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Aufklären über Europa

Die EU-Kommission hat in der Türkei eine große Kennenlernkampagne gestartet. Obwohl die Beitrittsverhandlungen stocken, soll vor allem die junge Generation der Türken über die Arbeit der Union informiert werden. Denn die Vorurteile sitzen tief. Gunnar Köhne berichtet.

09.05.2006
    Am Fähranleger von Bostanci: Der Seebus, ein Katamaran, steht zur Abfahrt bereit. Zeynep Akgül muss sich beeilen. Die Mitarbeiterin des Istanbuler Informationszentrums der EU will zu einer Grundschule auf die europäische Seite der Stadt. Seit dem offiziellen Start der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im vergangenen Oktober sucht Akgül im Auftrag der EU-Kommission fast jede Woche eine Schule auf. Die Politologin, die viele Jahre im Ausland verbracht hat, weiß inzwischen gut, was die türkischen Jugendlichen beim Thema EU-Mitgliedschaft umtreibt:
    "Die Kinder fragen ständig, ob eine Mitgliedschaft bedeutet, dass die türkischen Traditionen abnehmen. Ich denke, dass ist nicht nur die Meinung der Jungen, sondern auch der älteren Generation. Die Jungen spiegeln nur wider, was die Gesellschaft im Allgemeinen denkt."
    Ankunft in der Grundschule des Istanbuler Vororts Zeytinburnu: Die letzten achten Klassen warten bereits, 14- und 15-Jährige, denen die Türkin Akgül das Einmaleins der EU erläutert – vom Schuman-Plan bis zur Osterweiterung. Noch gehört die EU nicht zum türkischen Schulpensum. Und nur die wenigsten wissen, dass sich auch türkische Jugendliche an den zahlreichen Ausbildungs- und Austauschprogrammen der EU beteiligen können. Programmnamen wie Erasmus oder Sokrates hören die meisten das erste Mal. Doch die kritischen Fragen lassen nicht lange auf sich warten:
    "Seit 40 Jahren versuchen wir in die EU zu kommen. Warum wollen uns die anderen nicht haben? "

    "Sollten wir nicht besser eine eigene Union ins Leben rufen oder einer islamischen Union beitreten?"
    Nein, sagt Akgül, wirtschaftlich und politisch sei der natürlich Platz der Türkei in Europa. Und auch ein Lehrer redet seinen skeptischen Schülern ins Gewissen:
    "Früher haben wir unsere Tomaten nach Griechenland geschickt, wo es zu Tomatenmark verarbeitet, in Dosen gefüllt und nach Europa gebracht wurde - als griechisches Tomatenmark. Wir verdienten einen Cent, die Griechen fünf. Wollt ihr solche Verhältnisse zurück? Denkt doch einmal nach. Mit den entwickelten Nationen zusammenzuarbeiten und sich an ihrem Niveau zu orientieren bedeutet, Eure Zukunft zu sichern."
    In drei Stunden hat Zeynep Akgül knapp 300 Schülern Rede und Antwort gestanden. Manchmal, sagt sie, sei es etwas gewöhnungsbedürftig, als Türkin beispielsweise für die restriktive Visumpolitik oder muslimfeindliche Äußerungen einzelner europäischer Politiker den Kopf hinhalten zu müssen. Sie versucht sich strikt an den unparteiischen Informationsauftrag zu halten:
    "Die Fragen, die uns gestellt werden, basieren oft auf Mythen. Zum Beispiel die Behauptung, die türkische Wirtschaft werde in der EU leidtragend sein. Dafür gibt es aber keine Grundlage. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass die Türkei im Gegenteil wirtschaftlich profitieren wird."
    Am Ende eines langen Tages kehrt Zeynep Akgül an ihren Arbeitsplatz im EU-Informationszentrum am Takism-Platz zurück. Wenn sie nicht gerade im Außeneinsatz sind, beraten Akgül und zwei Kolleginnen hier die Besucher in EU-Angelegenheiten. Online-Terminals und reichlich Broschüren sind ebenfalls vorhanden. Die meisten Besucher des Info-Zentrums fragen nach Studien- und Arbeitsmöglichkeiten in EU-Ländern. Immer häufiger kommen auch Geschäftsleute, die in Europa investieren möchten. Dass die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara krisenanfällig sind und es am Ende vielleicht doch nichts werden könnte mit der EU-Mitgliedschaft der Türkei, das alles hält Zeynep Akgül nicht von ihrem Auftrag ab:
    "Wie es auch politisch weiter gehen mag – es ist wichtig, dass die Menschen hier informiert werden, damit sie begreifen, was die EU ist. Das ist besser als negative Stimmungen und Gefühle."