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Aufstrebendes Land

Es ist erst ein paar Jahre her, da glaubten die Deutschen noch, mit einer Greencard gut ausgebildete Inder aus ihrem Software-Dorado nach Deutschland locken zu können. Doch sie kamen nicht. Statt dessen erleben wir jetzt das umgekehrte Phänomen: Inzwischen landen viele junge Europäer auf der Suche nach Arbeit in Indien, zum Beispiel in Callcentern oder ähnlichen Jobs. Ist das Europas Zukunft? Die indische Wirtschaft brummt, "Shining India" konkurriert mit China um den ersten Platz der aufstrebenden Wirtschaftsmächte. Was das für Indien selbst und für den Rest der Welt bedeutet, das beleuchten zwei Titel über die "Wirtschaftsmacht Indien".

Von Michael Weidemann | 02.10.2006
    "Indien ist die einzige funktionierende Anarchie!" konstatierte vor etwa vier Jahrzehnten der Ökonom und US-Diplomat John Kenneth Galbraith. In "Weltmacht Indien" greift Olaf Ihlau, der zweieinhalb Jahrzehnte lang für die Süddeutsche Zeitung und für den Spiegel als Korrespondent auf dem Subkontinent aktiv war, den häufig zitierten Ausspruch Galbraiths auf - und illustriert ihn durch überaus farbenfrohe Beschreibungen des Multikosmos am Fuße des Himalaya:

    " Es gibt zwei Indien: Es gibt das nach vorne drängende Indien von etwa 250 bis 300 Millionen, die also eine urbane Mittelschicht sind, und die das Land nach vorne bringen. Und es gibt das atavistische, archaische Indien, das sich kaum verändert hat. Es gibt den Atommeiler und daneben den Bauern mit dem Holzpflug. Es gibt die Raketenhangars für Weltraumraketen und daneben die leeren Wasserleitungen. Diese Kontraste werden bleiben!"

    Ein schlafender Riese erwacht, lautet die Botschaft Olaf Ihlaus. In seinem Buch zieht er weite Kreise, von allgemeinen Betrachtungen über den Wandel in der indischen Politik und Gesellschaft, über Charakterstudien eindrucksvoller Unternehmerpersönlichkeiten und Sozialreformer bis hin zu Anekdoten aus dem noch immer lebendigen "traditionellen" Indien. Ihlau ist Reporter und dort am stärksten, wo er detailgenau beschreibt - wie etwa in seiner Schilderung einer Fahrradrikschafahrt durch die heilige Stadt Ayodhya:

    Vorsichtig werden braune und weiße Kühe umkurvt, die in Müllhaufen wühlen oder mitten auf der Straße dösen, als wüssten sie um die ihnen zugewiesene Heiligkeit. Mit Rasseln und Schellen zelebriert ein Trupp Eunuchen tanzend seinen Auftritt.(...) Ein Dutzend grell aufgeputzter Naga Sadhus im Lendenschurz, die ihre nackten Körper mit Asche gepudert haben, stimmt Loblieder auf den göttlichen Helden Ram an. Wild fuchteln die Asketen mit Dreizack und Speeren.

    Das andere indische Extrem, mit dem sich Ihlau eingehend befasst, ist der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg seiner Wirtschaft. Auch hier haben sich mittlerweile Klischees etabliert, die Ihlau aufgreift: das des ungebremst kreativen, nie ruhenden Unternehmers etwa - oder das vom ungeheuren Potential an Akademikern, die zu Dumpinglöhnen die anspruchsvollsten Tätigkeiten absolvieren. Indiens Ökonomie steht vor dem Sprung an die Spitze und wird dabei die Alte Welt überrunden, glaubt auch Ihlau:

    Man würde gerne ganze Trupps deutscher Gewerkschafter, Manager, Minister und Verbandsvertreter jeweils vierzehn Tage lang nach Bangalore oder Delhi schicken, damit sie erkennen, was auf Europa, was insbesondere auf Deutschland an Herausforderungen zukommt. (...) Noch sind die Inder nicht soweit, dass sie auf dem alten Kontinent ganze Branchenhochburgen kapern und besiedeln. (...) Aber auch die Inder gehen inzwischen massiv auf Einkaufstour, beginnen wie die anglosächsischen Heuschrecken Firmen abzugrasen.

    Der ungewöhnliche Aufstieg der indischen Wirtschaft - ausgehend vom Erfolg ihrer Softwareindustrie - verführt nicht nur Ihlau zu gelegentlicher Euphorie. Wer sich so gegen alle Unbilden eines traditionsverhafteten Gesellschaftsgefüges, ungünstiger sozialer Rahmenbedingungen und ungezählter Hemmnisse in Politik, Bürokratie und Infrastruktur durchsetzen kann, erscheint unschlagbar, sein künftiger Erfolg unaufhaltsam. Auch der Autor neigt bisweilen zu derartiger Glorifizierung, etwa wenn er auf Konzerngründer wie Azim Premji oder Nandan Nilekani zu sprechen kommt. Das Charisma dieser Unternehmerikonen ist unzweifelhaft. Doch manchmal scheint die indische Ökonomie durch sie eine fast mystische Kraft zu erlangen, die in punkto Innovation und Expansion völlig neue Maßstäbe setzt. Dass die Dauerhaftigkeit des Aufstiegs der indischen Wirtschaft sich erst noch erweisen muss, gerät dabei leicht in Vergessenheit. Ein wenig skeptisch macht auch Ihlaus Charakterisierung der geopolitischen und militärischen Lage auf dem Subkontinent:

    Anders als das extrem nationalistische China, das gegenüber mehreren Nachbarn Territorialansprüche erhebt und bisweilen wie ein Grobian auftritt, treiben Indien keinerlei Expansionsgelüste an.(...) Zentrale politische Determinanten Indiens bleiben die Absicherung des Vielvölkerstaats gegen Destabilisierung von außen, Ruhe in seinem Hinterhof und eine Position des Gleichgewichts mit China im asiatischen Kräftespiel. Das Nuklearpotentia (...) dient einer glaubwürdigen Abschreckung, es ist nicht als Offensivwaffe für den Erstschlag gedacht.

    Die Einschätzung, die indische Außen- und Verteidigungspolitik sei strikt defensiv, ist im Westen weit verbreitet - trotz expansionistischer Sündenfälle wie in Goa und Sikkim und unterdrückter Unabhängigkeitsbewegungen wie in Assam, Punjab oder Kaschmir. Zumal im Kaschmirkonflikt vor drei Jahren Indien durch die pakistanische Führung nuklear bedroht schien:

    " Ich weiß noch, wie ich bei Musharraf saß und der damit drohte, er würde notfalls die Atombombe einsetzen. Indien wird das niemals als erster tun. Niemand kann Indien besetzen oder kontrollieren. Insofern hat Indien eine innere Ruhe, kann gelassen die Entwicklung um sich herum verfolgen."

    Tatsächlich - und hier irrt Ihlau - hätte die damals hindunationalistische Führung in Neu Delhi nicht gezögert, Nuklearwaffen einzusetzen, wenn der Konflikt tatsächlich eskaliert wäre. Solche punktuellen Fehlschlüsse mindern den Reiz des Buches jedoch nicht. Ihlaus neues Werk ist ein fesselnder Streifzug durch den Subkontinent am Beginn des 21. Jahrhunderts. Als eine Einführung will der Autor selbst es verstanden wissen. Dafür setzt er an manchen Stellen allerdings etwas viel Vorwissen voraus. Politisch unterlegt, thematisch aber deutlich stärker auf den Boom in Handel, Dienstleistung und Industrie fokussiert, ist Oliver Müllers Buch "Wirtschaftsmacht Indien". Auch der Südasien-Korrespondent des Handelsblattes geht davon aus, dass der Aufstieg Indiens nicht aufzuhalten ist und der neue global player sogar an Europa vorbeiziehen wird. Die Tiefen dieser Entwicklung gründlich auslotend, geht Müller indes auch auf die Schattenseiten des Aufschwungs ausführlich ein:

    Nichts hält das Land stärker zurück als seine eklatanten Infrastrukturengpässe ... Es dürfte Indien auch bei großen Anstrengungen kaum jemals gelingen, ausreichend gute Straßen und Flughäfen im Vorgriff auf künftiges Wachstum parat zu halten. Seine wirtschaftliche Zukunft hängt davon ab, ob es Häfen, Eisenbahnlinien und Energieversorgung schnell genug nachbessern kann, um deren Totalkollaps zu vermeiden.

    Müller weist anhand zahlreicher Beispiele und mit großem Fleiß zusammengetragener Fakten nach, wie Indien sich vom korruptionsgeschüttelten, technologisch unterentwickelten und wirtschaftspolitisch höchst fragwürdig geführten Schwellenland ganz nach oben gearbeitet hat - in weniger als einem halben Jahrzehnt. Manchmal erschlägt den Leser die Fülle der Zahlen. Doch der Autor versteht es, wichtige Zusammenhänge und Widersprüche auch höchst anschaulich darzustellen. So schildert er den Zusammenprall von neuem Reichtum und über Generationen vererbter Armut in der New Economy-Metropole Gurgaon vor den Toren von Neu Delhi:

    Im noblen "China Club" servieren aus der Volksrepublik eingeflogene Köche erstklassiges Szechuan-Huhn (...) für den Wochenlohn eines Bauarbeiters. (...) Die Atmosphäre ist modern und gediegen. Doch direkt vor den Fenstern dieser kulinarischen Oase, im Blick ihrer Gäste, streckt sich ein Gewirr von blauen Plastikplanen, Strohhütten und Wellblechdächern, zwischen denen nackte Kinder herumrennen. Auf der Straße davor klopfen Lumpengestalten an Autofenster und betteln.(...)

    Auch Oliver Müller verliert allerdings die kritische Distanz, wenn er sich den Entrepreneurs aus Delhi und Hyderabad, Bangalore und Bombay nähert. "Ausnahmeunternehmer" seien das, mit "hellen Ideen im Kopf und mit einer brachialen Energie im Bauch":

    Diese neuen Tycoons essen keine Croissants zum Frühstück, sondern Kichererbsen mit Fladenbrot. Sie sind nicht immer kultiviert und geben sich oft einem Hang zu Prunk hin, der Europäer verstört. Aber sie sind kalte Rechner und haben einen unternehmerischen Killerinstinkt.

    Müller hat dabei Prototypen wie den Stahlbaron Lakshmi Mittal vor Augen, der mit der Übernahme des renommierten Arcelor-Konzerns für Aufsehen gesorgt hat. Voller Faszination blickt er auf die Turbo-Kapitalisten, die aus dem Dschungel kamen - und preist sie als Vorbilder für die vermeintlich satten und saturierten Firmenlenker im Westen. Besonders fundiert und erhellend sind Müllers durchgehende Vergleiche zur Volksrepublik China, wo er zuvor als Korrespondent tätig war. So scheint nach Lektüre dieses Buch durchaus plausibel, dass Indien dem nördlichen Nachbarn auf lange Sicht sogar den Rang ablaufen dürfte. "Wirtschaftsmacht Indien" wendet sich vor allem an Leser, die sich im weitesten Sinne für Weltökonomie und dabei speziell für den Aufstieg des Subkontinentes interessieren. Aber auch als vertiefende Einführung in Politik und Gesellschaft des modernen Indien leistet Müllers Buch gute Dienste. Olaf Ihlaus "Weltmacht Indien" wird vermutlich schon wegen seines populäreren Schreibstils deutlich mehr Leser finden. Wo Müller Zahlen sprechen lässt, setzt Ihlau oft auf Anekdoten. Empfehlenswert sind beide Werke.

    Olaf Ihlau Weltmacht Indien. Die neue Herausforderung des Westens
    Siedler Verlag. München 2006.
    224 Seiten. 19,95 Euro.

    Oliver Müller: Wirtschaftsmacht Indien. Herausforderung für uns
    Hanser Verlag. München 2006.
    302 Seiten. 19,90 Euro.