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Augen auf beim Wattenlauf

Das Wattenmeer gehört sei drei Jahren zum Weltnaturerbe. An der deutschen Nordseeküste kann man im Sommer bei Ebbe zu Fuß durch das Watt von einer Insel zur anderen laufen - zum Beispiel etwa zehn Kilometer von Amrum nach Föhr.

Von Kerstin Ruskowski | 29.07.2012
    Es ist Donnerstagmorgen, 10 Uhr. Vor der Norddorfer Filiale der Amrum Touristik tummeln sich circa hundert Touristen. Auf einer Bank steht Reinhard Boyens und nimmt die Geldscheine an, die ihm die Leute entgegenstrecken. Der braun gebrannte Mittvierziger ist Wattwanderführer und echter Amrumer. Heute führt er die Gruppe über eine Strecke von fast zehn Kilometern zur Nachbarinsel Föhr. Doch bevor es losgeht, erklärt Reinhard, wie die Wattwanderung zu Ende geht. Denn für ihn ist das Wichtigste, dass seine Gäste wissen, wie sie so schnell wie möglich wieder zurück auf die schöne Insel Amrum kommen.

    "Die Abfahrtszeiten der Fähre, 16 Uhr, 16 Uhr 30 wohl auch noch und denn um 19 Uhr für die Nachtschwärmer. Wer die letzte Fähre nicht bekommt, muss sich diese Strecke hier sehr, sehr gut einprägen und heute Nacht auf eigene Faust zurückwandern. Das kann ich aber nicht empfehlen."

    Auf dem etwa 20-minütigen Fußmarsch in Richtung Strand erzählt mir Reinhard, dass er schon als kleines Kind wattgewandert ist - manchmal sogar alleine bis rüber nach Föhr. Und seit rund 15 Jahren führt er Gruppen durch den Sand und Schlick rund um Amrum – im Sommer zwei bis drei Mal pro Woche. Im Winter ist es zu kalt und auch die Priele sind dann zu tief. Das sind die Meerwasserrinnen, die sich bei Ebbe im Watt bilden.

    Am Deich angekommen zückt Reinhard ein Mundstück, das zu dem Megafon führt, das er hinten an seinem Rucksack angebracht hat – zusammen mit einer kleinen Mistgabel. Denn alle sollen hören, was Reinhard von den Bewohnern der Nachbarinsel hält, die ihrerseits von Insel zu Insel laufen.

    "Ich lege immer sehr viel Wert darauf, dass wir vor den Föhrern durch den Priel sind. Denn die Föhrer haben über zwei Stunden keine Toilette mehr gesehen und dann ist das Wasser um einige Grad wärmer. Und deshalb wollen wir jetzt los, liebe Gäste. Auf geht’s, die Flut kommt – und die Föhrer kommen!"

    Wenigstens kann Reinhard die Touren nach Föhr immer mit einem Besuch bei seiner Schwester verbinden. Denn die hat die Familie Boyens an einen Föhrer verloren. Der Rest der Familie ist auf Amrum geblieben. Wenn Reinhard nicht wattwandert vermietet er zusammen mit seinem Bruder und seinem Vater Strandkörbe am Norddorfer Badestrand. Und im Winter arbeitet er als Zimmermann.

    Bevor es ins Watt geht, gibt es noch Infos zur Geschichte des Deichs.

    "Seit über 1000 Jahren, liebe Gäste, gibt es ja auch hier dieses Sprichwort: Wer nicht will deichen, der muss weichen. Und um dieses fruchtbare Marschgebiet zu schützen, wurde dann hier 1933 bis 1934 dieser Deich in einer Länge von 1,7 Kilometern errichtet. Damals war dieser Deich noch 1,5 Meter niedriger und auch ein grüner Deich mit Gras bewachsen, ein sogenannter Sommerdeich, der die Sommerfluten forthielt und somit konnten die Landwirte dieses Gebiet auch wunderbar nutzen."

    Dann erzählt Reinhard von der Flut 1962, durch die der Deich brach und das Marschgebiet überflutet wurde. Die Flut war sogar so stark, dass sie bis nach Hamburg reichte, wo mehr als 300 Menschen ertranken. In Amrum wurde der Deich schnell repariert, um 1,5 Meter erhöht und mit Teer überzogen – zum Wohle der Radfahrer und Leidwesen der Wühlmäuse.

    "Das müssen Sie alle wissen für den Fragebogen – ach ja, das hatte ich Ihnen noch gar nicht erzählt: Wer möchte, nur wer möchte, kann sich morgen oder übermorgen, ganz egal, bei der Strandkorbvermietung Boyens einen Fragebogen abholen und sein Wissen testen, was hier heute an Infos abgegeben wird."

    Von oben auf dem Deich können wir schon die Küste von Föhr erkennen. Luftlinie sind es nur drei bis vier Kilometer bis zur Nachbarinsel, erklärt Reinhard.

    <im_83146>ACHTUNG: NUR FÜR SONNTAGSSPAZIERGANG VERWENDEN Watt</im_83146>"Aber geradewegs rüber können wir nicht wandern, denn auf dieser Route befinden sich zwei Priele. Zwei Priele. Kommt sowieso nachher wieder die Frage: Können wir hier nicht abkürzen? Nein, das können wir nicht. Den einen Priel müssen wir durchwandern und den anderen Priel, den müssen wir umwandern."

    Doch bevor es in die Priele geht, müssen wir erst mal runter vom Deich und rauf auf den Schlick. Nach wenigen Metern zieht Reinhard seine Forke aus dem Rucksack und zeichnet mit dem äußeren Zinken einen großen Kreis in den Sand. Meine Mitwanderer und ich versammeln uns rundherum. Und dann erklärt unser Wattwanderführer, wie es sein kann, dass man von Amrum nach Föhr einigermaßen trockenen Fußes über den Meeresboden laufen kann.

    "Wo sind die großen Maschinen, wo sind die Fabriken, die diese Wassermassen bewegen? Wer weiß es?"

    "Der Mond."

    "Wer war das?"

    "Ich."

    Das muss eigentlich wie aus der Pistole geschossen kommen von allen Leuten. Aber für die restlichen will ich das dann noch mal erklären: Hier haben wir dann unsere Erde ..."

    Mit seiner Forke malt Reinhard einen weiteren, kleineren Kreis in den Sand. Und dann noch einen.

    "Und hier der Mond. Und durch die Anziehungskraft des Mondes entsteht Hochwasser. Das war genau richtig. Auf der mondzugewandten Seite entsteht ein Wasserball. Durch die Anziehungskraft des Mondes. Wie oft am Tag haben wir aber Hochwasser?"

    "Zweimal."
    "Richtig. Und wie oft am Tag sehen wir den Mond richtig gut?"

    "Einmal."

    "Und da kommen die meisten Leute wieder ins schleudern, ne. Jaja, der Mond, der macht Hoch- und Niedrigwasser, aber zweimal am Tag Hochwasser und nur einmal am Tag sehen wir den Mond richtig gut. Aber hier hinten, liebe Gäste, auf der mondabgewandten Seite, ist tatsächlich noch mal Hochwasser. Und dieses Hochwasser entsteht durch die Fliehkraft der Erde. Und dann kommt das schon wieder ganz gut hin: Einmal das Hochwasser durch die Anziehungskraft des Mondes, sechs Stunden später: Niedrigwasser. Niedrigwasser. Niedrigwasser. Kommt Ihr noch alle mit?"

    Warum sich die Gezeiten-Zeiten von Tag zu Tag verschieben, auch das kann Reinhard erklären.

    "Daran ist der Mond dran Schuld, denn in seiner Umlaufbahn um die Erde – weil die nicht ganz rund ist, sondern leicht oval – verspätet er sich jeden Tag etwa um eine Stunde."

    Bevor wir den ersten Priel in Angriff nehmen, verkündet er noch die wichtigste Regel:

    "Augen auf beim Wattenlauf!"

    Und dann geht es durch den ersten Priel.

    <im_83148>ACHTUNG: NUR FÜR SONNTAGSSPAZIERGANG VERWENDEN Amrum 2</im_83148> An der tiefsten Stelle stehe ich bis zu den Knien im Wasser. Doch es spritzt natürlich ordentlich. Nach etwa zehn Metern laufen wir mit dem Blick nach unten weiter über den Schlick. Unter meinen Füßen knacken kleine Muscheln. Manchmal muss ich einen Fuß schräg aufsetzen, weil ein spitzer Stein im Weg liegt. Dann wird der Untergrund wieder sandiger und feuchter. Überall sieht man runde Sauglöcher und kleine Häufchen, die an Spaghetti erinnern. Reinhard bleibt stehen und zeichnet wieder einen großen Kreis in den Sand. Dann sticht er mit der Forke in den Sand und fängt an zu buddeln – auf der Suche nach einem Wattwurm.

    "Der Wattwurm lebt in einer Tiefe von rund 25 Zentimetern. Ich hoffe, ich werde hier mal n bisschen Glück haben. Sieht natürlich noch nicht so gut aus ... Da haben wir mal einen. Wir graben die Wattwürmer extra mal dicht unter Land aus. Hier – mal rumgeben... dicht unter Land aus, damit die nicht so groß sind. Würden wir die Wattwürmer zwischen Föhr und Amrum ausgraben, dann sind die so groß wie Schlangen."

    Das erste Exemplar drückt Reinhard einem kleinen Jungen in die Hand, dann gräbt er noch ein paar weitere Würmer aus. Pro Jahr arbeitet sich ein Wattwurm durch circa 25 Kilogramm Wattboden, erklärt Reinhard. Nachdem die Wattwürmer einmal die Runde durch alle neugierigen Hände gemacht haben, geht es weiter. Kurze Zeit später haben wir den zweiten, größeren Priel erreicht. Für Reinhard der interessantere, weil das Wasser am tiefsten Punkt bis an den Hintern reicht.

    Ich persönlich habe so meine Probleme, meinen Rock hochzuraffen und gleichzeitig noch Aufnahmegerät und Mikrofon festzuhalten. Etwa in der Mitte des Priels höre ich ein unangenehmes Geräusch. Und dann: nichts mehr.

    Als ich nach unten schaue, sehe ich das Gerät im Wasser. Schnell ziehe ich es heraus – aber es ist zu spät.

    Zwei Stunden später gehen alle gesund und munter auf Föhr an Land. Nur mein Aufnahmegerät hat die dreieinhalbstündige Wanderung durchs Wattenmeer nicht überstanden.