Aufruhr in den Betrieben

O-Ton RIAS:Wir hatten am Abend die Nachrichten von der Stalinallee gehört und haben gehört, dass die Bauarbeiter streiken. Das hat uns natürlich in gewisser Weise angespornt und wir haben uns vorgenommen, dasselbe zu tun und die Arbeiter in Berlin zu unterstützen.

Von Jasper Barenberg |
    Am 22. Juni berichtet im RIAS ein geflüchteter Arbeiter der Leuna-Werke, wie dort die Demonstrationen und Proteste fünf Tage zuvor begonnen haben.

    O-Ton RIAS:Als wir vor zum Verwaltungsgebäude kamen, waren dort mindestens schon 20 Tausend Mann versammelt. Die Leuna-Werke haben 28.000 Mann Belegschaft. Es wurde erst einmal gefordert, mit dieser Normentreiberei Schluss zu machen. Es wurde gefordert, dass die Werkspolizei sofort entwaffnet würde. Das wurde auch durchgeführt durch die Arbeiter. Es war niemand da, der uns aufhielt. Es waren zu viele.

    Die Chemiestudentin Gerda Kleinau ist damals zum Praktikum im Leuna-Werk "Walter Ulbricht"

    Gerda Kleinau: Die Stimmung war aufgeheizt. Leider war niemand mit einem Plan für den weiteren Verlauf in Sicht; es geschah alles recht spontan. Zunächst holten Zimmerleute das überlebensgroße Transparent mit Walter Ulbricht am Haupteingang herunter, und die Massen trampelten mit Geklatsche darauf herum. Dann kam die Losung auf, nach Merseburg zu marschieren.

    Im Funkwerk Dabendorf, südlich von Berlin, gelingt es einem leitenden Ingenieur, die aufgebrachten Arbeiter zu beruhigen. Harry Klamp, damals dort kaufmännischer Lehrling.

    Harry Klamp:Zuerst schlug er vor, wir sollten eine Streikleitung wählen. Per Zuruf aus der Menge wurden mehrere Kollegen dafür vorgeschlagen und anschließend von uns gewählt. Dann wurde diskutiert, was denn nun zu tun sei. Erst der Vorschlag: Wir fahren alle nach Berlin und bringen unsere Forderungen selbst vor, fand begeisterte Zustimmung.

    Auch in Potsdam, beim VEB Lokomotivbau "Karl Marx" wird an diesem Vormittag nicht gearbeitet. Erhard Skripitz, damals ein 16jähriger Schweißerlehrling:

    Erhard Skripitz:Und vor der Kantine war so ein Platz und da ein Haufen Arbeiter. Und ein Krach da, habe ich immer gehört: "Gebt uns Margarine statt Warenschmiere und Arbeitsklamotten. Und schafft hier andere Möglichkeiten - heizt die Werkräume!" Die waren ungeheizt - die hatten ja nichts gehabt.

    Aber der Protest beim VEB Lokomotivbau wird bald gewaltsam unterbunden.

    Erhard Skripitz:Dann auf einmal sah ich: Mensch, da kommen ja ein Haufen LKWs. Da kamen die Polizisten raus. Und gleich rann und welche gesackt, geschnappt und rauf auf die Wagen. Weiß gar nicht, wo sie die dann hingebracht haben.

    Ähnlich ergeht es auch dem Mann von Ursula Schneider. Er fährt am 17. Juni wie gewohnt zur Arbeit ins Transformatoren- und Röntgenwerk in Dresden.

    Ursula Schneider:Als er dort ankam, standen viele Leute auf dem Hof und er mußte erst mal hören, was da geschehen war. Es kamen Lastwagen, und alle dort befindlichen Leute wurden sehr brutal gezwungen, aufzusteigen. Dann wurden Sie weggefahren.

    Unbehelligt bleiben dagegen die Mitarbeiter der Großgaserei in Magdeburg. Unter ihnen auch Friedhelm Hartmann.

    Friedhelm Hartmann:Die Kollegen sammelten sich im Speisesaal. Es wurde einstimmig festgestellt: Wir streiken! Losungen und Konterfeis der SED-Bonzen, die den Speisesaal ‚zierten', wurden abgenommen, um daraus Kleinholz zu machen. Unser Demonstrationszug setzte sich um acht in Bewegung, Richtung Stadtmitte. Dazu kamen auch Kollegen des Kraftwerkes Mikramag sowie Kollegen von Portala Schwermaschinenbau.

    Auch in Hennigsdorf brechen die Beschäftigten mehrerer Großbetriebe auf. Ihr Ziel: Das 30 Kilometer entfernte Stadtzentrum von Berlin. Werner Dahlke, damals 24 Jahre alt und Leiter einer Jugendbrigade, schließt sich nicht an.

    Werner Dahlke:Ich blieb im Betrieb. Weil ich der Meinung war, überzeugt war: also es darf das, was wir geschaffen haben, nicht durch Streiks vernichtet werden. Da blieben nur wenige im Betrieb. Auch unsere Leitung war verschwunden, unser Betriebsdirektor war verschwunden - die waren alle weg! Wir haben die Dampfkessel erst mal runtergefahren und dann den Betrieb gesichert.

    Erhard Heinrich:Unser Betrieb wurde durch Bauarbeiter von der Straße gestürmt.

    Der Betriebsassistent Erhard Heinrich erlebt den 17. Juni in der Jutespinnerei von Brandenburg an der Havel. Die Eindringlinge zerstören das Inventar, bis Ihnen der Betriebsdirektor entgegentritt.

    Erhard Heinrich:Erst schoben sie ihn vor sich her, dann begann man ihn zu schlagen. Aber keiner von unseren männlichen Kollegen wagte, Partei für ihn zu ergreifen. Dann trat eine Frau auf den Plan (...) Sie stellte sich zwischen Schläger und Opfer und verhöhnte die Schläger als Feiglinge. Gleichzeitig versprach sie: wir legen die Arbeit nieder und gehen auch auf die Straße. Das gab der Situation eine friedliche Wende.

    Auch in einer Schriftsetzerei in Leipzig sieht man zunächst keine Veranlassung, sich an Streiks zu beteiligen.

    Karl Tietz:Das war kein Thema, weil wir kein Leistungslohn hatten, wir arbeiteten im Stundenlohn. Wir hatten keine Normen bei uns.

    Doch Karl Tietz, damals Lehrling, und seine Kollegen sehen sich wenig später genötigt, ihren Entschluss zu ändern.

    Karl Tietz:Wir haben in dem Moment die Arbeit niedergelegt, als Kollegen aus benachbarten graphischen Betrieben zu uns kamen und sagten: "Es ist Streik, entweder, ihr hört auf zu arbeiten, oder wir schlagen Euch Eure Maschinen kaputt"! Und da haben wir dann auch aufgehört.

    Nach einem Tag des Protests macht sich der technische Zeichner Manfred Huche am späten Nachmittag noch einmal auf zum Hauptbüro seines Betriebes "Bauwesen Jena". Denn am 17. jeden Monats werden dort die Löhne ausgezahlt.

    Manfred Huche:Wir bekamen dort tatsächlich unser Geld ausgehändigt, das abgezählt und verpackt bereitlag. Keiner der im Büro gebliebenen Kollegen und Genossen fragte danach, wie und wo wir den Tag verbracht hatten. Dieser Sachverhalt - dort Rebellion, hier ungestörte administrative Ordnung, erscheint mir heute als ein besonders eigenartiger Bestandteil dieses denkwürdigen, aufregenden Tages.