Donnerstag, 25. April 2024


Aufstand in Halle

O-Ton RIAS: Überall stand die Bevölkerung an den Fenstern, sie freute sich, sie sah das Ende gekommen. Keiner hat das noch geglaubt, daß das nochmal irgendwas wird, das war zu einmütig und zu klar, da gab es überhaupt niemand mehr, der da noch für die Regierung war aus der Bevölkerung.

Von Doris Simon | 31.05.2003
    Am 22. Juni 1953 berichtet ein Leuna-Arbeiter im RIAS über seine Erlebnisse fünf Tage zuvor in Halle. Am Vormittag des 17. Juni hat Roselotte Nehring eher beiläufig bemerkt, daß sich in der Stadt etwas tut, bei einem Besuch in einem Cafe.

    Nehring: Plötzlich stieg eine Kellnerin auf die Sitzmöbel und nahm die Bilder unserer großen Genossen ab. Wir waren erstaunt. Dann sahen wir, dass gegenüber Männer mit Leitern kamen, sie an die Fassade eines Kinos stellten und die Transparente mit den üblichen Losungen abrissen.

    Kühnhold: Gegen etwa 10.30 Uhr erschien der Assistent vom Geographischen Institut und sagte uns Studenten sein Seminar ab: "Gehen Sie in die Stadt, dort herrscht Aufruhr." Wir gingen.

    So Helmut Kühnhold. Gotthard Pilz studiert damals ebenfalls in Halle.

    Pilz: SED-Genossen kamen einem entgegen, rissen ihre Parteiabzeichen ab, warfen die weg. Da merkte man also, eine Umstimmung ist im Gange. Die hatten also Angst: Hier könnte es uns an den Kragen gehen.

    Und der Abiturient Dieter Müller notiert in seinem Tagebuch:

    Müller: Heute Mittag kamen durch die Ludwig-Wucherer-Straße Tausende streikender Arbeiter der Buna- und der Leunawerke. Die Bevölkerung schloß sich der Demonstration an. Die Arbeiter riefen: Nieder mit der Regierung! Wir fordern Freilassung der politischen Gefangenen!

    Kühnhold: Hinter dem Ratshof beobachtete ich, wie ca 20 bis 25 Männer mit einem schweren Gerüstbalken das Gefängnis auf der Rückseite des Gerichts am Hansering aufbrachen. Sie rammten mit rhythmischen Anläufen das Tor ein. Auf dem Markt standen dann befreite Gefängnisinsassen - mir sind nur Frauen in Erinnerung - in gestreifter Gefängniskleidung.

    Feldmann: Zu meinem fassungslosen Erstaunen ergriff plötzlich einer der Männer ein großes Stalinbild, und mit dem Schrei "Deutschland ist frei!" warf er es mit solcher Kraft auf den Boden, dass es zersplitterte.

    Der Schüler Hans Volker Feldmann über die Stimmung auf dem Markt

    Feldmann: Menschen, die sich nicht kannten, umarmten sich weinend. Auf dem Markt hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben die Klänge der deutschen Nationalhymne: Einigkeit und Recht und Freiheit.

    Kramer:G anz spontan aus der Menge gingen Leute nach vorn. Es wurde zum Beispiel von der verlorenen Heimat gesprochen, und daß man dahin zurückgehen wollte. Und da hatte ich den Eindruck, die Leute waren froh, daß sie sich äußern konnten zu einem Thema, das sonst tabu war.

    An manchen Zufahrtsstraßen stehen bereits mittags sowjetische Panzer, erinnert sich Gertrud Schmidt:

    Schmid: Die Russen waren ja friedlich. Die saßen da drauf und langweilten sich. Die standen also eine Weile, wir guckten und die guckten, wußten wohl auch nicht so recht, warum sie da standen. Dann fuhren sie wieder ab, und es wurde nicht geschossen oder so....

    Aber das ändert sich am Nachmittag, beobachtet der Student Wolfgang Scholz

    Scholz: In dem Gewimmel fahren russische Panzer umher, richten drohend die Kanonenrohre auf die Menschen. Das Gerassel der Panzerketten ist allerdings in dem Lärm kaum noch zu vernehmen. Ich bewundere die Jugendlichen, die sich nicht einschüchtern lassen, sondern Pflastersteine herausreißen und dieser voller Wut auf die Panzer werfen.

    Swiercek: Die Lage war sehr gefährlich, weil überall Panzer der Roten Armee aufgefahren waren. Alle Straßen, die auf den Markt führten, waren durch Panzer besetzt

    Ilse Swierczek, damals Studentin an der Arbeiter- und Bauernfakultät über die Situation auf dem Hallmarkt

    Scholz:Schon kommen russische Soldaten. Sie haben Bajonette auf ihre Gewehre gepflanzt und fordern barsch und gewaltbereit zum Weitergehen auf.

    Bei einer Demonstration vor der Stasi-Zentrale eskaliert später die Situation. Dieter Zeising, Elektrikerlehrling:

    Zeising: Bei der Annäherung des Demonstrationszuges an dieses Gebäude peitschten plötzlich Schüsse, scharfe Schüsse, wie kriegserfahrene Männer erkannten, durch die Luft.

    Richter: Ein Trupp Uniformierter mit Gewehren stürmte auf die Straße und schoß sofort auf das Pflaster und die Beine der Demonstranten. Ein paar Leute aus den vorderen Reihen blieben verletzt auf der Straße liegen. Und wir flüchteten an das nahe Ufer der Saale aus der Schußlinie.

    Wolfram Richter, damals Gärtner-Lehrling im Botanischen Garten

    Zeising: Auf dem Heimweg durch die Innenstadt zeigte sich ein verändertes Bild. Schwerbewaffnete Polizeistreifen patroullierten durch die Straßen. Lautsprecherwagen deklamierten mit schneidender Stimme den Ausnahmezustand.

    Unter dem Schutz sowjetischer Panzer sichert eine Einheit von Offiziersschülern der Kasernierten Volkspolizei ein von den Demonstranten gestürmtes Gefängnis. Einer von ihnen ist Hans-Georg Blum.

    Blum: Wir mußten vorher absitzen und sind dann mit unseren Karabinern - ohne Munition, sondern es wurde befohlen: Bajonette aufpflanzen. Und wir hatten auch Glück, die wichen zurück, die Leute .... das waren ja Massen.

    Der Abiturient Dieter Müller schreibt am 18. Juni in sein Tagebuch:

    Müller: Die Revolution war erfolglos. Das Blut ist umsonst geflossen. Nur wenige Stunden am 17. Juni waren es, wo die Menschen frohe Gesichter hatten, wo jeder mit dem Nächststehenden auf der Straße sprach und seine ehrliche Meinung austauschte. Für eine kurze Zeit war die Bedrückung fortgenommen, die seit 8 Jahren Diktatur auf uns lastet. Nach dem kurzen Lichtblick ist es jetzt um so schwerer.