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Aufmachen

"Hören Sie, die Wörter zählen nicht so sehr, nur die Empfindung. Konnte das Wort sie wiedergeben? Es gibt nicht nur das Wort, es gibt den Rhythmus des Textes."

Hans-Jürgen Heinrichs |
    Den Rhythmus aus den Wörtern und Wortfolgen herauszumeißeln und herauszudestillieren, dieser Aufgabe hat sich die 1900 bei Moskau geborene und letztes Jahr verstorbene Nathalle Sarraute ein Leben lang gewidmet. Dennoch fällt bei dieser Aussage, die sie kurz vor ihrem Tod, in ihrem letzten Gespräch, machte, auf, daß sie die Wörter in ihrer Bedeutung den Empfindungen unterordnet, während doch in ihren Werken, vor allem jetzt in ihrem letzten Roman Aufmachen, von nichts anderem als von den Wörtern die Rede zu sein scheint. Aber auch wenn sie, wie in diesem Fall, von Empfindungen spricht, meint sie in erster Linie einen entpersönlichten Empfindungsstrom, so etwas wie eine den Wörtern zugrundeliegende, richtiger: unter ihnen fließende Schicht, einen nichtsprachlichen Subtext. Dazu Saraute:

    "Ich habe den Eindruck, daß ich jedes Mal auf eine noch nicht au,-,gedrückte Empfindung stoße, immer, darin besteht meine Arbeit."

    Nathalle Sarrautes Roman Aufinachen, unter dem Titel Ouvrez 1997 bei Gallimard erschienen, liest sich wie ein zuende geführter Kampf mit den Empfindungen, ein Kampf, aus dem die Wörter als Sieger, als Souveräne hervorgehen. Im Inneren ein Strom von Empfindungen. Von außen treffen Wörter auf Manche hart wie Stein. Es entsteht eine Wand. Ein reger Wörter-Verkehr beginnt, denn auch der Empfindungsstrom äußert sich in Wörtern. Buchstabengebilde haben es mit Buchstabengebilden zu tun, agieren, verschließen sich, machen einander auf.

    "- Sie kommen herein, sie strömen herein, unaufhaltsam ... - Ein einziger Strom ... ohne Ende ... - Sie machen ein gleichmäßiges, monotones Geräusch ... - Kein Wort lauter als das andere ... - Sie tragen alle die gleiche Kleidung... - Eben jene, die sie zu Hause anhatten, als sie noch unter sich waren..."

    In solchen dialogisch durchgespielten und in fünfzehn Kapiteln variierten Szenen hat Nathalie Sarraute nun den Wörtern, als lebendigen Wesen, einen gleichsam ewigen theatralischen Spielraum gebaut. "Aufmachen" schließt dort an, wo ihre bisherigen Romane (oder "AntiRomane", wie man in der Rezeption des "nouveau roman" mißtrauisch geurteilt hatte) endeten. Das Buch nimmt umstandslos den Faden eines inneren Murmelns wieder auf, spinnt den Faden ohne jede psychologische Handlungsführung dialogisch, wörter-dialogisch, weiter, so, als hätte es nie etwas anderes gegeben und als wurde auch nie etwas anderes als ein Kampf der Wörter-Souveräne in der Geschichte sich ereignen.

    Alles scheint auf das hinauszulaufen und von dem herzukommen, was die Wörter-Akteure sagen und von inneren, überindividuellen Empfindungen, in Bildfolgen und Rhythmen, ausdrucken. "Tropismen" - elementare Gefühlsbewegungen -, so lautete die von Sarraute 1939 mit ihrem ersten, gleichlautenden Roman ausgegebene Zauberformel. Von "Tropismen" über "Porträt eines Unbekannten" und die "goldenen früchte" bis zu den Romanen der siebziger und Achtziger Jahre (wie "Zwischen Leben und Tod", "Kindheit" und "hier") - eine Schriftstellerin auf der Spur von Buchstabenfolgen. In dieser Wörter-Welt gibt es natürlich genau so viele Typen und Fiszuren wie im Leben: liebenswürdige und bösartige, gekidnappte" Worte und Wortüberläufer, das sind solche, die aus einem gegebenen Wort herauskommen, eine Art zitternde Wesen.

    Dieses sprachereignishafte Sprechen (das sich zuweilen zu einem Wörterund Buchstaben-Taumel verdichtet) wird von Sarraute bis an seine Grenzen geführt, daraufhin getestet, mit Witz und Ironie getestet, was es noch über das Geheimnis und die Wahrheit, den Sinn und die Bedeutung zu sagen vermag:

    "Du bist eine scheue Nymphe, die sich auf Zehenspitzen nähert und, einen Finger auf den Lippen, flüstert ... Es ist ein Geheinmis ... - Oder du läßt die Gäste einfach etwas Köstliches probieren ... Es ist ein Geheinmis ... Wer möchte nichts davon? Alle möchten natürlich. Sie recken die Hälse"

    Was schlüpft aus den Wörtern heraus, wenn ihnen aufgemacht wird: nur das alte Klischee oder ein noch unbekanntes Wesen? Nathalie Sarrautes gesamtes Werk ist geprägt von der Überzeugung, daß die Literatur eine realitätssetzende Kraft hat und sie dieser Aufgabe am ehesten gerecht wird, wenn der Autor die Worte aushorcht, gleichsam Mikroskope und Hörgeräte in die Sprache einführt, wenn er mit Worten die Bewegungen unter den Worten demonstriert. Literatur als Gedächtnisraum des Gesagten und als Laboratorium, als Werkstatt der Kreation und der Montage, immer hörend auf das "Rieseln der inneren Monologe". wenn die auftretenden und handelnden Figuren namen- und geschlechtslos sind, keine festlegbare Identität besitzen, sind diese Texte doch ganz und gar theatralisch, haben etwas von einem Exerzitium, einer Séance und einem Ritual an sich, aufgehend in der Augenblickshaftigkeit, das Phantom der "unvergeßlichen Gestalt" definitiv hinter sich lassend. Das Ich ist brüchig und vielstimmig, der Roman eine Ausweitung des Augenblicks. Die 1900 bei Moskau geborene und schon früh in Paris heimisch gewordene Nathalie Sarraute hat diese Position immer auch in ihren zahlreichen, weltweit gehaltenen Vorträgen und ihren Essays ("Zeitalter des Argwohns") vertreten. Die Schriftstellerin heute:

    "Schreiben war für mich niemals leicht, immer sehr hart und schwierig und enttäuschend. Es war nie genau das, was ich wollte. Manchmal sage ich mir, du kannst noch weiter gehen, ich habe alles gemacht, was ich konnte"

    äußerte sie noch kurz vor ihrem Tod. Und in demselben Gespräch gab sie auch einen Hinweis darauf, daß diese Trennwand zwischen den Wörtern eine ist, die sich jetzt für sie zum Tod hin öffnet, die sie, die Wörter-Alchemistin, aufmacht:

    "Es wird nicht mehr lange dauern ... Das müsscn die letzten Worte gewesen sein, bevor aufgelegt wurde ... Es ist, als ob die Wand sich schon bewegte..."

    Das gegebene Wort, das in diesem Roman eine wichtige Rolle spielt, es ist auch ein dem Tod gegebenes Wort. Gegeben und aufgegeben, aufmachen und aufgemacht - allein in diesen beiden Wortpaaren ist bereits eine solche Polyvalenz, eine Viel- und Mehrdeutigkeit enthalten, daß Sarrautes ernsthaftes, komisches und ironisches Spiel mit Worten, ihr linguistisches Theater und ihre theatralische recherche gar nicht mehr als fremdartig und fern unseres alltäglichen Lebens erscheinen.

    Aufmachen ist ein Buch des Abschieds, unter den Wörtern ausgehandelt, ohne (erkennbaren) Abschiedsschmerz, ohne Trauer, ohne Wehmut. Am Ende der Lektüre hat sich der Leser (der es am besten der Autorin nachmacht und die Texte laut liest) eingereiht in Endlosschleifen und Warteschlangen der leeren und der beseelten Wörter, mit ihrem "'dumpfen Geheul ... Gestöhn".

    Erika Tophoven hat, aus einer langen und tiefen Vertrautheit mit Nathalle Sarrautes Werk, eine dem Original adäquate Übersetzung sprachanalytisch erarbeitet, sie aus den Worten und Satz-Rhythmen herausdestilliert. So ist auf unverkennbare Weise nicht nur im Französischen - wo dies besonders gut durch die alle Werke, außer Aufmachen, vereinigende Pléiade-Ausgabe nachvollziehbar wird - sondern auch im Deutschen ein Werk, letztlich ein Buch entstanden. Dazu Tophoven:

    "Ja, ich glaube, das Wichtige bei Nathalie Sarrautes Texten ist, den richtigen Rhythmus zu finden, der den Leser voranträgt. Ihr gelingt das ja großartig im Französischen, wie sie sagt, fast unbewußt, aber es fließt dann so ein in ihre Sprache. Diese vielen Alliterationen, Assonanzen, auch Akzentverteilung in den Sätzen, die führen dazu, daß man einfach Lust hat, weiterzulesen, und im Deutschen darf es natürlich nicht holprig werden. Also muß man erstmal genau erkennen, wie läuft es im Französischen, und versucht dann, auf die eine oder andere Weise, auch diese Flüssigkeit zu erreichen." Die Übersetzung ist insofern schwierig, weil man immer mit diesen Personalpronomen zu kämpfen hat und sich eben auch keine Figuren vorstellen kann. Wer ist Er und wer ist Sie. Mal ist das Vous zweite Person Plural, dann wieder die Anrede. Das ist für den Leser ja auch oft etwas verwirrend. Für den Übersetzer besteht immer die Versuchung, es irgendwie vielleicht zu verdeutlichen. Es ist oft so, es kann Er oder es kann Sie sein. Aus welchen Gründen sie sich für Er oder Sie entscheidet, ist oft gar nicht klar. Ich denke jetzt gerade, bei "Ouvrez", bei "Aufmachen", bei diesem letzten Text, da ist es ja noch viel schwieriger, denn da sind die Wörter zu Personen geworden."