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Augenzwinkernd und anekdotisch

Wer in den letzten dreißig Jahren die deutsche Theaterkultur beobachtet, möchte manchmal einfach weglaufen. Ein paar hundert Kilometer reichen, und man ist in Paris. Dort gibt es einen Theaterbetrieb, der gleichzeitig experimentierfreudig, traditionsbewusst und erfolgsverwöhnt ist. Und jetzt gibt es dort auch Interesse an deutschen Autoren wie zum Beispiel einem gewissen Monsieur Gillé, der während der Revolutionszeit zum französischen Staatsbürger ehrenhalber ernannt worden war - gemeint ist Friedrich Schiller.

Von Ute Nyssen |
    Eine Sternstunde im Pariser Theater: Friedrich Schillers DIE RÄUBER, in einer Inszenierung von Paul Desveaux im Théâtre Malakoff. Dieses Ereignis gilt es umso mehr zu feiern, als deutsche Klassiker, da fast nie gespielt, dem Pariser Publikum unbekannt sind. Sicher gibt es viele Gründe hierfür, unter anderem historisch-politische, dann das erhöhte Produktionsrisiko der große Besetzung wegen und schließlich, Klassiker hat man in Frankreich selber zur Genüge. In den vielen deutschsprachigen Stadt- und Staatstheatern sieht es anders aus, dort sind die französischen Klassiker selbstverständlicher Bestandteil des Repertoires. Aber das Interesse der hiesigen Theatermacher verändert sich: auf einmal stehen Lessing, Schiller, Kleist, Büchner auf dem Programm, Büchner sogar mehrfach. Man darf vermuten, dass es der Erfolg der zeitgenössischen deutschsprachigen Stücke ist, der ihnen die Tür aufgestoßen hat.

    Wie spielt man in Paris deutsche Klassiker? LEONCE UND LENA von Georg Büchner am Théâtre Artistic - Athevains entsprach einer durchschnittlichen deutschen Stadttheater-Produktion. So auch Lessings NATHAN DER WEISE am Théâtre Silvia Montfort, die abgründige Bedrohlichkeit vieler Szenen wurde hier unterschlagen zugunsten des utopischen Märchens. DER PRINZ VON HOMBURG von Heinrich von Kleist im Athénée - Louis Jouvet, war ein allenfalls "originelles" Unternehmen. Primär eine Liebesgeschichte, drum-herum eine Militäraffäre unter furchtbar sympathischen Offizieren: alles augenzwinkernd und anekdotisch.

    Den RÄUBERN gebührt die Palme, auch im Wettbewerb mit Inszenierungen französischer Klassiker. Von der Comédie Française abgesehen, sind alle Inszenierungen in Paris Koproduktionen mit der Provinz, in diesem aufwendigen Fall mit 5 Bühnen, unterstützt auch vom Goethe Institut. Ein ungekürzter Text, fast 4 Stunden Aufführungsdauer, eine grandiose eins zu eins Besetzung aller 13 Männerrollen, das gibt es in Deutschland jetzt, leider, nicht mehr. Das französische Publikum ließ sich von der Theaterpranke des 18 jährigen Schiller und dem rasanten Tempo der Aufführung bis zur letzten Minute in Bann schlagen.

    Der Regisseur belässt DIE RÄUBER in der Zeit des Stücks, verlegt es nicht willkürlich in irgendeine Moderne, so dass sich der Zuschauer selbst seinen Reim auf das historische Geschehen machen kann. Paul Desveaux verändert keine Silbe in dieser Kain-und-Abel- Mordstory, arbeitet aber mit ganz heutigen Mitteln, wenn er zum Beispiel den philosophischen Schrei nach Freiheit des Individuums von Franz der Canaille durch eine grotesk tänzerische Exaltiertheit der Figur herausarbeitet.

    Vor allem die Jugendlichen im Publikum, geschult durch Horror- und Gewaltfilme, lachen oft verständnisinnig mit Franz, so wenn der im Schillerton seinem Vater den Tod an den Hals wünscht. Aber in der Schlussszene, in der Franz sich als Nero apostrophiert, sich die Kleider vom Leibe reißt, um sich den Tod zu geben und schließlich nackt, ein armer sterblicher Mensch, auf dem Boden kniet, da herrscht atemlose Stille im Saal. Eine solche Bühnenübersetzung wäre noch vor 5 Jahren undenkbar gewesen. Auch die Räuberbande Karls betritt im Tanzschritt, wie befreit von bürgerlicher Enge, den großen Bühnenraum. Dieser zeigte links einen Wald und rechts im Hintergrund als Zeichen der Feudalkultur nur ein Klavier, Symbol auch der Welt Amalias.

    Der Bühnenboden mit welken Blättern bestreut, der Tod ist anwesend von Beginn an. Schiller leuchtet in der gegebenen Situation alle Figuren als gleichberechtigt heraus. Ob Roller oder der alte Diener, den Franz wie einen Hund quält, gemeinsam bilden sie die notwendigen Bausteine dieses Sturm und Drang Freiheitsdramas, und ob Intrigant oder Idealist, die Regie ließ sie alle mit "feuertrunkenem" Ernst, um es mit Schiller zu sagen, ihre Rolle spielen. Man würde dem deutschen Publikum wünschen, dass diese überragende Inszenierung als Gastspiel nach Deutschland gelangte.