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Aufschrei an allen Ecken

17 Tage und rund 70 Stunden rangen die Unterhändler aus Bund und Ländern, aus CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP um eine gemeinsame Gesundheitsreform. Gestern in der Frühe hatte man sich so verbissen, dass die Chefs ran mussten. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer berichten darüber:

Axel Brower-Rabinowitsch |
    O-TON Merkel: Ich kann erstens bestätigen, dass ich mit dem Bundeskanzler telefoniert habe. Ich kann bestätigen, dass es relativ spät war. Ich kann bestätigen, dass deshalb auch nur die Punkte besprochen wurden, die noch strittig waren. Ich glaube, dass diese Telefonate zu einem Konsens beigetragen haben. Und da ging es - das ist ja kein Geheimnis - um die Punkte Zahnersatz, und es ging auch noch um einen Punkt in Zusammenhang mit den Apotheken. Ich bin sehr froh, dass diese Telefonate nicht umsonst geführt wurden.

    O-Ton Böhmer: Ich kann bestätigen, dass wir sechs bis acht Stunden über diese Themen diskutiert haben und uns nicht einig werden konnten. Nachdem diese Telefongespräche geführt wurden, gab es keine Diskussionen mehr, sondern nur noch Einigkeit.

    Da war er also erreicht der lang ersehnte Kompromiss, der endlich die steigenden Beitragssätze zur Gesetzlichen Krankenversicherung – GKV – in den Griff bekommen soll. Und natürlich ging es den Beteiligten auch darum, ihre eigene Reformfähigkeit unter Beweis zu stellen. Für Kanzler Gerhard Schröder war das deshalb ein Probelauf für die Agenda 2010. Kein Wunder, dass er sich erleichtert gab:

    O-TON Schröder: Ich denke, das ist ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann, das die Strukturen im Gesundheitswesen verändert, das eine neue Balance schafft zwischen den Verantwortlichkeiten der Patienten für sich selber und den Interessen der Versicherten.

    Die Hauptbeteiligten, CDU/CSU und SPD sowie deren Chefunterhändler Horst Seehofer und Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, loben den Kompromiss als tragfähig, fair und ausgewogen. Die Leistungserbringer – also Ärzte, Zahnärzte, Kliniken, Pharmaindustrie, Apotheker und Therapeuten – die Ulla Schmidts Gesetzentwurf in der Luft zerrissen hatten, bleiben auffallend milde in ihrer Kritik. Umso lauter aber klagen Krankenkassen, Gewerkschaften, Arbeitgeber und Sozial- sowie Patientenverbände. Diese Reaktionen zeigen schon, wer den Preis für sinkende Beitragssätze zu zahlen hat: Vornehmlich Versicherte und Patienten. Das sehen die Unterhändler natürlich ganz anders. Horst Seehofer:

    O-TON Seehofer: Diese Lösung ist gelungen durch einen schwierigen aber letzten Endes tragfähigen Kompromiss, der den Gesichtspunkt berücksichtigt: gerechte Lastenverteilung, gute Versorgung für die Menschen und Wirksamkeit der Reform. Niemandem wäre gedient, dass nach diesen langen Verhandlungen vielleicht in ein, zwei Jahren eine erneute Diskussion über die Beitragssatzstabilität in der Gesetzlichen Krankenversicherung entstehen würde. Es muss also gerecht und wirksam sein.

    Genau das Gegenteil behaupten die zahlreichen Kritiker. So rechnet der Verband der Angestellten-Ersatzkassen vor, dass von den zehn Milliarden Euro, um die die Krankenversicherung im kommenden Jahr entlastet werden soll, die Patienten und Versicherten 8,5 Milliarden zu tragen haben, während die Leistungserbringer – wenn es denn funktioniert – mit 1,5 Milliarden Euro zur Kasse gebeten werden. Marianne Otte, Vizepräsidentin des Sozialverbands Deutschland, weist ebenso wie Kassen, Gewerkschaften und auch einzelne Ärztefunktionäre darauf hin, dass eine derartige Umfinanzierung schon in der Vergangenheit nur vorübergehend die Finanzprobleme lösen konnte:

    O-TON Otte: Wenn den Politikerinnen und Politikern nicht endlich etwas Besseres einfällt als immer nur den Versicherten ständig ins Portemonnaie zu greifen und damit die Kosten einfach nur zu verlagern, wird uns spätestens in einem Jahr die nächste sogenannte "Reform" auf der politischen Tagesordnung stehen. Wir lehnen die Gesundheitsreform als völlig unzureichend ab und fordern die Politik auf, endlich auch mutig an die Pfründe der Leistungserbringer, die Ärzte, Apotheker und Pharmaindustrie zu gehen. Es kann doch nicht sein, dass die eine Seite sich eine goldene Nase verdient und die andere Seite sich die nötigsten Behandlungen bald nicht mehr erlauben kann.

    In drei Stufen bis 2007 soll die Reform den durchschnittlichen Beitragssatz von jetzt 14,3 Prozent auf unter 13 Prozent drücken. Zusammen gerechnet wird die GKV um 23,1 Milliarden Euro entlastet. Das entspricht 2,3 Beitragspunkten. Damit wären die Beiträge in dreieinhalb Jahren bei zwölf Prozent. Da aber aufgrund der derzeit defizitären Entwicklung der durchschnittliche Beitragssatz ohne Reform zum Jahresende auf 15 Prozent steigen müsste, peilen die Reformer für 2007 einen Beitragssatz von etwa 12,7 Prozent an. Im kommenden Jahr sollen die Einsparungen von zehn Milliarden Mark einen Beitragssatz von 13,6 Prozent ermöglichen, was wohl eine eher optimistische Rechnung ist.

    Zunächst zu dem, was Patienten, Versicherte, Leistungserbringer und Krankenkassen ab Januar 2004 finanziell zu erwarten haben. Es trifft im Übrigen auch die Raucher. Denn Ulla Schmidt setzte sich mit ihrem Plan durch, die Tabaksteuer in den beiden kommenden Jahren stufenweise um einen Euro pro Zigarettenschachtel anzuheben. Das bringt in der Endstufe 4,2 Milliarden Mark. Mit dem Geld werden versicherungsfremde Leistungen finanziert. Da das nicht ganz ausreicht, werden Sterbegeld, Entbindungsgeld und Sterilisation sowie Taxifahrten zur ambulanten Behandlung ganz aus dem Leistungskatalog gestrichen. Bei künstlicher Befruchtung wird die Eigenbeteiligung auf 50 Prozent erhöht. Sie wird zudem nur noch bei Frauen bis zum 40. und bei Männern bis zum 50. Lebensjahr bezuschusst.

    Auch wurden Leistungen gestrichen, die eindeutig medizinisch notwendig sind. So werden keine Zuschüsse mehr für Brillen oder Kontaktlinsen bezahlt. Ausgenommen sind Kinder bis zum 18. Lebensjahr und schwer Sehbehinderte. Rezeptfreie Medikamente werden ebenfalls aus der Erstattung genommen – mit wenigen Ausnahmen, wie Böhmer erläutert:

    O-TON Böhmer: Das trifft nicht zu auf Medikamente für Kinder bis zu zwölf Jahren, und das trifft nicht zu auf eine Reihe von Medikamenten aus diesem Bereich, die insbesondere von chronisch Kranken über längere Zeit genommen werden müssen.

    Bei rezeptfreien Medikamenten wird gleichzeitig die Preisbindung aufgehoben. Das ist dann der fast einzige Bereich im Gesundheitswesen, in dem völlig freier Wettbewerb herrscht. Die große Koalition der Reformer erhofft sich dadurch sinkende Preise – eine Illusion, wie die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer meint:

    O-TON Engelen-Kefer: Schon jetzt ist klar, in welche Richtung sich dieser Wettbewerb bewegen wird: zu einer Verteuerung der Medikamente.

    Völlig neu werden die Zuzahlungen geregelt. Hier hat sich im Prinzip die CDU/CSU durchgesetzt, die eine generelle zehnprozentige Zuzahlung verlangt hatte. Was die SPD noch vor wenigen Wochen als unsozial kritisierte, hat jetzt auch die Gesundheitsministerin akzeptiert:

    O-TON Schmidt: Wir sagen immer, wir zahlen zu - 10 Prozent -, aber nie mehr als 10 Euro für eine Leistung, nie mehr als 10 Euro für eine Behandlung beim Arzt und nie mehr als 10 Euro für einen Tag im Krankenhaus. Und das ist überschaubar. Das Ganze darf nie mehr sein als zwei Prozent des Bruttoeinkommens. Wer Kinder hat, bekommt ja besondere Kinderfreibeträge. Für chronisch kranke Menschen haben wir eine Regelung, dass die Belastungsgrenze bei einem Prozent ist. Wer sich das anschaut, der wird sehen, dass es gegenüber dem jetzigen System ein wesentlich einfacheres und auch gerechteres System ist.

    Vor allem aber wird es teurer als bisher. Denn für jede Leistung müssen mindestens fünf Euro zugezahlt werden, also auch für jedes billige Medikament. Die Praxisgebühr fällt zudem im Quartal nur dann einmal an, wenn man auch nur einmal erkrankt. Wer aber zum Beispiel wegen Grippe zum Arzt geht und zwei Wochen später wegen eines Hexenschusses, der zahlt schon zweimal zehn Euro Praxisgebühr. Und der Zahnarzt kassiert noch einmal. Im Krankenhaus muss man die zehn Euro bis zu 28 Tage im Jahr berappen – macht immerhin 280 Euro. Bisher wurde die Zuzahlung nur 14 Tage lang fällig. Da helfen auch die Überforderungsklauseln wenig, rechnet Ursula Engelen-Kefer vor:

    O-TON Engelen-Kefer: Bei einer Obergrenze von zwei Prozent des Bruttojahreseinkommens muss ein Haushalt mit einem Durchschnittsverdienst von monatlich 2.500,- Euro bis 600,- Euro im Jahr an Zuzahlungen leisten. Da er durch die Senkung des Beitragssatzes von 14,3 auf 13,6 Prozent 105,- Euro im Jahr einspart, verbleiben Nettozusatzkosten von 500,- Euro im Monat. Das ist gesundheitspolitisch unverantwortlich und muss korrigiert werden.

    Korrigiert wird wohl nichts mehr, nachdem alle Parteien den mühsamen Kompromiss abgesegnet haben. Eine solche Aussicht, will die DGB-Vize allerdings noch nicht akzeptieren:

    O-TON Engelen-Kefer: Also, da kann man ja nur noch sagen: Strick um den Hals, nicht. Aber ich sehe das alles nicht so negativ.

    Muss sie aber wohl, denn weder in der Opposition noch in der Koalition gibt es auch nur ansatzweise Bestrebungen, sich den Kompromiss zerpflücken zu lassen. Dafür gebe es auch inhaltlich keine Gründe, betonen die Chefunterhändler Ministerin Schmidt und Seehofer unisono:

    O-TON Seehofer: Wir haben eine Beitragssenkung für alle von zwei Prozent. Und wir haben von den zwei Prozent als Gegenrechnung 0,5 Prozent, wenn man diesen Sonderbeitrag für Arbeitnehmer und den Zahnersatz in Beitragspunkte umrechnet. Das gibt 1,5 Prozent Entlastung. Wie man davon reden kann, jetzt seien die Beitragszahler zusätzlich belastet, ist mir schleierhaft.

    Das ist natürlich nur die halbe Rechnung. Hinzu kommen die höheren Zuzahlungen von bis zu zwei Prozent des Einkommens – macht für Versicherte, die Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen müssen, dann eben doch eine um 0,5 Prozent des Einkommens höhere Belastung. Dabei sind noch nicht einmal die gestiegenen Kosten durch Leistungsausgrenzungen – etwa bei rezeptfreien Arzneien – berücksichtigt. Selbst wenn die heute bereits geltenden Zuzahlungen gegen gerechnet werden, dürfte es unter dem Strich für Versicherte durch die Reform nicht günstiger werden, wohl aber für die Arbeitgeber, die von den sinkenden Beitragssätzen profitieren. Sinkende Lohnnebenkosten sind ja auch ein erklärtes Ziel der Reform.

    Sozialhilfeempfänger werden übrigens generell pflichtversichert und müssen dann mindestens einen Euro pro medizinischer Leistung zuzahlen. Noch härter trifft es Rentner, die entweder Betriebsrenten, Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes oder Einkünfte aus selbständiger Arbeit beziehen. Auf diese Nebeneinkünfte müssen sie künftig den vollen Beitragssatz zur Krankenversicherung entrichten. Bisher zahlen sie nur 50 Prozent. Und natürlich werden auch für sie die erhöhten Zuzahlungen fällig.

    2005 wird dann der Zahnersatz privatisiert. Jeder muss sich dafür extra versichern – entweder bei seiner gesetzlichen Krankenkasse oder bei einer privaten Versicherung. Letzteres dürfte in der Regel teurer werden. Schließlich wird 2007 auch noch ein Sonderbeitrag der Versicherten fällig. Er ersetzt die ursprünglich von der Koalition geplante Ausgrenzung des Krankengelds. Es geht um 2,5 Milliarden Euro Arbeitgeberbeitrag, die auf die Versicherten übertragen werden, so dass deren Beitrag um 0,25 Prozentpunkte sinkt, der Krankenkassenbeitrag der Arbeitnehmer aber entsprechend steigt. Diese Abkehr von der paritätischen Finanzierung stößt insbesondere bei Gewerkschaften und Sozialverbänden auf erbitterten Widerstand und war auch lange in der Koalition umstritten. Inzwischen haben sich alle Fraktionen damit abgefunden.

    Gegen diese massiven Belastungen von Versicherten und Patienten sind aus Sicht der Kritiker die Eingriffe bei den Leistungserbringern eher harmlos. Ulla Schmidt versteht diesen Vorwurf nicht und behauptet, man habe tief greifende Strukturreformen beschlossen:

    O-TON Schmidt: Wenn Sie sich das Gesamtpaket anschauen, dann passiert wirklich zum Teil Revolutionäres. Wir werden im Bereich der Qualitätssicherung Qualitätsmanagement auf den Weg bringen, eine Fortbildungsverpflichtungen für Ärzte und Ärztinnen; wir werden ein Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin etablieren, das auch Leitlinien entwickelt, das für Patienten Informationen bietet, das eine Nutzen-Bewertung für innovative Arzneimittel auf den Weg bringt.

    Das Institut untersteht der Selbstverwaltung. Es darf zwar – etwa bei neuen Arzneien - Nutzen, aber nicht Kosten bewerten. Vertragsfreiheit für einzelne Kassenärzte gibt es nicht. Gerade mal ein Prozent der Honorarsumme darf für Sonderverträge mit integrierter Versorgung, mit den jetzt möglichen Gesundheitszentren oder mit besonderen qualitätsgesicherten Versorgungseinrichtungen eingesetzt werden. Damit bleibt der Wettbewerb stark beschränkt, die Macht der Kassenärztlichen Vereinigungen unangetastet, klagt Ursula Engelen-Kefer:

    O-TON Engelen-Kefer: Die Pfründe der Ärzte und ihrer Standesvertretungen sind gesichert. Ein Qualitätswettbewerb ist damit weitgehend ausgeschlossen, und es ist kaum nachvollziehbar, dass diejenigen, die immer am lautesten nach Wettbewerb schreien, den Wettbewerb bei Ärzten scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

    Das bestreiten die beteiligten Parteien energisch. Seehofer räumt zwar ein, dass von den gesamten Einsparungen in Höhe von 23 Milliarden Euro nur 3 Milliarden auf die Leistungserbringer entfallen. Er fügte aber hinzu, dass die geplanten Leistungsausgrenzen nicht nur Patienten, sondern etwa zur Hälfte auch die Anbieter trifft, die deswegen weniger Umsatz machen – etwa die Taxis, die keine Patienten mehr zum Arzt fahren, Bestatter, die wegen des Sterbegeldes billigere Beerdigungen anbieten müssen oder die Brillengläserhersteller, denen der fortfallende Zuschuss sicher treffen werde. Hinzu kämen die bereits geltende Nullrunde in diesem Jahr für Leistungserbringer sowie der Sonderbeitrag von Pharmaindustrie, Großhandel und Apotheken in Höhe von rund 1,5 Milliarden Euro. Auch im nächsten Jahr würden die Anbieter Opfer bringen, sagte Seehofer voraus:

    O-TON Seehofer: Nach allem, was wir heute wissen über die Grundlohnentwicklung im nächsten Jahr, wird es nächstes Jahr faktisch wieder eine Nullrunde geben, wieder für alle Beteiligten im Gesundheitswesen, weil nächstes Jahr noch die Budgetierung gilt. Und im Falle der Budgetierung können die Ausgaben nicht stärker steigen als die Einnahmen. Und wenn die Einnahmen der Krankenkassen stagnieren - das das werden sie auch im nächsten Jahr tun -, dann haben alle Beteiligten im Gesundheitswesen auf der Leistungserbringerseite wieder eine Nullrunde.

    Wenn man das alles zusammennehme, dann könne man nun wirklich nicht davon reden, dass die Lasten ungleich verteilt sind, meinte Seehofer und forderte die Kritiker auf:

    O-TON Seehofer: Da sollten wir wirklich die Tassen wieder in den Schrank stellen.

    Besonders erbost sind Gesundheitsministerin Schmidt und ihr Vorgänger Seehofer über die Krankenkassen, die nicht nur die einseitige Belastung der Versicherten und unzureichende strukturelle Reformen beklagen, sondern erheblichen Zweifel daran äußern, dass die Beitragsziele von unter 13 Prozent überhaupt mit den Maßnahmen erreicht wird. Ulla Schmidt hielt den Kassen vor, selbst bei eigenen Sparmaßnahmen versagt zu haben:

    O-TON Schmidt: Hätten die Krankenkassen in den letzten Jahren nur schon mal die Hälfte von dem, was sie heute schon vertraglich im Wettbewerb machen können, tatsächlich auch aufgegriffen und in Gang gesetzt, dann hätten wir heute vielleicht andere Probleme, aber es wäre vor allen Dingen auch mehr an Wirtschaftlichkeit in Gang gekommen.

    Zwar bleiben die Budgets für Arzthonorare und dürfen bis 2006 auch nur geringfügig steigen. Danach allerdings werden sie abgeschafft und durch eine feste Bezahlung und vertraglich ausgehandelte Regelleistungs-volumina ersetzt, die den erforderlichen Leistungsumfang festlegen sollen. Schon jetzt fürchten Kassen und Gewerkschaften dann den nächsten Kosten- und Beitragsschub. Daran dürften auch die geplanten schärferen Wirtschaftlichkeitsprüfungen wenig ändern. Denn die Aufhebung der Budgets für Arzneien mit der seitdem ungebremsten Ausgabendynamik bietet dafür blendenden Anschauungsunterricht. Kein Wunder, dass die Kassenarztfunktionäre diesen Teil der Reform loben, zumal sie sogar finanziell davon profitieren sollen, wenn sie künftig sparsam Arzneien, Heil- und Hilfsmittel verordnen – was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte.

    Nur im Pharmabereich sieht die Reform zählbare Beitrage der Leistungserbringer vor. So soll es Festbeträge für neue, patentgeschützte Medikamente geben, die keinen zusätzlichen Nutzen bringen. Bis das greift, wird der Sonderrabatt der Pharmaindustrie im kommenden Jahr von 6 auf 16 Prozent angehoben. Das bringt eine Milliarde Euro mehr. Zudem werden Internetapotheken zugelassen, was vor allem Chronikern die Möglichkeit bietet, ihre Medikamente preisgünstiger zu beziehen. Importarzneimittel müssen mindestens 15 Prozent billiger als die deutsche Konkurrenz sein. Im Gegenzug wird allerdings auf die längst überfällige Positivliste verzichtet, gegen die die Pharmaindustrie Sturm gelaufen ist.

    Die Reform verpflichtet die Krankenkassen, ihren Versicherten einen Hausarzttarif anzubieten, für den es auch Beitragsnachlass geben darf. Tarife mit Selbstbehalt und Beitragsrückgewähr sind ebenso möglich wie Bonusregelungen für jene, die an Vorsorgeprogrammen teilnehmen. Krankenhäuser können mit ihren hoch spezialisierten Leistungen künftig an der ambulanten Versorgung teilnehmen. Das ist eine minimale Öffnung der Kliniken. Frau Engelen-Kefer konstatiert kurz und Bündig:

    O-TON Engelen-Kefer: Die Koalitionäre sind einmal mehr vor den Lobbyisten im Gesundheitswesen eingeknickt.

    Grünen-Chef Reinhard Bütikofer will das nicht auf sich sitzen lassen. Es sei die Opposition gewesen, die da gekniffen habe:

    O-TON Bütikofer: Wir haben beim Wettbewerb nicht erreicht, was wir wollten. Das liegt insbesondere daran, dass Union und FDP in den Verhandlungen knallhart die Lobby-Interessen von Pharmaindustrie, Apothekern und Fachärzten vertreten haben.

    Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit gibt es doch noch einige Verbesserungen für Patienten und Versicherte. So dürfen sie sich künftig auch im europäischen Ausland ambulant behandeln lassen und Medikamente kaufen, ohne ihre Kasse um Erlaubnis zu bitten. Das ist nur noch bei Klinikaufenthalten nötig. Die Kasse erstattet den Betrag, den sie für eine entsprechende Behandlung in Deutschland gezahlt hätte. Jeder Versicherte kann sich zudem für Kostenerstattung bei ambulanter Behandlung entscheiden.

    Ärzte, Zahnärzte oder Krankenhäuser müssen auf Wunsch jedem Versicherten eine Patientenquittung erstellen, aus denen Leistungen und Kosten eindeutig hervorgehen. Ab 2006 gibt es die intelligente Gesundheits-Chipkarte, die auch wichtige Gesundheitsinformationen für eine Notfallversorgung enthält und Doppeluntersuchungen sowie Fehl-medikamentationen verhindern soll. Die Krankenkassen können ihren Mitgliedern günstige private Zusatztarife in Kooperation mit der Privaten Krankenversicherung anbieten. Zudem wird ein Patientenbeauftragter eingesetzt. Patienten und Behindertenverbände erhalten mehr Mitsprache in wichtigen Gremien des Gesundheitswesens.

    Aber das alles hilft nicht: Noch, so sagen auch die Beteiligten, ist die große Herausforderung durch die Demografie nicht gemeistert. Länger als fünf Jahre wird die Reform nicht halten. Dann stellt sich die Grundsatzfrage: Bürgerversicherung für alle oder noch weitergehende Privatisierung des Gesundheitswesens.