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Aufgeschoben ist nicht Aufgehoben

Die Prüfungen rücken näher, von der Examensarbeit ist noch keine Seite geschrieben, doch viele Studenten beschäftigen sich erst mal nicht mit Lernen, sondern mit Putzen, Telefonieren, Internet und Fernsehen. Psychologen der Universität Münster haben in einer Studie festgestellt, dass fast jeder Fünfte von diesem Phänomen des Aufschiebens betroffen ist, und bieten ein spezielles Lerntraining an.

Von Claudia Ullrich-Schiwon |
    "Das habe ich schon immer gemerkt, dass es halt Kommilitonen gab, die deutlich früher angefangen haben, Lerngruppen gebildet haben - und ich selber hab noch ganz andere Dinge gemacht. Das hat mich zum Nachdenken gebracht: Ja Stefan, Du musst endlich was machen, das kann nicht so weiter gehen."

    So landete Stefan gerade noch rechtzeitig, um sein Examen nicht zu gefährden, in der Psychotherapie-Ambulanz der Uni Münster. Die Grenzen zwischen natürlichem und krankhaftem Aufschieben sind fließend, so die Leiterin der Ambulanz, Diplom-Psychologin Margerita Engberding. Unangenehme, lästige Dinge - das ist klar - die macht keiner gern, und schiebt sie erst einmal auf die lange Bank.

    Wirklich behandlungsbedürftig erscheint Aufschiebeverhalten dann, wenn die Symptomatik so auftaucht, dass es im Rahmen einer wirklich auch bemerkenswerten psychischen Störung auftaucht. Das heißt, man kommt insgesamt mit den Anforderungen im Alltag nicht mehr zurecht, man kommt insgesamt mit den Studienanforderungen nicht mehr zurecht.

    Selbstvorwürfe, Versagensangst können die Folgen sein und schlimmstenfalls droht eine Depression. Die Experten haben den "klassischen Aufschieber" erst einmal charakterisiert:

    "Der Typ 'Aufschieber' hat das Problem, dass die Arbeiten, die zu einer bestimmten Zeit fällig wären, dass er die zu spät anfängt, und er kommt dann entweder in die sehr stresshafte Situation herein, dass er in kürzester Zeit sehr viel erledigen muss. Oder aber, er kommt in die Situation, dass er Dinge, die er angefangen hat, wieder aufgibt und wieder von Neuem anfängt. Also ein Seminar nicht nur einmal beginnt sondern zweimal."

    Oder auch dreimal. Deshalb finde man unter den höheren Semestern und auch bei den Studienabbrechern verstärkt "Aufschieber", sagt Margarita Engberding. In strukturierten, verschulten Fächern wie Medizin sind sie seltener zu finden. Bei Geisteswissenschaftlern und auch bei den Psychologiestudenten verleite die freie Zeiteinteilung zum Aufschieben. Stefan, 29 Jahre, kennt, das: Er studiert im siebten Semester Psychologie:

    "Also ich habe dann wirklich Leute angerufen, mit denen ich lange nichts zu tun hatte. Ich habe dann wirklich angefangen die Wohnung zu putzen, und dann kommen noch die 'Simpsons' im Fernsehen - also viele Dinge, die wichtiger waren. Und dann habe ich mir immer gesagt: Das wird schon, das wird schon."

    Alleine wäre das wahrscheinlich auch auf den letzten Drücker nichts geworden. In der Psychotherapie-Ambulanz hat Stefan unter anderem gelernt, zu planen, und Struktur in sein Leben zu bringen. Margarita Engberding:

    "Pünktlich anfangen, im Unterschied zu 'Aufschieben', das ist so ein Punkt, den wir trainieren, und sich ganz realistische Ziele setzen, und gucken kann ich die tatsächlich in diesem Zeitrahmen einhalten. Weil 'Aufschieber' sich da oft maßlos überschätzen, was sie in kurzer Zeit doch irgendwie hinkriegen könnten."

    "Aufschieber" meinen, sie müssten eigentlich ununterbrochen ganz viel lernen, um den Stoff zu bewältigen. Und weil der Berg und die Hürden immer größer werden, fangen sie gar nicht erst an. Deshalb wird, so paradox es klingen mag, im sechswöchigen Lerntraining das Arbeiten, außerhalb von bestimmten Zeitfenstern, verboten. Restriktion ist angesagt, sagt eine der Lerntrainerinnen:

    "Dass wirklich die Zeit begrenzt ist, und die Studenten auch eine andere Perspektive auf’s Lernen bekommen, zum Beispiel auch unterscheiden zwischen Arbeit und Freizeit."

    Die Zeitfenster werden dann ständig erweitert. Wichtig ist auch das Online-Tagebuch, in dem die Studenten jeden Lerntag genau protokollieren müssen. Das wird überprüft, und so lernen sie den Tag zu strukturieren und verbessern ihre Selbststeuerung. Und das verhilft zu unverhofften, simplen "Aha"-Erlebnissen, sagt die Trainerin:

    "Ja, hätte ich das schon für mich vorher entdeckt, dass ich einfach nur in die Bibliothek gehen muss, wären diese Probleme vielleicht gar nicht so aufgetreten."

    Das Ziel des Lerntrainings ist nicht "Dauerlernen", sondern eine hohe Lerneffizienz, betont Margerita Engberding:

    "Es geht ja um anfangen und eine Weile durchhalten. Es ist eben nicht eine kurzfristige Hilfe für das Examen, sondern wir gehen genau an das grundsätzliche Verhalten, nämlich dass die Leute lernen zu beobachten: Was mache ich, wenn ich mir vorgenommen habe, ich will um fünf Uhr anfangen?"