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Aufsätze und Reden

Niklas Luhmann gründet seinen Ruhm auf die Entwicklung der Systemtheorie. Die Soziologie beschäftigt sich traditionell mit der Gesellschaft und zwar primär empirisch, beobachtend und auch statistisch quantitativ erfassend. Dafür interessiert sich Luhmanns Systemtheorie zunächst nicht. Statt dessen entwirft Luhmann ein theoretisches Modell von Gesellschaft, das die Gesellschaft als System auffaßt. Damit will Luhmann nur erklären, wie Gesellschaft überhaupt funktioniert. Das Modell soll die Gesellschaft nicht abbilden und verstehen, wie sie wirklich ist.

Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze beschäftigen sich mit wichtigen Themen der Systemtheorie, vor allem mit Kommunikation, Beobachtung und Erkenntnis oder mit Kunst und Dekonstruktion, was einen guten Einblick in Luhmanns Denken erlaubt. Die Systemtheorie proklamierte er 1968, als er in Bielefeld Professor wurde, mit den berühmten Worten: "Theorie der Gesellschaft, Laufzeit: 30 Jahre, Kosten: keine." 1997, ein Jahr vor seinem Tod, legte er dann wirklich fast wie einen Abschlußbericht sein Werk Die Gesellschaft der Gesellschaf vor.

    Im Vordergrund des jetzt erschienenen Sammelbandes steht das Thema Kommunikation. Sie gilt Luhmann als die Grundlage des Funktionierens sozialer Systeme. Die wichtigste Frage der Systemtheorie lautet nämlich: Wie ist soziale Ordnung überhaupt möglich? Und die Antwort heißt vermittels der Kommunikation: Jede soziale Ordnung ist eine kommunikative Ordnung, so dass Kommunikation die soziale Ordnung überhaupt erst entstehen lässt.

    Beim systemtheoretischen Begriff der Kommunikation geht es nicht um deren Inhalte, nicht darum, was mir der andere wirklich sagen will, nicht um das Verstehen. Luhmann interessiert sich vielmehr für die Strukturen der Kommunikation als solcher, eben nicht für die Intentionen und Strategien der daran beteiligten Menschen. Die Systemtheorie betrachtet Kommunikation daher ausschließlich als Information und Mitteilung, die in der Kommunikation permanent und automatisch reproduziert werden. Durch diese sich selbst entfaltende Struktur der Kommunikation erklärt die Systemtheorie das Funktionieren der Gesellschaft.

    Aber die Systemtheorie beobachtet nicht nur die Gesellschaft aus einer solchen Perspektive eines bestimmten Modells. Das andere zentrale Problem der Systemtheorie, das der vorliegende Band behandelt, ist die Systemtheorie selbst. Die Systemtheorie begreift sich selbst als Supertheorie mit einem Universalitätsanspruch, d.h. sie geht davon aus, dass sie die Welt, also alles das, was ihren Gegenstandsbereich ausmachen könnte, mit ihren Instrumenten zu erfassen in der Lage ist. Daraus ergibt sich natürlich ein methodisches Problem, mit dem sich die Systemtheorie befassen muss:

    Ergo, die Systemtheorie hat nicht nur einen äußeren Gegenstand; sie ist sich selbst auch zentraler Gegenstand; d.h. sie muss sich selbst beobachten. In ihrer Praxis ist sie selbst ein Prozess der Kommunikation über ihre Beobachtungen sowohl der Welt als auch ihrer selbst.

    In dieser Hinsicht vergleicht Luhmann die Systemtheorie mit der Dekonstruktion von Jacques Derrida, die aus systemtheoretischer Perspektive ebenfalls als Supertheorie betrachtet werden kann. Beide Konzeptionen glauben nicht mehr, daß man Theorien auf ein objektives bzw. metaphysisches Fundament stellen kann, das von diesen Theorien selbst unabhängig wäre. Systemtheorie wie Dekonstruktion gehen außerdem beide von der Differenz als Basis von Denken und Erkennen und nicht von der festen Identität ihrer Gegenstände aus: Demnach gibt es nicht bestimmte Dinge in der Welt, aus denen sich dann Unterschiede folgern lassen. Dinge entstehen vielmehr allein durch Unterscheidung von anderen Dingen, lassen sich somit auch anders bestimmen und verlieren dadurch ihren festen, eindeutigen Charakter. Systemtheorie wie Dekonstruktion sehen sich in einer sich permanent wandelnden und nie stabilen Situation.

    Doch die Dekonstruktion will selber keine Theorie sein, will den Differenzen, die die Welt ergeben, vielmehr absichtslos nachspüren. Dagegen sieht sich die Systemtheorie als das Paradigma von Theorie schlechthin. Die Systemtheorie avanciert zur Supersupertheorie: Die Beobachtung der Beobachtung bleibt Beobachtung auch als Selbstbeobachtung. Durch eine solche theoretische Selbstbetrachtung erhöbe sich die Dekonstruktion dagegen nicht auf eine höhere theoretische Ebene: Derart würde sie auch nur Differenzen als Spuren des Geistes verfolgen. Trotzdem - so verneigt sich Luhmann am Ende der neuen Aufsatzsammlung höflich vor der Konkurrenz - "wird die Dekonstruktion ihre eigene Dekonstruktion überleben als die relevanteste Beschreibung der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft." Oder drückt sich darin eine gewisse Ermüdung der Systemtheorie an sich selbst aus? Man kann ja seit längerem eher den Niedergang der großen Theorien beobachten.