Montag, 13. Mai 2024

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Auftakt mit hochklassigen Konzerten

Seit dem 25. August 1938 gibt es das Lucerne-Festival in der Schweiz, also bald 75 Jahre. Seit damals glänzt es mit hochklassigen Konzerten, fördert zeitgenössische Musik und arrangiert Kunstevents. Ein Bericht zum Auftakt.

Von Jörn Florian Fuchs | 19.08.2013
    Das Recht der ersten Nacht nehmen in Luzern allsommerlich Claudio Abbado und das Lucerne Festival Orchestra für sich in Anspruch. Natürlich völlig zu recht, denn Abbado ist auch mit seinen 80 Lenzen noch immer ein wunderbarer Meister am Pult und das 1993 gegründete Orchester hatte und hat Weltklasse. Auf dem Programm standen diesmal Brahms' "Tragische Ouvertüre", zwei Auszüge aus Schönbergs "Gurreliedern" (mit einer phänomenalen Mihoko Fujimura als Waldtaube) sowie Beethovens "Eroica". Den Brahms dirigierte Abbado als eher behaglichen Auftakt, Schönbergs opulent sinnliche Partitur geriet zum schönen Kontrapunkt, alles blühte und glühte in nicht nur technischer Perfektion. Sehr erfreulich dann die völlig unaufgeregten, zeitweise regelrecht verinnerlichten Tempi beim vermeintlich so heroischen Klassiker. Heldenverehrung fällt hier flach und nicht nur der Trauermarsch, sondern vor allem das Finale erfordert ein intensives Mitleiden und Miterleben.

    Am nächsten Morgen ging es dann vormittags in die Schüür, ein Jugendzentrum, das vor allem Pop- und Rockkonzerten dient. Das Lucerne Festival zeigte dort die Uraufführung "Anschlag" von Michael Wertmüller auf einen Text von Lukas Bärfuss. Wertmüller schrieb zwölf Nummern für das Cross-Genre-Trio Steamboat Switzerland, drei Sängerinnen, einen Sprecher sowie Streicher und Schlagzeuger.

    Statt zu befürchtenden Attacken auf die Ohren gab es eher fein Ausgehörtes, schöne Überlagerungen der Orchester- und Gesangsstimmen, eine gute Prise Hammond-Orgelei, aber auch kraftvolle elektroakustische Klanglandschaften. Lukas Bärfuss assoziierte sich in seinem arg heterogenen Libretto durch diverse Sujets, im Zentrum stehen Gedanken über Krankheit von Individuen und Gesellschaften.

    Auf Deutsch, Englisch und Französisch wird eifrig schwadroniert, mal erfährt man, wie ein Tier seziert wird, mal erklärt eine Pornodarstellerin, wie man bei bestimmten Einsätzen noch Luft findet. Dazu komponierte Wertmüller atemberaubende Atemkoloraturen. Kurz vor Schluss verlassen die Musiker die Bühne und der Dirigent (hervorragend: Titus Engel) fällt einfach um. Es ist einer der wenigen starken szenischen Momente, ansonsten lassen Marie-Thérèse Jossen und Georges Delnon die Protagonisten rund um eine große Brecht-Gardine eher hilflos agieren. Da müsste dringend noch mal ein richtiger Regisseur ran.

    Hat man sich vom Anschlag gerade erholt, wird bald schon wieder neue Musik kredenzt. Diese ist freilich ganz besonders, denn Daniel Barenboim und sein West-Eastern Divan Orchestra haben sie in Auftrag gegeben. Umgürtet von einem Verdi-/Wagner-Potpourri ereignen sich gleich zwei Sensationen. Der Palästinenser Saed Haddad schickt in "Que la lumière soit" das Orchester sowie drei Solisten an Trompete, Posaune und Vibraphon ins Rennen. Man hört herrliche Echos, großartig gestaltete Verknüpfungen sowie von weiter Ferne herein kommende Beethoven-Reminiszenzen. Haddads israelische Kollegin Chaya Czernowin schrieb mit "At the fringe of our Gaze" eine bis in feinste Verästelungen ausgehörte, flächige Musik, die sich aus dunkelsten Tiefen in höchste Höhen schraubt. Waren Czernowins Partituren früher oft sehr düster, so herrscht hier ein fast feierlicher, hoffungsvoller Ton vor. Dieses Konzert geriet zum Meilenstein, nicht nur für die Komponisten und Musiker, sondern auch für das Lucerne Festival, das heuer 75 wird und sich das Motto "Revolution" gegeben hat.

    Bitte unbedingt mehr von solchen Ereignissen, sonst gehen wir auf die Barrikaden!