolas Provost: "The Invador". Als Sklave wird der Afrikaner auf Baustellen in Brüssel schuften, seine Selbstrettungsversuche werden scheitern.

    Auch der Film "Là-bas" des Italieners Guido Lombardi erzählt die Geschichten schwarzafrikanischer Einwanderer, die sich in Süditalien eine bessere Zukunft erhoffen. Lombardis Held sucht bei seiner Ankunft den vermeintlich betuchten Onkel, der ihn hergelockt hat. Auf die Frage, wo denn die reichen Afrikaner wohnen, entgegnet ihm ein Landsmann: im Gefängnis. So zeigt Lombardi zwei Alternativen für Immigranten: Entweder geraten sie in den Sog der Mafia, verdienen ordentlich, bis die Polizei zugreift, oder sie bleiben billige Tagelöhner und leben am Rande des Existenzminimums. Die drei den Wettbewerb von Venedig begleitenden Autorenfilmreihen - also "Orizzonti", "Settimana internazionale della critica" und "Giornate degli autori" -, sie setzten einen gesellschaftskritischen Schwerpunkt. Den sexuellen Missbrauch von Kindern und die öffentlichen Reaktionen darauf zeigten zwei Filme. In Daniele Gaglianones Spielfilm "Ruggine", Rost, erinnern sich mehrere Erwachsene heute an dasselbe traumatische Kindheitserlebnis in den 60er-Jahren, als ein Arzt in einem Vorort Roms mehrere ihrer Freunde vergewaltigt und erschlägt. Damals wie heute, so wird es sich zeigen, will niemand die Zeichen des Schreckens verstehen und handeln. Der Franzose Vincent Garenq zeigt den Missbrauch in "Guilty", Schuldig, aus einer ganz anderen Perspektive. Aus der Sicht der Täter, die aber in diesem Fall unschuldig sind, Opfer von Verleumdungen. Ein realer französischer Justizskandal, der das Glück einer unschuldigen Familie zerstörte. Überhaupt die Justiz. Ihr Kampf gegen Interessen der Wirtschaft wurde am Lido unter die Lupe genommen, in vorderster Front mit Philippe Liorets "Tout nos envies", All unsere Wünsche. Tapfer bis zum Tod arbeitet eine Richterin gegen illegale Versicherungsverträge. Tapfer wurde in Venedig für das Gute gestritten. In ordentlich produzierten Fernsehformaten. Aber Kunstkino, ästhetische Handschriften, wagemutige Bildsprache schienen dabei oft zu stören. Wie ein Aufschrei dagegen, gegen das langweilige Durchschnitts- und Kommerzkino und für den Autorenfilm wirkte der japanische Film "Cut". Gedreht vom in den USA lebenden Iraner Amir Naderi.

    Der Held preist in Reden die Klassiker der Filmgeschichte, zeigt sie auf seiner heruntergekommenen Dachterrasse und verdient sich qualvoll Yen für Yen, um die Schulden seines ermordeten Bruders abzustottern, indem er sich im Keller eines Boxclubs als lebenden Boxsack anbietet. Jeden Schlag in den Bauch lässt er versteigern, die Schläge ins Gesicht sind am teuersten. Ein cineastischer Märtyrerfilm, schonungslos, kompromisslos, wie Kino sein muss. Weniger verbissen, aber nicht weniger eindrucksvoll Michael Glawoggers dokumentarische Trilogie "Whores' Glory", Huren-Ruhm, über drei Rotlichtbezirke in Thailand, Bangladesch und Mexiko.

    Glawoggers Kamera schaut mit aller Ruhe und kommentarlos in die bizarren Milieus, lässt den Zuschauer die unausgesprochenen Leidensgeschichten entziffern und fängt expressive Nachtszenen ein. So flackerte dann doch im Begleitprogramm der Filmbiennale die "arte cinematografica" auf, die Filmkunst.