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Augenmerk auf 9/11

Auf dem "Spieltriebe”-Festival in Osnabrück steht die Zweitverwertung zeitgenössischer Stücke im Vordergrund. Der neue Intendant, Ralf Waldschmidt, hat in diesem Jahr den Fokus auf Stücke, die sich mit den Anschlägen vom 9.September 2001 befassen, gelegt.

Von Michael Laages | 05.09.2011
    Am dritten Tag ist Weltuntergang ... und der aufregendste Ort der Osnabrücker "spieltriebe" meldet "Land unter": eines jener Militär-Areale, das im Zweiten Weltkrieg die Munitionsproduktion der Teuto-Werke beherbergte und seit 1945 von britischen Besatzungssoldaten genutzt; erst vor zwei Jahren zogen die ab und hinterlassen der Stadt eine monströse, geschichtsgesättigte Brache.

    Fünf Gebäude, die Kirche, der einstige NAAFI-Kaufmannsladen der Briten, Mensa und Kasino für die Mannschaften sowie ein alter Schießstand, "Schießkino" genannt, hat das Theater-Team jetzt für das Spielzeiteröffnungsfestival neu entdeckt. Mancher und manche im Publikum besucht dieses Gelände jetzt wie ein fremdes, fernes Land.

    Überhaupt sind die Osnabrücker "spieltriebe" auch eine Entdeckungsreise; jetzt, bei der mittlerweile vierten Ausgabe, womöglich noch intensiver als zuvor. Selbst in der Innenstadt gibt es Spiel-Orte, die nicht gemacht sind fürs Theater: der Schwurgerichtssaal, selbst Daniel Libeskinds Felix-Nussbaum-Haus, der erste bedeutende Bau des Architekten, lange vor dem Jüdischen Museum in Berlin. Auch das Kloster- und Kirchen-, heute auch Klinik-Terrain am Gertrudenberg sowie das Ausflugslokal am Piesberg, Kohlegrube, Dampflokbahnhof und Museum für Industriekultur inklusive, sind jetzt Theaterorte geworden; und wenn dann am Ende aller Routen das Theater selber zum letzten Treffpunkt wird und alle Teilnehmer des Spektakels zum Schlussbeifall die große Bühne füllen, dann drückt Osnabrück sein Theater so richtig ans Herz.

    Der neue Intendant hat sehr gut daran getan, die Kreation des Vorgängers beizubehalten – denn genau so, genau wie diese große Rundum-Umarmung am Schluss, sieht "Anfangen!" aus.

    Wenn doch nur die Stücke und Texte ein bisschen stärker ausgefallen wären bei der vierten Festival-Ausgabe, die eine Woche vor dem schrecklichen Jahrestag die Folgen der Ereignisse vom 11. September 2001 ins Zentrum theatralischer Bemühung rückte ...

    Gewiss lag der junge Regisseur Alexander May richtig, als er aus "Hekabe" und den "Troerinnen", zwei antiken Dramen des Euripides, eine eigene Fassung unter dem Titel "Tod einer Hündin" fertigte; und gewiss zeigen die Aufführungen in der Kaserne Wirkung: "Wenn die Sonne immer noch so schön scheint", einer Sammlung von Osnabrücker Stimmen zum 11. September vom Recherche-Spezialisten Frank Abt, Felix Meyer-Christians Arbeit mit Letizia Russos Nach-Kriegs-Stück "Hundegrab", der Kriegsspiel-Phantasie "Wartopia" und Liz Rechs Inszenierung von "Blogosphere Iraq" im Sand des "Schießkinos" mit den bekannt grausigen Bildern und Videos aus dem Irak des Krieges sowie den schon mehrfach im Theater verwendeten Blog-Einträgen von "Riverband".

    Problematisch bleibt vor allem die zentrale Uraufführung, koproduziert mit dem Theater Freiburg, das die Hälfte des Ensembles stellt: das neue Stück der erfolgreichen Dramatikerin Theresia Walser ...

    ""Wir haben genau 77 Minuten, und dann ist
    Stille ... "

    ... "Eine Stille für Frau Schirakesch" nämlich; so heißt das neue Walser-Stück, und es nimmt sich die 77 Minuten vor dieser Stille zum Thema. Einmal mehr ist in Annette Pullens Uraufführungs-Inszenierung wie im Stück die Szenerie einer Gesprächsrunde im Fernsehen angelegt; zwei Bikini-Schönheiten, eine Ex-Soldatin samt ambitiösem Vater sowie ein General sollen Stellung nehmen zu den Fragen der Moderatorin:

    "Ludowski, ich heiße Hilda Ludowski; und in 77 Minuten auf dem Marktplatz von Tschundakar Frau Schirakesch gesteinigt"
    "Wir könnten doch auch 'Hinrichtung' sagen"
    "Eine Steinigung ist eine Steinigung"
    "... ich bin auch für 'Steinigung'"
    "... oder wie würden Sie das nennen, wenn eine Frau bis zur Hüfte in die Erde eingegraben und von Männern mit Steinen beworfen wird, bis das Gesicht nur noch ein blutige Masse ist?"
    "Gut, sagen wir 'Steinigung'"

    Wer aber will denn um Himmels willen im Theater immer mehr Fernseh-Debatten vorerzählt bekommen: die Bikini-Damen vor allem, die im irgendwie afghanischen Tschundakar absurderweise bei einem Schönheitswettbewerb auftraten; der General mit den großen Worten; die vom Tod zweier Kameraden schwer traumatisierte Soldatin – von einem ihrer zerfetzten Freunde trägt sie (als letzte Erinnerung) stets ein Ohr bei sich. Der Vater ist deutscher Stammtisch pur – und das hohle Palaver all dieser Talkshow-Teilnehmer will Walser an die mörderische Wirklichkeit einer Steinigung binden ... das kann nicht gut gehen, und es geht auch nicht gut. Jedenfalls zeigt "Eine Stille für Frau Schirakesch" nicht viel mehr als wortreiche Sprachlosigkeit.

    Und die Pfadfinder-Tour durch im Unwetter versinkende Kaserne bietet bedrohlichere Bilder.