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Auftakt im Asbestprozess

Asbest ist längst verboten - die Spätfolgen aber sind bis heute zu spüren. Im italienischen Turin hat der bislang größte Asbestprozess begonnen. Es geht um 2800 Krankheits- und Todesfälle, für die zwei Topmanager des ehemaligen Asbestproduzenten Eternit verantwortlich gemacht werden.

Von Karl Hoffmann | 11.12.2009
    Es ist ein Prozess von gigantischen Ausmaßen. Alleine zwei volle Prozesstage wird die Verlesung der Namen aller Nebenkläger dauern, 4500 an der Zahl, die zum Teil mit Bussen aus dem ganzen Land angereist kamen; jeder Einzelne mit einer Leidensgeschichte, ob nun der Student Giulio, dessen Vater an den Folgen der eingeatmeten Asbestfasern starb.

    "Ich wünsche mir nur, dass nie wieder ein Sohn um den Vater weinen muss, der deswegen sterben musste, nach langen Jahren harter Arbeit in der Fabrik."

    Oder die 80-jährige Romana Blasotti Pavesi aus Casale Monferrato, deren ganzes Leben ein einziger Leidensweg war - der Asbeststaub hat Krankheit und Tod in ihre Familie gebracht.

    "Mein Mann ist 1983 verstorben, danach starb meine Schwester, kurz darauf ihr Sohn, dann eine Cousine und schließlich vor fünf Jahren meine Tochter. Heute sind wir nun hier in Turin. Und damit soll sich nun endlich unsere lang gehegte Hoffnung auf Gerechtigkeit erfüllen."

    17 Jahre nachdem Abbau und Verwendung von Asbest in Italien verboten wurden, fordert das einst gepriesene Allzweckmaterial immer neue Todesopfer. Etwa in der Nähe der Küstenstädte Triest, bei Livorno und Genua, aber auch in Syrakus aus Sizilien, wo Asbest im Schiffsbau lange Zeit Verwendung fand. Und vor allem in Casale Monferrato, einem kleinen beschaulichen Städtchen 60 Kilometer westlich von Turin. Dort wurde 80 Jahre lang Asbest industriell verarbeitet; so auch bei Eternit, dem Asbestproduzenten, der im Mittelpunkt des Verfahrens steht. Bis zum Jahr 2008 erkrankten in Casale Monferrato über 2800 der etwa 36.000 Einwohner an Asbestose. Fast 2200 starben bisher an dem von Asbestfasern hervorgerufenen Lungenfellkrebs. Und jedes Jahr kommen 40 bis 50 Neuerkrankungen hinzu, denn der Krebs bricht häufig erst 25 bis 40 Jahre später aus. All dies ist in den 220.000 Seiten umfassenden Prozessakten festgehalten. Für viele Opfer kommt das Verfahren zu spät. Es müsse aber trotzdem ermittelt werden, so Anwalt Sergio Bonetto, Koordinator der zahllosen Nebenkläger, ob es Verantwortliche gibt für dieses Massensterben.

    "20 Jahre hat es gedauert, bis zu diesem Prozess, der klären soll, was da eigentlich passiert ist. Das heißt, ob der Tod von Hunderten, ja Tausenden von Menschen und das Umweltdesaster, das durch die Asbestproduktion verursacht wurde, ein dummer Zufall war - oder ob daran einzelne Personen schuld waren."

    Zum Beispiel, weil die Sicherheit am Arbeitsplatz vernachlässigt worden ist. Angeklagt sind die beiden Gesellschafter von Eternit, dem Betreiber der längst geschlossenen Asbestfabrik in Casale Monferrato: der belgische Baron Louis de Cartier und einer der reichsten Männer der Schweiz, Stephan Schmidheiny, Chef eines weltweiten Imperiums von Zementfabriken, denen bis zu zwölf Jahre Haft drohen. Sie haben lange versucht, den Prozess zu verhindern, jetzt werden sie von mehreren Dutzend Verteidigern in Turin vertreten. Für sie sind die Langzeitfolgen der längst stillgelegten Asbestproduktion ein gesellschaftliches Problem, das man nicht mehr einzelnen Personen anlasten kann. Der Nebenklägervertreter Bonetto ist da anderer Meinung.

    "Sie haben die Fabrik stillgelegt, haben sich verdrückt und einfach alles stehen und liegen lassen. Und das ist der Grund, warum auch heute noch in Casale 30 bis 40 Menschen am Pleuramesotheliom erkranken. Schuld daran ist eben auch mangelnde Entsorgung der Asbeststoffe aus der stillgelegten Fabrik."

    Es gehe in erster Linie um die Gerechtigkeit, aber natürlich haben die Opfer beziehungsweise die Hinterbliebenen vorsorglich Schadenersatzansprüche angemeldet, insgesamt fünf Milliarden Euro. Auch deshalb ist der Prozess von Turin ein Verfahren der Superlative.