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Aufklärung von NS-Verbrechen

Die "Zentrale Stelle" zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen nahm am 1. Dezember 1958 in Ludwigsburg ihre Arbeit auf. Ihre Tätigkeit bestand darin, gegen verdächtige Täter zu ermitteln und ihr gesammeltes Material den Staatsanwaltschaften zur weiteren Strafverfolgung zu übergeben. Zum 50. Jubiläum dieser Institution erzählt nun ein Sammelband ihre Geschichte. Paul Kohl stellt das Buch vor.

    "Ein ungewöhnlicher Prozess des Schwurgerichts Ulm findet seinen Abschluss. Schon der Umfang des Prozesses fällt auf. Ich glaube schon, dass man am äußeren Erscheinungsbild nicht zu Unrecht die Worte hört von einem Monsterprozess, von einem Mammutprozess.

    Das allein ist aber nicht das Besondere, das auffällt. Es ist weiterhin die Art des Gegenstandes dieser Verhandlung. Man hört von Massenverbrechen. Staatlich organisierten Verbrechen. Schatten der Vergangenheit werden wieder lebendig, ein Stück deutscher Geschichte läuft vor uns ab. Wohl das dunkelste Kapitel unserer eigenen Geschichte."

    Mit diesen Worten eröffnete der Vorsitzende Richter Edmund Wetzel die Urteilsverkündung und Begründung im Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958. Die zehn Angeklagten des "Einsatzkommandos Tilsit" wurden zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Sie waren für schuldig befunden worden, im Sommer 1941 im deutsch-litauischen Grenzgebiet über 5.500 Juden ermordet zu haben.

    Erst durch diesen Prozess von 1958 wurde in der breiten Öffent-lichkeit der Massenmord an Juden bekannt. Und er zeigte in erschreckender Deutlichkeit, wie viele NS-Täter in der jungen Bun-desrepublik noch straffrei lebten. Als zwingende Folgerung wurde am Ende desselben Jahres durch eine Verwaltungsvereinbarung der Justizminister und -senatoren der Länder eine zentrale Stelle gegründet, deren Aufgabe darin bestand, die noch unbehelligten Täter Strafprozessen zuzuführen.
    Zum 50jährigen Bestehen dieser Behörde hat nun der "Förderverein Zentrale Stelle e.V." eine Dokumentation herausgegeben unter dem Titel "Die Ermittler von Ludwigsburg - Deutschland und die Aufklä-rung nationalsozialistischer Verbrechen".
    Die Feindseligkeit, der die Ludwigsburger Behörde bis in die 60er Jahre hinein ausgesetzt war, verdeutlicht Heike Kröschke in ihrem Beitrag über die öffentliche Reaktion:

    "Die Ludwigsburger Bevölkerung reagierte überwiegend ablehnend auf die Gründung der Zentralen Stelle. Das bekamen die Mitarbeiter der Behörde im Alltag zu spüren, denn die gesellschaftliche Integ-ration in das Stadtleben blieb ihnen verwehrt. Die Vorbehalte gegen die Ermittlungsstelle beschränkten sich nicht auf das Jahr 1958, sondern hielten lange Jahre an.

    Bezeichnend war zum Beispiel, dass ein Teil der Trauergäste, die im April 1966 den Sarg des verstorbenen ehemaligen SS-Oberstgruppenführers Joseph - Sepp - Dietrich durch Ludwigsburg begleiteten, auf der Höhe der Zentralen Stelle bewusst die Straßenseite wechselte."


    Bei der Aufklärung der NS-Verbrechen hatte die Zentrale Stelle an vielen Fronten zu kämpfen. Behindert wurde sie als erstes von den Beschuldigten selbst. Dazu die Zeithistorikerin Annette Weinke, ehemalige Mitarbeiterin der Forschungsstelle Ludwigsburg:

    "Bezogen auf die NS-Prozesse lag eines der Hauptprobleme darin, dass viele der potentiell Beschuldigten sich schon vor Beginn der Vorermittlungen teilweise untereinander abgesprochen hatten und sich bestimmte Verteidigungsstrategien zurechtgelegt hatten, so dass es eigentlich kaum möglich war, diese gemeinsame Verteidigungsfront zu durchbrechen.

    Es gab auch keine Geständnisse oder kaum Geständnisse in diesen Verfahren, so dass die Ludwigsburger Ermittler fast ausschließlich auf Dokumente angewiesen waren. Und diese Dokumente sind bekanntlich oftmals beliebig interpretierbar. Das heißt, man kann sie so oder so interpretieren. Und nicht alle Gerichte sind der Interpretation der Staatsanwaltschaft gefolgt."

    Sondern sie haben oft mildere Urteile gesprochen als die Staatsanwälte gefordert hatten. Denn konnte durch die Vorarbeit der Zentralen Stelle endlich ein Strafprozess eingeleitet werden, erschwerten Richter eine Verurteilung unter anderem durch die juristische Auslegung des Begriffs "Beihilfe zum Mord". Sie sahen nur Hitler, Himmler und Heydrich als Haupttäter und die Ausführenden ihrer Befehle als bloße Gehilfen dieses Trios. Annette Weinke:

    "Das muss man so erklären, dass viele Richter der Meinungen waren, es handelte sich dort eben um Straftaten, die der Staat angeordnet und geduldet hatte, so dass man da doch mildernde Gesichtspunkte berücksichtigen sollte und eben der Höchststrafe für Mord auf jeden Fall entgehen wollte. Das war sozusagen eine Konstruktion, die die Gerichte selbst entwickelt hatten.

    Das war ja die Vorstellung von damals, die ein ganzes Volk angeleitet und verführt hatte. Diese Geschichtsvorstellung hat sich auch in der Rechtssprechung niedergeschlagen, dass es sich da um ein verführtes Volk handelt, das von dem Staat unterdrückt, verführt worden ist, um bestimmte Mordtaten zu begehen."

    Zu diesen strafprozessrechtlichen Erschwernissen kamen noch vielfältige Behinderungen auch aus den Länderverwaltungen und den jeweiligen Bundesregierungen hinzu. So liefen in vielen Fällen die mühsamen Vorarbeiten der Ludwigsburger ins Leere.

    Obwohl der großen Anzahl von Vorermittlungsverfahren, die von der Zentralen Stelle eingeleitet wurden, ein weitaus geringerer Anteil von Verurteilungen gegenübersteht, ist die nun fünf Jahrzehnte dauernde Arbeit der unermüdlichen Ermittler nicht hoch genug einzuschätzen.

    Bedauerlich bei dieser verdienstvollen Dokumentation ist das Fehlen einer Aufstellung der einzelnen Behördenleiter mit ihren jeweiligen Ermittlungsschwierigkeiten, aber auch Erfolgen. Ebenso fehlt ein Namens- und Sachregister. Sie wären als Pfadfinder durch das Dickicht der Informationen dringend nötig gewesen.

    Dennoch: Die Publikation "Die Ermittler von Ludwigsburg" ist ein empfehlenswertes, grafisch anschaulich gestaltetes Nachschlagewerk, ausgestattet mit umfangreichem Bildmaterial, mit Fotografien und Faksimiles von Dokumenten. Es ist zu wünschen, dass diese Dokumentation dazu beiträgt, das immense, öffentlich zugängliche Archivgut noch mehr zu nutzen als schon bisher.

    Hans H. Pöschko (Hrsg.): Die Ermittler von Ludwigsburg. Deutschland und die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen
    Herausgegeben im Auftrag der Fördervereins Zentrale Stelle e.V.,
    Metropol Verlag Berlin,
    192 Seiten, 19 Euro