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Aufstand gegen das System

"Einer flog über das Kuckucksnest" scheint für viele untrennbar mit Jack Nicholsen verknüpft, der in Milos Formans Verfilmung von 1975 so brillant den notorischen Störenfried und Außenseiter Randall Patrick McMurphy gab. Das Berliner Gorki-Theater bringt den Stoff noch einmal auf die Bühne.

Von Hartmut Krug |
    Das Berliner Maxim Gorki Theater will mit seinen Inszenierungen in dieser Spielzeit vor allem auch nach dem Verhältnis von Jung und Alt in unserer Gesellschaft fragen. Dabei versucht es herauszufinden, welche Energie sich aus der Reibung zwischen beiden ergeben kann. Deshalb kündigte das Theater "Einer flog über das Kuckucksnest" auch an als ein "Lehrstück über die Konstitution einer sich als jung, agil und gesund feiernden Gesellschaft", und Regisseur Jan Jochymski ließ seine Inszenierung in einer Art offenem Fitnessraum beginnen.

    Hier machen die Patienten ihre Übungen auf der Matte und mit dem Gymnastikball bei Schmusemusik, angeleitet von einer hübschen jungen Ärztin: Auch die Körper sollen gut funktionieren. Erst wenn die roboterhaft lächelnde Oberärztin kommt, wenn das Einnehmen der Tabletten auf einer Leuchtwand kontrolliert und dokumentiert wird und jedes Verhalten, selbst das im Freizeitprogramm, als von Regeln und Normen bestimmt erscheint, erst dann wird der Ort als ein, wenn auch offenes, psychiatrisches Krankenhaus deutlich.

    Ken Kesey hatte mit seinem Roman gegen den inhumanen Umgang mit psychisch Kranken protestiert und zugleich den Umgang des amerikanischen Staates mit seinen indianischen Ureinwohnern kritisiert. Seit Milos Formans Film ist der Stoff dann vor allem als Parabel über (un-)demokratische Gesellschaftsformen verstanden worden, in denen die Menschen ihrer Individualität beraubt und mit allen Mitteln zur Anpassung an gesellschaftliche Verhaltensnormen gezwungen werden.

    Das Problem des ungemein wirkungssicheren und stark emotionalisierenden Stückes ist einerseits, dass die sogenannten Irren nicht als skurrile oder debile Menschen gezeigt werden dürfen - denn sie handeln und reden ganz vernünftig und sind nur "irgendwie" schwach, weil sie mit den gesellschaftlichen Regeln nicht klarkommen.

    Andererseits aber müssen die Anstaltsinsassen durchaus interessant und "anders" erscheinen. Das aber tun sie in dieser Inszenierung nicht: weil der Regisseur nicht mit konsequentem psychologischem Realismus arbeitet und es versäumt, den Patienten genauere individuelle Geschichten, Schicksale und Leiden mitzugeben. In dieser Inszenierung werden nur ein, zwei Patienten überhaupt als Figuren deutlich. Die anderen stehen zwar auf der Bühne, sind aber eigentlich gar nicht da. Auch wird nie deutlich, welch gesellschaftlich aktuellen Bedeutungsgehalt diese Parabel überhaupt haben kann und soll: zwischen Alten und Jungen, zwischen Prekariat und Globalisierungsgewinnern, in migrantisch geprägter Gesellschaft oder im modernen Alltag ohne klares Wertesystem= Wogegen hier protestiert, woraus hier ausgebrochen werden muss, bleibt unklar. Wenn dies nicht schon (eine wenig überzeugende) These der Inszenierung sein soll: Es gibt nichts mehr, gegen das es sich lohnte, anzurennen.

    Regisseur Jan Jochymski öffnet einerseits die geschlossene dramaturgische Konstruktion des Stückes, dessen Geschehen mit schrecklicher Konsequenz abläuft, durch mancherlei kleine Spielsituationen und szenische Veränderungen, andererseits konzentriert er das Geschehen, das im Film zwei Stunden und in der Bühnenfassung meist drei Stunden dauert, auf wenig mehr als anderthalb Stunden. Dass dabei alle Außenszenen fortfallen, stört nicht. Doch dass die Patientenschar dadurch zur undeutlichen Staffage für den Kampf zwischen dem Kleinkriminellen McMurphy und der Oberärztin wird, macht diesen Kampf zu einem spannungslos linearen und eindimensionalen Geschehen. Auch fehlt dem in anderen Rollen meist brillanten, aber her eher blassen Roland Kukulies in der Rolle des aufbegehrenden McMurphy alles, was nicht nur Jack Nicholson im Film auszeichnete: Charisma, selbstbewusstes Machotum und körpersprachliche Kraft. Und Ursula Werner gibt der Oberärztin nur die stoische Kälte eines Roboters, ohne die Figur mit ihrer bösen und zerstörerischen Machtgier auszustatten. Immerhin verleiht Max Simonischek seinem Häuptling Bromden eine still in sich gekehrte Fremdheit, was diese Figur ungemein fremd und spannend wirken lässt. Bromden tötet in Jochymskis Inszenierung am Schluss nicht den durch eine Hirnoperation um sich selbst und seine Individualität gebrachten McMurphy, sondern er geht einfach allein in die Freiheit und lässt McMurphy zwischen den anderen Patienten zurück.

    Zwar gelingen Jan Jochymski manch spielerisch schöne und metaphorisch genaue Einzelszenen (die Party als Kampf ums Lagerfeuer!), doch insgesamt zerfällt seine Inszenierung und hinterlässt ein Gefühl von ästhetischer und thematischer Undeutlichkeit. Damit vermag sie auch nicht die Brückenfunktion zu einer legendären Inszenierung des Stückes am gleichen Haus zu leisten, mit der die neue Mannschaft des Maxim Gorki Theaters auch das alte Publikum wieder anlocken wollte. Zwischen 1982 und 1997 lief hier in 446 ausverkauften Vorstellung die legendäre Inszenierung von Rolf Winkelgrund, anfangs, bis dieser ans Deutsche Theater wechselte, mit Jörg Gudzuhn als McMurphy. Sie wurde vom DDR-Publikum nicht nur als eine Parabel auf die kapitalistische Gesellschaft verstanden. Doch vom ästhetischen und schauspielerischen Reichtum wie von der gesellschaftlichen Bedeutung und Wirkungskraft dieser alten Inszenierung ist Jan Jochymskis Arbeit leider weit entfernt.