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Aufteilung von Reich und Besitz im Arztzimmer

Vor mehr als 30 Jahren hat Aribert Reimann aus der tragischen Geschichte des Lear eine Oper geformt, die inzwischen als ein klassisches Stück der Moderne gelten kann. Das Staatstheater Kassel hat Reimanns "Lear" neu inszeniert und in ein Arztzimmer verpflanzt.

Von Frieder Reininghaus | 19.09.2010
    Aribert Reimanns "Lear" schickt sich an, eines der wirklich haltbaren (daher auch strapazierfähigen) musikdramatischen Werke des 20. Jahrhunderts zu werden. Der Regisseur Paul Esterhazy zeigt zur intensiven Musik Reimanns in der Krankenhaus-Architektur von Mathis Neidhardt und mit Videos angereichert knapp drei Stunden Intensivstation. Zu Beginn seines letzten Lebensabschnitts trifft der alternde König bekanntlich folgenreiche Fehlentscheidungen. Er lässt sich all zu sehr von Emotionen leiten. Gezeigt wird dies gleichsam in Rückblende. Für den Narren, den Monarchen und Graf Gloster stehen drei Patientenbetten bereit in einem durch Vorhänge unterteilten offenen Raum. Hierher hat Lear die Nachfahren einbestellt, um Reich und Besitz unter ihnen aufzuteilen. Links neben der Behandlungszone das Arztzimmer, rechts der Aufzug und der Durchgang zum Flur. Hinter diesem und einer Mattscheibe das Orchester. Es ist der kaum sichtbare, aber allzeit präsente und in transparenter Klarheit hörbare Hauptakteur. Vom Dirigenten Patrik Ringborg können schemenhaft die Bewegungen wahrgenommen werden. Zwei Subdirigenten sind im ansonsten verwaisten Graben postiert und koordinieren die höchst anspruchsvollen Partien.

    Das Staatstheater Kassel bietet ein durchweg kompetent besetztes Sänger-Ensemble auf (verstärkt um Gäste): Auf der Männerseite unter anderen mit Espen Fegran. Dessen charakteristischer Bassbariton beglaubigt einen Machtmenschen, der schon ziemlich "fertig hat", der unbedacht und wissend zugleich erscheint. Als katastrophal erweist sich die Begünstigung seiner beiden gleisnerischen älteren Töchter und das Enterben der Jüngsten. Deren Wahrheitsliebe veranlasst ihn zu einer impulsiven Fehlentscheidung, die viele Todesopfer fordert. Lear weiß eigentlich, dass die Wahrheit ein Hund ist und gepeitscht wird. Neben der Titelfigur, die gerade in resignativen Momenten zum Sympathieträger wird, profilieren sich Krzysztof Borysiewicz als königstreuer Gloster und Schmerzensmann. Michael Hofmeister besticht als dessen counternder Sohn Edgar und Rainer Maria Röhr als der bitterböse Halbbruder mit metallisch-gewaltdrohender Prachtstimme. Auf der Gegenseite die drei Schwestern: Lona Culmer-Schellbach als Goneril; die Mittlere (Regan) steht ihr hinsichtlich Habgier und Machtbesessenheit kaum nach - Ruth-Maria Nicolay singt und blickt entsprechend bitterböse. Caroline Stein, die Grundgute, aber zunächst den Erwartungen des Vaters nicht entsprechende Cordelia, erscheint als Hoffnungsschimmer und verlischt: ganz nach Shakespeares Vorgabe ein scheues Geschöpf, das wesentlich mit sanfter und virtuoser Stimme besticht.

    Der Komponist intendierte mit seiner einerseits hoch komplexen, andererseits aber auch immer wieder meisterlich verschlankten Partitur Härte und Klarheit. Die Inszenierung nahm die Intention auf. Die Blendung Glosters zum Beispiel geht zwar hinter einem zugezogenen Vorhang vonstatten. Das Verbrechen dringt freilich scharf ins Bewusstsein nicht nur durch die Schreie des Opfers und die Akzente der Musik, sondern verstärkt noch durch die Einblendungen, die zwei Videokünstler live auf der Projektionsfläche über dem Krankenhausflur anbieten. Zu sehen ist da ein Geriatrie-Frühstück mit Eiern, von denen zwei rohe jeweils passgenau im richtigen Moment zerdrückt werden.

    Zum irisierend abhebenden Flageolett-Schlussakkord wird das Bild von Lears Bettdecke und den unter ihr hervorstarrenden Füßen immer unschärfer. Auch das eine klare Metapher. Die weit von Schloss und Heide des Originals sich entfernende Produktion hat die Plausibilitätsprüfung bestanden und die Chance, nachdrücklich in Erinnerung zu bleiben.