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Aufklärung versus Mythos

"Jettatura", der Titel dieser 150 Jahre alten "phantastischen" Novelle, ist italienisch und bedeutet soviel wie der böse Blick. Der böse Blick muss in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Thema gewesen sein, Gautiers Übersetzer Holger Fock nennt im Nachwort eine ganze Reihe von Namen, unter ihnen Prosper Mérimée und Stendhal. Meist waren es allerdings Burlesken oder Komödien, die sich dieses Phänomens annahmen, im rationalen Frankreich hatte man über den italienischen Aberglauben offenbar nur Spott übrig. Bei Gautier ist das nicht ganz so eindeutig.

Von Peter Urban-Halle | 08.08.2006
    Der Held seiner Novelle ist der französische Adlige Paul d’Aspremont, der seine englische Verlobte aus gutem Hause Alicia Ward besuchen kommt. Die edelblasse junge Dame ist eine typische Ikone des 19. Jahrhunderts:

    Sie besaß eine so helle Haut, dass Milch, Schnee, Lilien, Alabaster, Jungfernwachs und was den Dichtern sonst noch alles zum Vergleich mit einem makellosen Weiß dient, daneben gelb erscheinen, dazu kirschrote Lippen und kohlrabenschwarzes Haar.

    Alicia hat mit ihrem schrullig-naiven Onkel in der Nähe von Neapel ein Landhaus gemietet und verspricht sich vom sonnigen Süden ein wenig Farbe und eine Kräftigung ihrer angeschlagenen Gesundheit. Schon von Anfang an werden Warnhinweise gestreut, spätestens mit dem Auftritt der italienischen Dienerin der Wards ahnt man die kommende Tragödie. Diese Frau aus dem Volk erkennt in Paul einen so genannten "Jettatore". Um den Verlauf noch dramatischer zu gestalten, tritt dann ein Rivale auf, der edle, leider auch etwas hinterhältige neapolitanische Graf Altavilla, der die Gelegenheit nutzt und ihn ebenfalls des bösen Blicks beschuldigt. Paul nimmt sich diese Anschuldigungen sehr zu Herzen.

    Er setzte sich vor einen Spiegel und betrachtete sich mit erschreckender Eindringlichkeit: die Fäserchen in seiner Iris wanden sich wie zuckende Vipern; seine Augenbrauen zitterten wie der Bogen, von dem der tödliche Pfeil soeben weggeschnellt ist; seine weiße Stirnfalte erinnerte an die Spur, die ein Blitzschlag hinterläßt; aus seinem glühenden Haar schienen Höllenflammen zu züngeln.

    Mit einemmal entsinnt sich Paul an tausend Fälle, in denen, wie er glaubt, Freunde oder Bekannte durch seinen Blick zu Tode gekommen sind, und nur die reizende, in ihrer Liebe zu ihm unbeirrbare Alicia hält die "Jettatura" für einen faulen Zauber. Am Ende sterben hier tatsächlich fast alle, aber eben nicht durch den bösen Blick, sondern im Duell, durch die Schwindsucht und durch eigene Hand.

    Es ist wahrscheinlich kein Wunder, daß Gautier dieses Sujet irgendwann aufgreifen würde. Er hatte zwar keinen bösen, aber einen schonungslosen Blick, was für seine Beschäftigung als Theater- und Kunstkritiker auch unerläßlich war. Gautier war ein Augenmensch, das merkt man in dieser Novelle sofort an den wunderbaren detaillierten und farbenprächtigen Porträts von Menschen und Landschaften. Man hat den Eindruck, Gautier habe sein Buch nur geschrieben, um die Reize des Gesehenen zu schildern. Ja, es erscheint wie eine Art Vorläufer späterer Illustrierten und Bildmagazine, seine Wortporträts berauschend schöner Frauen und einflußreicher Männer sind im Grunde Abbildungen, heute nähme man Photos. Bei Gautier, der auch in der Literatur immer zuerst die Kunst sah, wirken sie wie Gemälde. Ja, er selbst vergleicht seine Szenerien ständig mit denen mehr oder weniger berühmter Maler, von Caravaggio über José de Ribera bis Murillo. Gautier ist sozusagen ein bildender Künstler, der schreibt.

    Eine Messinglampe hing an drei dünnen Ketten vom Mittelbalken der Decke herab und beleuchtete mit drei Dochten, die arglos in Öl getaucht waren, das Zentrum der geräumigen Küche, während die Ecken im Dunkeln blieben. Im Spiel von Licht und Schatten brachte das von oben herabfallende Licht eine Gruppe charakteristischer Gesichter malerisch zur Geltung, die um einen wuchtigen Holztisch versammelt war, der die Mitte des großen Saals einnahm und auf dem das Hackbeil tiefe Kerben und Furchen hinterlassen hatte.

    Die deutsche Version macht – abgesehen von ein paar grammatikalischen Unreinheiten – dem Übersetzer Holger Fock alle Ehre, wie Gautier bemüht er sich – ohne bemüht zu wirken – um den vollkommenen Ausdruck und das treffende Wort. Selbstherrlichkeiten untersagt er sich. Die artistische Begeisterung der eigenwilligen Übertragung, die Alastair 1926 anfertigte, ist bei heutigen Übersetzern verpönt, davon abgesehen hat Alastairs rauschhaftes Deutsch einen Nachteil: die Gautiersche Ironie kommt dabei zu kurz.

    Denn trotz seiner fixen Idee der reinen, schönen Dichtung ist Gautier nicht feierlich, die Novelle ist in einem fast durchgehend ironischen Ton gehalten, das fängt bei der Schilderung der englischen Touristen und der italienischen Einheimischen an und hört mit einem an tollste Schauerromane erinnernden Schluss auf. Nur bei seinem eigentlichen Thema, nämlich dem bösen und schließlich tödlichen Blick, verzichtet er auf diese Gabe. Hier herrscht lediglich der Zweifel. Gautier will sich weder richtig zur Macht dieses Blicks äußern, der im Volksglauben wurzelt und den er immerhin mehrmals "Aberglauben" nennt, noch schlägt er sich ganz auf die Seite der Vernunft. Die Kernfrage, die Gautier offenbar nicht beantworten, sondern nur stellen will, heißt wohl eher: Welche Macht hat die Aufklärung und welche Macht hat der Mythos? In "Jettatura" scheint die Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Mythos unentschieden auszugehen. Gleichgültig lässt uns seine Erzählung deswegen nicht. Obwohl sie Kunst ist durch und durch, konfrontiert sie uns nämlich mit einer der wesentlichsten Fragen des folgenden 20. Jahrhunderts.