Eigentlich begann alles mit Cartoons oder genauer: einem ausgebildeten Cartoonisten, der auf der Suche nach einem Thema für seine erste Veröffentlichung war. Er entschied sich, Episoden aus seiner Junior-Highschoolzeit zum Besten zu geben, für eine erwachsene Leserschaft.
Doch als Jeff Kinney, so der Name des Cartoonisten, "Diary of an Wimpy Kid" veröffentlichte, eroberte das Buch praktisch über Nacht statt ein erwachsenes ein jugendliches Publikum. Daher erschien die deutsche Ausgabe "Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt" 2008 bei Baumhaus, einem Kinder- und Jugendbuchverlag. Dort übersetzte man den Untertitel "A novel in cartoons" mit "Comic-Roman". Dass mit dieser akzentuierten Nennung des Gattungsbegriffs nicht nur eine einzelne Buchserie, sondern gleich das ganze Genre zu neuer Popularität gelangen würde, ahnte damals wohl niemand.
Jeff Kinney ließ dem ersten "Greg"-Band bis heute vier weitere folgen; an der Kinoverfilmung der ersten beiden wirkte er als Produzent mit. Seine Bücher und CDs haben sich allein im deutschsprachigen Raum 2,3 Millionen Mal verkauft. Man kann sagen: Die Serie ist ein voller, ein internationaler Erfolg geworden. Doch was zeichnet sie aus, was macht sie so populär?
Da ist zum einen die Hauptfigur. Greg ist einer wie alle: ein typischer, ein durchschnittlicher heranwachsender Junge, an der Schwelle zur Pubertät. Da hat man es nicht leicht: fiese Geschwister, stressende Eltern, blöde Lehrer. Doch Greg lässt sich nicht unterkriegen und schlägt sich Tag für Tag durch: in der Schule, mit seinem besten Freund und im Familienalltag.
Schreibend und zeichnend lässt sein erzählendes Ich die Leser daran teilhaben, wie er zum Beispiel sein schweres Schicksal als Sandwich-Kind – zwischen Teenie- und Babybruder – meistert: Er sucht sich einen, der alles mit sich machen lässt, als besten Freund aus. So kann Greg an ihm die fiesen Streiche ausprobieren, die er von seinem großen Bruder zu erdulden hat und die er niemals an seinem kleinen Bruder auslassen wird, weil der Elterns Liebling ist.
Doch Tagebuchromane mit Hauptfiguren, in denen sich Jungs zwischen zehn und zwölf liebend gerne wiederfinden, gibt es bereits mit großem Erfolg, beispielsweise "Berts gesammelte Katastrophen" vom schwedischen Autorenduo Jacobsson und Olsson.
Im Unterschied zu diesen heißt "Gregs Tagebuch" nicht nur so, es sieht auch so aus. Schlägt man es auf, erkennt man das sofort: Das Papier ist liniert, auf den Seiten wechseln sich kurze Textblöcke mit Schwarzweiß-Zeichnungen ab, die mal mehr an Cartoons, mal mehr an Comics erinnern. Die Schrift wirkt selbstgeschrieben, die Zeichnungen – Strichmännchen mit Sprechblasen - selbstgekritzelt.
Für Regina Pantos, Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur, ist das direkte Zusammenspiel von Text und Bild charakteristisch für den Comic-Roman:
"Ich denke, das Neue an diesem Buch ist die Mischung von Text und Zeichnung, die gut zueinanderpassen und das Besondere an dem Buch auch gut herausheben. Es gibt Wortwitz und auch Witz in den Zeichnungen - Situationskomik, die manchmal in den Zeichnungen viel besser und knapper, noch pointierter dargestellt wird, als das in den Texten geschieht. Außerdem ist es neu, dass man sich auf beide Genres so einlässt. Man liest nicht nur ein Buch oder einen Comic, sondern, diese Verbindung, die finde ich sehr gelungen."
Abwechselnd mit Bildern und Buchstaben zu erzählen, eröffnet ganz besondere Möglichkeiten der Vergegenwärtigung. Können doch die Bilder szenisch veranschaulichen, worüber im Text offenherzig geplaudert wird. Kinneys Erzählduktus offenbart den Cartoonisten: Er ist satirisch bis selbstironisch, übertrieben direkt und spürbar authentisch. Man merkt, dass Greg das Alter Ego des 39-jährigen Autors ist, der Gregs Alltagsabenteuer fast alle selbst erlebte. Greg sieht das folgendermaßen:
"Zuerst will ich etwas klarstellen: Das sind meine Memoiren und KEIN Tagebuch. ... wenn mich irgendjemand mit diesem Buch in der Hand erwischt, weiß ich genau, was mir blüht:
"Verdammt, da kommt der Idiot aus der Zehnten schon wieder!"
"Hey, was hast denn du da in der Hand? Oh, ein Tagebuch. Mann, was für ein Looser!"
"Aua!"
Ich mache das alles überhaupt nur deswegen, weil ich später, wenn ich reich und berühmt bin, sicher was Besseres zu tun habe, als den ganzen Tag lang dämliche Fragen zu beantworten. Spätestens dann werden meine Memoiren sicher ganz nützlich sein:
"Gregory! Erzähl uns von deiner Kindheit!"
"Warst du schon immer so genial und gut aussehend?"
"Hier, meine Memoiren. Und jetzt husch!"
Greg trägt gern dick auf: In einem Moment stilisiert er sich zum Tollpatsch, Unglücksvogel oder schlimmsten Looser, um gleich darauf als super Typ dazustehen. Ob dabei Bild und Text gemeinsam in eine Richtung übertreiben oder mittels Pointe überraschen, indem enthüllt wird, was tatsächlich gemeint war.
Greg wird im amerikanischen Originaltitel als "wimpy kid" bezeichnet, was man mit "Knalltüte" oder "Klugscheißer" übersetzen könnte. Dessen Lebensphilosophie für den Überlebenskampf lautet: Arrangieren, Ausweichen oder Herausreden und in jedem Fall für sich selbst das Beste herausholen.
"Dieses Buch zeigt ja einen Jungen, der in einem ganz bestimmten Wertesystem aufwächst. Dieses Wertesystem wird durch die Eltern vermittelt. Der Vater möchte aus diesem Schlaffi am liebsten einen Athleten machen und Mutter möchte aus dem kleinen Fiesling einen sozial angepassten Jungen machen. Das ist eben auch ein tolles Buch für Erwachsene, weil Greg Erwachsenen so wunderbar den Spiegel vorhält, wie sie sich jetzt um Erziehung bemühen. Wie sie dabei erfolgreich sind, wie sie aber auch dabei nicht erfolgreich sind. Weil Greg dem System immer ein Stück Widerstand entgegensetzt."
Gerade die Prise Anarchie und Subversion machen Greg also nicht nur zum Lieblingshelden vieler Jungs. Dass er Erwachsenen den Spiegel vorhält und Pädagogen narrt, amüsiert diese auch bei ihrer eigenen Lektüre. Zumal es keineswegs bedeutet, dass "Gregs Tagebuch" ohne Botschaften auskäme. "Gib nicht auf!", "Such dir Vorbilder!", "Lass dir was einfallen!" – solche Alltagsbotschaften verleihen den kurzweiligen Episoden Sinn und bedeuten dem Leser die unüberhörbar amerikanisch eingefärbte Botschaft: "Hab Spaß, aber vergiss dabei nicht, ein guter Kerl zu werden!"
Derart überschaubare Erzähl- und Sinneinheiten überfordern auch ungeübte Leser nicht. Und so haben selbst hartnäckige Leseverweigerer bei "Greg" angebissen - zur Freude von Pädagogen, Buchhändlern und Eltern. Entsprechend weit offen standen und stehen nun auch die Verlagstüren für diejenigen Autoren und Zeichner, die sich an etwas Gleichem oder Ähnlichem versuchen wollen. Zahlreiche Plagiate und kreative Umsetzungen ließen nicht lang auf sich warten, sodass inzwischen auf vielen Novitäten mehr oder minder deutlich das Erfolgssignet "Comic-Roman" prangt. Die einzelnen Veröffentlichungen verbinden genretypische Motive und Merkmale wie narrative Bild- und Textwechsel und eine Episodenstruktur, die sich gut für serielles Erzählen eignet. Aus einem Comic-Roman wird daher schnell eine Serie, in der heranwachsende Ich-Erzähler – ob Jungs oder Mädchen - ihr Leben ausbreiten mit älteren Geschwistern, die den Hauptfiguren das Leben schwer machen und gern wilde Partys feiern, wenn die Eltern mal kurz übers Wochenende verreisen. Obligatorisch ist der beste Freund, mit dem man eine Geheimsprache erfindet, Listen führt und Comics zeichnet sowie die spielerische Vorliebe für literarische Heldenfiguren wie Superman oder Zorro teilt.
Eine jüngst erschienene Comic-Romanserie stammt von Dagmar Geisler und heißt "Chaos-Comics von Luis". Hat Dagmar Geisler "Gregs Tagebuch" gelesen?
"Ich hab's - ehrlich gesagt – bewusst nicht angeschaut. Weil, der Luis, der ist ja eher aus den "Wanda"-Büchern entstanden oder aufgrund der "Wanda"-Bücher entstanden, die ja auch schon mit Zeichnungen durchsetzt sind. Ich wollte da nicht so genau hingucken, damit ich nicht das Gleiche mache. Jetzt wird das immer damit verglichen, aber es hat damit eigentlich nichts zu tun."
"Wandas geheime Notizen": 2003 erschien der erste Band der Mädchen-Serie. Und "Chaos-Comics von Luis" sind tatsächlich nach einem annähernd identischen Muster gestrickt, das sich bei genauerer Betrachtung als Comic-Roman entpuppt, allerdings in Geisler'scher Ausprägung. Und das heißt: mit deutlich mehr gestalterischer Vielfalt.
In die Textpassagen wird reingekritzelt, manche Bilder sind skizzenhaft, andere beschriftet, überhaupt wechseln sich Bild- und Textpassagen vielfältig ab und auf manchen Doppelseiten hat sogar der Kater seine Tatzenspuren hinterlassen. Mit verschiedenen Schriftvarianten wird wie im Comic verdeutlicht, in welcher Lautstärke oder Stimmung gesprochen wird, wer einfach reinschreit oder sich ganz geordnet - in Sprechblasen - zu Wort meldet.
Als deutliche Referenz an das Medium Comic ergänzen sich zudem Bilder zu einer Bilderreihe, sogenannten Panels. In denen wird parallel weitererzählt. Zum Beispiel von zwei Figuren, die sich Luis und sein bester Freund Vincent für ihren ersten gemeinsamen Trickfilm ausgedacht und gezeichnet haben: ein Pirat und ein Außerirdischer:
"... diese beiden Figuren – dieser Captain Shark und Captain Spark - die führen in Luis Leben ein Eigenleben. Das heißt, die geben blöde Tipps oder kommentieren das, was er tut auf die eine oder andere Weise. Manchmal kabbeln sie sich auch gegenseitig. Das sind so Figuren, mit denen Jungs gerne spielen und die einen auch manchmal auf eine falsche Fährte locken. So, der Captain Shark zum Beispiel behauptet, Weiber an Bord bringen Unglück – was ja natürlich in Wirklichkeit gar nicht stimmt. Captain Spark ist dann mehr so für die ganz moderne Linie zuständig – sind eher so Gedanken, die vielleicht Luis auch hätte, als Luis aber nicht so aussprechen kann. Oder so Klischees, die man im Kopf hat, auch als Kind schon, die die beiden transportieren."
Dagmar Geisler weitet mit diesen beiden schillernden Comic-Helden und deren eigenwilliger Sicht auf die Welt nicht nur den Horizont ihrer Erzählerfigur, sondern eröffnet ihrer Geschichte - ganz nebenbei – auch jede Menge neuen Stoff für komische Situationen.
Da die beiden aus der Fantasie der Hauptfigur entstanden sind, lassen sie natürlich Rückschlüsse zu auf deren Innenleben, sprich: Sie verkörpern Luis' Gedanken, Gefühle, Einstellungen. Und zeigen plastisch und anschaulich, was sich in seinem Inneren abspielt und sprechen laut und deutlich aus, was Luis so überlegt, wenn er zum Beispiel auf Rache sinnt:
"Kielholen, die stinkende Fischbrut!" grölt Kapitän Shark. "Kielholen, das ist so eine Seeräuberangewohnheit. Wenn einer was ausgefressen hat, wird er an ein Seil gebunden und unter dem Schiff durchgezogen. Wenn er überlebt, hat er Glück gehabt, wenn nicht, holen ihn die Haie."
Neben Kapitän Shark und Captain Spark gibt es eine weitere Figur, die eine Facette von Luis Persönlichkeit nach außen stülpt, nämlich die des Super-Luis, Rächer der Armen. Arm fühlt sich Luis, wenn er ausgelacht wird. Dann schlüpft er – zumindest in Gedanken – mit Augenmaske und Umhang in die Rolle des Rächers der Ausgelachten:
"Luis, komm doch mal nach vorne!"
Jetzt kommt die Meise auch noch auf mich zu. Die will doch nicht etwa mir über den Kopf streicheln? Ich mache einen Satz rückwärts. Muss der blöde Papierkorb unbedingt da stehen, wo ich hintrete? Und kann ich was dafür, dass jemand seine ekligen Matschbirnen da drin entsorgt hat?
HaHaHaHa! HiHiHiHiHiii
Jetzt lachen wieder alle. Nur Vincent hält sich zurück und Cleo zum Glück auch.
Aber wartet nur! Ich hab schon längst eine schwarze Lachliste angelegt, und wer da draufsteht, kriegt's irgendwann ab. Aber wie!"
Wie Greg hat auch Luis es nicht leicht. Mit lockeren Sprüchen, wie die Bandtitel bezeugen – "Bleibt locker, Leute!" (Band 1), "Wehe, einer lacht!" (Band 2), "Hallo, geht's noch?" (Band 3) - kämpft er ständig gegen allerlei Widrigkeiten an: dagegen, dass seine ältere Schwester Jessi immer sein Mittagessen wegfuttert und dass ihn die Mutter - wie peinlich – immer noch "Kleiner" nennt. Dagegen, dass er nicht als "Weichei Luilein" zum Lieblingsopfer des Klassenanführers Zorro wird und dass er seinen besten Freund Vincent davon abbringt, ein feiger, mieser Verräter zu werden. Und last, but not least versucht er gemeinsam mit Vincent die zwei ersten Bände lang, seinen Trickfilm fertigzubekommen.
Komisch wird dieser Alltagskampf durch Übertreibungen, was – laut Dagmar Geisler – in der Natur der Sache liegt:
""Ich denke auch, dass die Komik ja dadurch entsteht, dass man den Blick, den Kinder auf die Welt haben, sich ein bisschen aneignet oder sich daran erinnert, wie man selbst die Welt gesehen hat. Ich fand als Kind vieles, was die Erwachsenen machen, vollkommen absurd. Oder man sieht auch so Details, so ganz genau. Das ist ja schon fast karikierend, wie ein Kind die Welt sieht, oft."
Dagmar Geisler lotet - wie Jeff Kinney - mit äußerst trockenem Humor alle Varianten übertriebener Wahrnehmung Heranwachsender aus, bleibt aber weitgehend der Maxime des Wahrscheinlichen und Möglichen verpflichtet.
Über diesen Punkt gehen Rüdiger Bertram und der Comiczeichner Heribert Schulmeyer in ihrer Serie "Coolman und ich" ganz bewusst hinaus. Alle drei bislang erschienenen Bände lassen eine Vorliebe für Realsatire erkennen und driften gern auch mal lustvoll ins gänzlich Abstruse ab. Da fährt zum Beispiel während des England-Austauschs Protagonist Kai einfach mal so die Steine in Stonehenge mit einem Rolls Royce um:
Heribert Schulmeyer: "Macht schon Spaß, sich so was auszumalen."
Rüdiger Bertram: "Erstens macht es Spaß, sich das auszumalen. Und zweitens war für mich von Anfang an klar, wir erzählen 'bigger than life!' Es geht nicht darum, einen Jungen in seinen ganz alltäglichen Sachen zu zeigen, sondern wir gehen drüber. Der Humor entsteht, wenn ich über die Normalität erzähle."
Kai ist nur auf den ersten Blick ein ganz normaler Junge wie Greg oder Luis, denn Kai ist nie allein, er hat einen ständigen Begleiter:
"Darf ich vorstellen? Der lebensmüde Typ mit der Trompete neben mir hört auf den Namen Coolman. Coolman begleitet mich, seit ich vier bin. Aber nur ich kann ihn sehen. Für alle anderen ist er unsichtbar und das ist auch besser so. Es reicht, dass er mein Leben zu einer endlosen Abfolge von immer katastrophaleren Katastrophen macht. Ich habe schon alles probiert, um ihn loszuwerden. Das könnt ihr mir glauben. Aber Coolman ist immer da, ob es mir passt oder nicht. Coolman ist mein Schicksal und ich kann nichts dagegen tun."
Nimmt man ernst, was hier gesagt wird, heißt das: Der Junge Kai und der verrückte Superheld Coolman bilden zusammen die Hauptfigur der Comic-Romanserie "Coolman und ich". Coolman verkörpert Charakterzüge, die Kai an sich selbst schlicht und einfach beunruhigend oder zu verrückt fand und daher abgespalten hat, um sie besser kontrollieren zu können. Was anfangs jedoch eher schlecht gelingt und für jede Menge komische Situationen sorgt, weil Kai, wenn er auf Coolman hört, grundsätzlich im Schlamassel landet. Daraus aber lernt er mit der Zeit.
Die zehn- bis zwölfjährigen Leser dürften die unbeschwert vorgetragene Persönlichkeitsspaltung amüsiert hinnehmen, ohne sie zu hinterfragen. Das ist auch gut so, denn sie empfiehlt sich keinesfalls zur Nachahmung. Für die Handlung aber ergeben sich enorme stoffliche und erzählerische Möglichkeiten durch diese schillernde Helden-Karikatur mit Cape und schwarzer Augenmaske, diesen Superhelden, der alles besser weiß und sich alles zutraut, diesen Entertainer, mit dem das Leben bunt und verrückt ist. Ganz klar ist Coolman ein Kerl vom Schlag eines Captain Spark oder eines Kapitän Shark, wie in Dagmar Geislers "Chaos-Comics von Luis". Ein Fantasiewesen, eine innere und ausgesprochen vitale Figur, deren Treiben – parallel zur Haupthandlung – in den Comics stattfindet:
Heribert Schulmeyer: "Das ist eine Figur, die eigentlich dadurch, dass sie verinnerlicht ist, frei ist. Wenn sie außen wäre, wäre sie gefährlich. Das gibt dem Zeichner auch die Möglichkeit, die Szenen, die diese Figur mitbestimmt – die also auch gezeichnet sind -, einfach auszubauen. Also ich kann in Welten reingehen, ich kann sie ausstaffieren, der kann Pirat werden, der kann alles machen. Weil es auch Tagträume sind, die eine Form bekommen. Aber der traut sich alles zu, der rennt gegen die Wand, der steht wieder auf, der macht alles! Der trägt eine Maske, eine Gesichtsmaske, die gleichzeitig eine Supermann-Maske ist und auch wieder eine Maske von einem Verbrecher sein kann. Da ist immer so was Ambivalentes in der Figur. Ein Spinner eigentlich, aber ein gefährlicher Spinner."
Rüdiger Bertram: "Aber er ist ja in die Comics eingeschlossen. Das war von Anfang an das Konzept, dass Coolman nur in den Comics auftaucht. Damit die Comics auch noch mal eine Funktion bekommen."
Heribert Schulmeyer: "Er randaliert nur im Comic."
Jenseits von Witz und Irrwitz kämpft Ich-Erzähler Kai sich – wie alle anderen Comic-Romanhelden vor und nach ihm – Tag für Tag durch den Alltagsdschungel. Und wird auch hier mit besonderen Härten konfrontiert, denn Rüdiger Bertram hat ihm ein unkonventionelles Elternhaus angedichtet: Seine Eltern sind Theaterschauspieler und treten – wenn es die Rolle erfordert – gerne auch mal nackt auf. Wo die Schmerzgrenze seiner Zielgruppe liegt, erprobt der Autor gern an seinem 12-jährigen Sohn:
Rüdiger Bertram: "Zum Teil ist es ihm auch wirklich zu peinlich, was ich mache. Zu der Szene im Theater, wo die Eltern sich ausziehen, hat er gesagt. "Das kannst du nicht schreiben! Das geht nicht!"
Heribert Schulmeyer: "Weil das schön unangenehm ist. Schauspielereltern find ich unheimlich scheiße! Und dann haben wir noch gesagt: Sie müssen sich die ganze Zeit abknutschen, weil das für Kinder peinlich ist. Wir wollten nicht die normalen Eltern, sondern wir wollten Eltern, die richtig unangenehm sind. Das war schön."
Rüdiger Bertram: "Der Ansatz, den ich habe, ist ja zu unterhalten, mit den Büchern. Also such ich mir ein Ambiente, das möglichst viel Material bietet und das bot viel Material. Auch mit der Schwester Anti. Das Schöne ist, dass ich sie aus dem Namen Antigone gemacht hab, wo der Anspruch der Eltern wieder durchleuchtet."
Antigone ist Kais ältere Schwester, die mitten in der Pubertät steckt und deshalb tagtäglich ihrem Spitznamen "Anti" alle Ehre macht. Mit solch stimmigen Metaphern und einem so klugen wie unterhaltsamen Erzählkonzept, das einen Motivstrang ins zeichnerische Medium überführt, setzen Schulmeyer und Bertram ihre eigene Vision von einem Comic-Roman überzeugend um. Es ist nicht ihr erster übrigens, denn 2004 erschien bei Rotfuchs "Pizza Krawalla":
Rüdiger Bertram: "Das war auch klassischer Comic-Roman, der aber damals von den Buchhändlern noch nicht angenommen wurde, da war die Zeit noch nicht reif, scheinbar. Also, wir blicken auf eine lange Tradition von Comic-Romanen zurück."
Davon kann Frank Schmeiser nur träumen, denn "Schurken überall!" Die streng geheimen, ultrawahren Aufzeichnungen des Superhelden DAS GEHIRN alias Sebastian von Nervköter und der Unglaublichen Dreieinhalb" ist sein erstes Kinderbuch. Titel, Untertitel und hingekritzelter Bucheinband nehmen überdeutlich Bezug auf "Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt". Doch wer eine Parodie vermutet, irrt. Im Buchinneren sind leider nur vergleichsweise wenig Seiten von Jörg Mühles herrlich schrägen Zeichnungen aufgelockert. Daher ist dieser letzte der vorgestellten neueren Comic-Romane nur etwas für Jungs (und Mädchen natürlich!), die wirklich gern lesen und nichts für diejenigen, die nur durchhalten, wenn alle zehn Zeilen ein neues Bild kommt.
Dafür ist das, was man zu lesen bekommt, durchgeknallter als alles Bisherige. Denn Protagonist Sebastian wird von seiner Mutter – "Sehen Sie, was ich mit dem Jungen durchmache!" – und seinem Psychiater - Dr. Klingschön (!) - gezwungen aufzuschreiben, "wie der ganze Schlamassel in der Schule und zu Hause passieren konnte".
Legt schon Jeff Kinney eine manisch-depressive Neigung seiner Hauptfigur nahe und Rüdiger Bertram die Option einer multiplen Persönlichkeit, um die verrücktesten Geschichten erzählen zu können, potenziert Frank Schmeißer dies noch. Alle drei jugendlichen Helden haben – zumindest aus Erwachsenensicht - einen leichten Dachschaden. Aber gerade ihre Verrücktheiten machen sie – so sehen sie es übrigens auch selbst - stark und unverwechselbar.
Hauptfigur Sebastian – "Das Gehirn" - kann sich fast alles merken, was er sieht, zieht aber gerne mal die falschen Rückschlüsse daraus. Durch seine blühende Fantasie sprüht er vor Ideen und Einfällen. "Action-Bärbel" ist zappelig, aber enorm sportlich und hat sehr viel Kraft. Wenn sie ihre Tabletten nimmt, wird sie jedoch zur Schlaftablette. Der bebrillte, etwas pummelige Martin ist wie sein eingebildeter Freund Dieter "unscheinbar bis zur Unsichtbarkeit" und damit "Das Chamäleon".
Die drei zelebrieren ihre Superheldenexistenz mit Superheldenzentrale, Superheldenklamotten und Superheldenspruch. Durch Sebastians Talent, immer genau das zu tun, was am meisten Ärger bringt, sind die Aktionen der "Unglaublichen Dreieinhalb" ziemlich verrückt oder – anders ausgedrückt: unwahrscheinlich bis hirnrissig. So wollen sie - um nur ein Beispiel zu nennen - einen Klassendieb entlarven, indem sie alles mit unsichtbarer Farbe anstreichen. Um, so glauben sie, alle Sachen mit blauem Licht wiederzuentdecken. Um diese These zu überprüfen, räumen sie kurzerhand das Aquarium von Sebastians Vater leer.
So geht das, bis nach über 200 Seiten jeder weiß, warum Tante Hellas Geburtstag in einer Katastrophe endete, wie man mit voller Blase in einem Schrank ausharrt, welche Tarnfarben Klassenhamster Machmawas trug und wie der verhasste Physiklehrer seine Lektion bekam, ohne dass die Drei von der Schule flogen.
Beeindruckend, geradezu ausschweifend regieren hier Witz und Irrwitz. Mit trockenem Humor und einer extra Portion Ironie spielt Frank Schmeißer gekonnt mit dem erfundenen Superhelden-Imago heranwachsender Jungs. Ganz nach dem Motto: je schachsinniger die Aktionen, desto lustvoller die Lektüre.
Ob Tagebuch, Erlebnisbericht oder Aufzeichnungen, der Alltag Heranwachsender ist in den vorgestellten Comic-Romanen voller Situationskomik, Witz und manchmal auch Irrwitz als Überlebenskampf inszeniert. Als Auseinandersetzung mit sich selbst, insbesondere den eigenen Wunschvorstellungen und den Anforderungen des Umfelds.
Die ihm eigene Erzählweise aus Text und Bild bescheinigt dem "Comic-Roman" enormes künstlerisches Potenzial. Durch den Erfolg von "Gregs Tagebuch" gewann die verjüngte Spielart Aufmerksamkeit und Popularität und scheint eine Geheimformel für gute Laune zu sein, die Autoren und Leser inspiriert, auch oder gerade, wenn man sie nicht zu ernst nimmt.
Buchinfos:
Jeff Kinney: Gregs Tagebuch. Aus dem Amerikanischen von Collin McMahon, Bd. 1-5, Baumhaus 2008-2011.
Nick Romeo Reimann (Sprecher): Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt!, Wellenreiter/Lübbe Audio 2009.
Gregs Tagebuch – Von Idioten umzingelt, USA 2010, DVD: Oetinger Audio 2011.
Dagmar Geisler: Chaos-Comics von Luis, Bd. 1-3, dtv 2010-2011.
Rüdiger Bertram/ Heribert Schulmeyer (Illu.): Coolman und ich, Bd.1-3, Oetinger 2010-2011.
Frank Schmeiser/ Jörg Mühle (Illu.): Schurken überall!, Ravensburger 2011.
Doch als Jeff Kinney, so der Name des Cartoonisten, "Diary of an Wimpy Kid" veröffentlichte, eroberte das Buch praktisch über Nacht statt ein erwachsenes ein jugendliches Publikum. Daher erschien die deutsche Ausgabe "Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt" 2008 bei Baumhaus, einem Kinder- und Jugendbuchverlag. Dort übersetzte man den Untertitel "A novel in cartoons" mit "Comic-Roman". Dass mit dieser akzentuierten Nennung des Gattungsbegriffs nicht nur eine einzelne Buchserie, sondern gleich das ganze Genre zu neuer Popularität gelangen würde, ahnte damals wohl niemand.
Jeff Kinney ließ dem ersten "Greg"-Band bis heute vier weitere folgen; an der Kinoverfilmung der ersten beiden wirkte er als Produzent mit. Seine Bücher und CDs haben sich allein im deutschsprachigen Raum 2,3 Millionen Mal verkauft. Man kann sagen: Die Serie ist ein voller, ein internationaler Erfolg geworden. Doch was zeichnet sie aus, was macht sie so populär?
Da ist zum einen die Hauptfigur. Greg ist einer wie alle: ein typischer, ein durchschnittlicher heranwachsender Junge, an der Schwelle zur Pubertät. Da hat man es nicht leicht: fiese Geschwister, stressende Eltern, blöde Lehrer. Doch Greg lässt sich nicht unterkriegen und schlägt sich Tag für Tag durch: in der Schule, mit seinem besten Freund und im Familienalltag.
Schreibend und zeichnend lässt sein erzählendes Ich die Leser daran teilhaben, wie er zum Beispiel sein schweres Schicksal als Sandwich-Kind – zwischen Teenie- und Babybruder – meistert: Er sucht sich einen, der alles mit sich machen lässt, als besten Freund aus. So kann Greg an ihm die fiesen Streiche ausprobieren, die er von seinem großen Bruder zu erdulden hat und die er niemals an seinem kleinen Bruder auslassen wird, weil der Elterns Liebling ist.
Doch Tagebuchromane mit Hauptfiguren, in denen sich Jungs zwischen zehn und zwölf liebend gerne wiederfinden, gibt es bereits mit großem Erfolg, beispielsweise "Berts gesammelte Katastrophen" vom schwedischen Autorenduo Jacobsson und Olsson.
Im Unterschied zu diesen heißt "Gregs Tagebuch" nicht nur so, es sieht auch so aus. Schlägt man es auf, erkennt man das sofort: Das Papier ist liniert, auf den Seiten wechseln sich kurze Textblöcke mit Schwarzweiß-Zeichnungen ab, die mal mehr an Cartoons, mal mehr an Comics erinnern. Die Schrift wirkt selbstgeschrieben, die Zeichnungen – Strichmännchen mit Sprechblasen - selbstgekritzelt.
Für Regina Pantos, Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur, ist das direkte Zusammenspiel von Text und Bild charakteristisch für den Comic-Roman:
"Ich denke, das Neue an diesem Buch ist die Mischung von Text und Zeichnung, die gut zueinanderpassen und das Besondere an dem Buch auch gut herausheben. Es gibt Wortwitz und auch Witz in den Zeichnungen - Situationskomik, die manchmal in den Zeichnungen viel besser und knapper, noch pointierter dargestellt wird, als das in den Texten geschieht. Außerdem ist es neu, dass man sich auf beide Genres so einlässt. Man liest nicht nur ein Buch oder einen Comic, sondern, diese Verbindung, die finde ich sehr gelungen."
Abwechselnd mit Bildern und Buchstaben zu erzählen, eröffnet ganz besondere Möglichkeiten der Vergegenwärtigung. Können doch die Bilder szenisch veranschaulichen, worüber im Text offenherzig geplaudert wird. Kinneys Erzählduktus offenbart den Cartoonisten: Er ist satirisch bis selbstironisch, übertrieben direkt und spürbar authentisch. Man merkt, dass Greg das Alter Ego des 39-jährigen Autors ist, der Gregs Alltagsabenteuer fast alle selbst erlebte. Greg sieht das folgendermaßen:
"Zuerst will ich etwas klarstellen: Das sind meine Memoiren und KEIN Tagebuch. ... wenn mich irgendjemand mit diesem Buch in der Hand erwischt, weiß ich genau, was mir blüht:
"Verdammt, da kommt der Idiot aus der Zehnten schon wieder!"
"Hey, was hast denn du da in der Hand? Oh, ein Tagebuch. Mann, was für ein Looser!"
"Aua!"
Ich mache das alles überhaupt nur deswegen, weil ich später, wenn ich reich und berühmt bin, sicher was Besseres zu tun habe, als den ganzen Tag lang dämliche Fragen zu beantworten. Spätestens dann werden meine Memoiren sicher ganz nützlich sein:
"Gregory! Erzähl uns von deiner Kindheit!"
"Warst du schon immer so genial und gut aussehend?"
"Hier, meine Memoiren. Und jetzt husch!"
Greg trägt gern dick auf: In einem Moment stilisiert er sich zum Tollpatsch, Unglücksvogel oder schlimmsten Looser, um gleich darauf als super Typ dazustehen. Ob dabei Bild und Text gemeinsam in eine Richtung übertreiben oder mittels Pointe überraschen, indem enthüllt wird, was tatsächlich gemeint war.
Greg wird im amerikanischen Originaltitel als "wimpy kid" bezeichnet, was man mit "Knalltüte" oder "Klugscheißer" übersetzen könnte. Dessen Lebensphilosophie für den Überlebenskampf lautet: Arrangieren, Ausweichen oder Herausreden und in jedem Fall für sich selbst das Beste herausholen.
"Dieses Buch zeigt ja einen Jungen, der in einem ganz bestimmten Wertesystem aufwächst. Dieses Wertesystem wird durch die Eltern vermittelt. Der Vater möchte aus diesem Schlaffi am liebsten einen Athleten machen und Mutter möchte aus dem kleinen Fiesling einen sozial angepassten Jungen machen. Das ist eben auch ein tolles Buch für Erwachsene, weil Greg Erwachsenen so wunderbar den Spiegel vorhält, wie sie sich jetzt um Erziehung bemühen. Wie sie dabei erfolgreich sind, wie sie aber auch dabei nicht erfolgreich sind. Weil Greg dem System immer ein Stück Widerstand entgegensetzt."
Gerade die Prise Anarchie und Subversion machen Greg also nicht nur zum Lieblingshelden vieler Jungs. Dass er Erwachsenen den Spiegel vorhält und Pädagogen narrt, amüsiert diese auch bei ihrer eigenen Lektüre. Zumal es keineswegs bedeutet, dass "Gregs Tagebuch" ohne Botschaften auskäme. "Gib nicht auf!", "Such dir Vorbilder!", "Lass dir was einfallen!" – solche Alltagsbotschaften verleihen den kurzweiligen Episoden Sinn und bedeuten dem Leser die unüberhörbar amerikanisch eingefärbte Botschaft: "Hab Spaß, aber vergiss dabei nicht, ein guter Kerl zu werden!"
Derart überschaubare Erzähl- und Sinneinheiten überfordern auch ungeübte Leser nicht. Und so haben selbst hartnäckige Leseverweigerer bei "Greg" angebissen - zur Freude von Pädagogen, Buchhändlern und Eltern. Entsprechend weit offen standen und stehen nun auch die Verlagstüren für diejenigen Autoren und Zeichner, die sich an etwas Gleichem oder Ähnlichem versuchen wollen. Zahlreiche Plagiate und kreative Umsetzungen ließen nicht lang auf sich warten, sodass inzwischen auf vielen Novitäten mehr oder minder deutlich das Erfolgssignet "Comic-Roman" prangt. Die einzelnen Veröffentlichungen verbinden genretypische Motive und Merkmale wie narrative Bild- und Textwechsel und eine Episodenstruktur, die sich gut für serielles Erzählen eignet. Aus einem Comic-Roman wird daher schnell eine Serie, in der heranwachsende Ich-Erzähler – ob Jungs oder Mädchen - ihr Leben ausbreiten mit älteren Geschwistern, die den Hauptfiguren das Leben schwer machen und gern wilde Partys feiern, wenn die Eltern mal kurz übers Wochenende verreisen. Obligatorisch ist der beste Freund, mit dem man eine Geheimsprache erfindet, Listen führt und Comics zeichnet sowie die spielerische Vorliebe für literarische Heldenfiguren wie Superman oder Zorro teilt.
Eine jüngst erschienene Comic-Romanserie stammt von Dagmar Geisler und heißt "Chaos-Comics von Luis". Hat Dagmar Geisler "Gregs Tagebuch" gelesen?
"Ich hab's - ehrlich gesagt – bewusst nicht angeschaut. Weil, der Luis, der ist ja eher aus den "Wanda"-Büchern entstanden oder aufgrund der "Wanda"-Bücher entstanden, die ja auch schon mit Zeichnungen durchsetzt sind. Ich wollte da nicht so genau hingucken, damit ich nicht das Gleiche mache. Jetzt wird das immer damit verglichen, aber es hat damit eigentlich nichts zu tun."
"Wandas geheime Notizen": 2003 erschien der erste Band der Mädchen-Serie. Und "Chaos-Comics von Luis" sind tatsächlich nach einem annähernd identischen Muster gestrickt, das sich bei genauerer Betrachtung als Comic-Roman entpuppt, allerdings in Geisler'scher Ausprägung. Und das heißt: mit deutlich mehr gestalterischer Vielfalt.
In die Textpassagen wird reingekritzelt, manche Bilder sind skizzenhaft, andere beschriftet, überhaupt wechseln sich Bild- und Textpassagen vielfältig ab und auf manchen Doppelseiten hat sogar der Kater seine Tatzenspuren hinterlassen. Mit verschiedenen Schriftvarianten wird wie im Comic verdeutlicht, in welcher Lautstärke oder Stimmung gesprochen wird, wer einfach reinschreit oder sich ganz geordnet - in Sprechblasen - zu Wort meldet.
Als deutliche Referenz an das Medium Comic ergänzen sich zudem Bilder zu einer Bilderreihe, sogenannten Panels. In denen wird parallel weitererzählt. Zum Beispiel von zwei Figuren, die sich Luis und sein bester Freund Vincent für ihren ersten gemeinsamen Trickfilm ausgedacht und gezeichnet haben: ein Pirat und ein Außerirdischer:
"... diese beiden Figuren – dieser Captain Shark und Captain Spark - die führen in Luis Leben ein Eigenleben. Das heißt, die geben blöde Tipps oder kommentieren das, was er tut auf die eine oder andere Weise. Manchmal kabbeln sie sich auch gegenseitig. Das sind so Figuren, mit denen Jungs gerne spielen und die einen auch manchmal auf eine falsche Fährte locken. So, der Captain Shark zum Beispiel behauptet, Weiber an Bord bringen Unglück – was ja natürlich in Wirklichkeit gar nicht stimmt. Captain Spark ist dann mehr so für die ganz moderne Linie zuständig – sind eher so Gedanken, die vielleicht Luis auch hätte, als Luis aber nicht so aussprechen kann. Oder so Klischees, die man im Kopf hat, auch als Kind schon, die die beiden transportieren."
Dagmar Geisler weitet mit diesen beiden schillernden Comic-Helden und deren eigenwilliger Sicht auf die Welt nicht nur den Horizont ihrer Erzählerfigur, sondern eröffnet ihrer Geschichte - ganz nebenbei – auch jede Menge neuen Stoff für komische Situationen.
Da die beiden aus der Fantasie der Hauptfigur entstanden sind, lassen sie natürlich Rückschlüsse zu auf deren Innenleben, sprich: Sie verkörpern Luis' Gedanken, Gefühle, Einstellungen. Und zeigen plastisch und anschaulich, was sich in seinem Inneren abspielt und sprechen laut und deutlich aus, was Luis so überlegt, wenn er zum Beispiel auf Rache sinnt:
"Kielholen, die stinkende Fischbrut!" grölt Kapitän Shark. "Kielholen, das ist so eine Seeräuberangewohnheit. Wenn einer was ausgefressen hat, wird er an ein Seil gebunden und unter dem Schiff durchgezogen. Wenn er überlebt, hat er Glück gehabt, wenn nicht, holen ihn die Haie."
Neben Kapitän Shark und Captain Spark gibt es eine weitere Figur, die eine Facette von Luis Persönlichkeit nach außen stülpt, nämlich die des Super-Luis, Rächer der Armen. Arm fühlt sich Luis, wenn er ausgelacht wird. Dann schlüpft er – zumindest in Gedanken – mit Augenmaske und Umhang in die Rolle des Rächers der Ausgelachten:
"Luis, komm doch mal nach vorne!"
Jetzt kommt die Meise auch noch auf mich zu. Die will doch nicht etwa mir über den Kopf streicheln? Ich mache einen Satz rückwärts. Muss der blöde Papierkorb unbedingt da stehen, wo ich hintrete? Und kann ich was dafür, dass jemand seine ekligen Matschbirnen da drin entsorgt hat?
HaHaHaHa! HiHiHiHiHiii
Jetzt lachen wieder alle. Nur Vincent hält sich zurück und Cleo zum Glück auch.
Aber wartet nur! Ich hab schon längst eine schwarze Lachliste angelegt, und wer da draufsteht, kriegt's irgendwann ab. Aber wie!"
Wie Greg hat auch Luis es nicht leicht. Mit lockeren Sprüchen, wie die Bandtitel bezeugen – "Bleibt locker, Leute!" (Band 1), "Wehe, einer lacht!" (Band 2), "Hallo, geht's noch?" (Band 3) - kämpft er ständig gegen allerlei Widrigkeiten an: dagegen, dass seine ältere Schwester Jessi immer sein Mittagessen wegfuttert und dass ihn die Mutter - wie peinlich – immer noch "Kleiner" nennt. Dagegen, dass er nicht als "Weichei Luilein" zum Lieblingsopfer des Klassenanführers Zorro wird und dass er seinen besten Freund Vincent davon abbringt, ein feiger, mieser Verräter zu werden. Und last, but not least versucht er gemeinsam mit Vincent die zwei ersten Bände lang, seinen Trickfilm fertigzubekommen.
Komisch wird dieser Alltagskampf durch Übertreibungen, was – laut Dagmar Geisler – in der Natur der Sache liegt:
""Ich denke auch, dass die Komik ja dadurch entsteht, dass man den Blick, den Kinder auf die Welt haben, sich ein bisschen aneignet oder sich daran erinnert, wie man selbst die Welt gesehen hat. Ich fand als Kind vieles, was die Erwachsenen machen, vollkommen absurd. Oder man sieht auch so Details, so ganz genau. Das ist ja schon fast karikierend, wie ein Kind die Welt sieht, oft."
Dagmar Geisler lotet - wie Jeff Kinney - mit äußerst trockenem Humor alle Varianten übertriebener Wahrnehmung Heranwachsender aus, bleibt aber weitgehend der Maxime des Wahrscheinlichen und Möglichen verpflichtet.
Über diesen Punkt gehen Rüdiger Bertram und der Comiczeichner Heribert Schulmeyer in ihrer Serie "Coolman und ich" ganz bewusst hinaus. Alle drei bislang erschienenen Bände lassen eine Vorliebe für Realsatire erkennen und driften gern auch mal lustvoll ins gänzlich Abstruse ab. Da fährt zum Beispiel während des England-Austauschs Protagonist Kai einfach mal so die Steine in Stonehenge mit einem Rolls Royce um:
Heribert Schulmeyer: "Macht schon Spaß, sich so was auszumalen."
Rüdiger Bertram: "Erstens macht es Spaß, sich das auszumalen. Und zweitens war für mich von Anfang an klar, wir erzählen 'bigger than life!' Es geht nicht darum, einen Jungen in seinen ganz alltäglichen Sachen zu zeigen, sondern wir gehen drüber. Der Humor entsteht, wenn ich über die Normalität erzähle."
Kai ist nur auf den ersten Blick ein ganz normaler Junge wie Greg oder Luis, denn Kai ist nie allein, er hat einen ständigen Begleiter:
"Darf ich vorstellen? Der lebensmüde Typ mit der Trompete neben mir hört auf den Namen Coolman. Coolman begleitet mich, seit ich vier bin. Aber nur ich kann ihn sehen. Für alle anderen ist er unsichtbar und das ist auch besser so. Es reicht, dass er mein Leben zu einer endlosen Abfolge von immer katastrophaleren Katastrophen macht. Ich habe schon alles probiert, um ihn loszuwerden. Das könnt ihr mir glauben. Aber Coolman ist immer da, ob es mir passt oder nicht. Coolman ist mein Schicksal und ich kann nichts dagegen tun."
Nimmt man ernst, was hier gesagt wird, heißt das: Der Junge Kai und der verrückte Superheld Coolman bilden zusammen die Hauptfigur der Comic-Romanserie "Coolman und ich". Coolman verkörpert Charakterzüge, die Kai an sich selbst schlicht und einfach beunruhigend oder zu verrückt fand und daher abgespalten hat, um sie besser kontrollieren zu können. Was anfangs jedoch eher schlecht gelingt und für jede Menge komische Situationen sorgt, weil Kai, wenn er auf Coolman hört, grundsätzlich im Schlamassel landet. Daraus aber lernt er mit der Zeit.
Die zehn- bis zwölfjährigen Leser dürften die unbeschwert vorgetragene Persönlichkeitsspaltung amüsiert hinnehmen, ohne sie zu hinterfragen. Das ist auch gut so, denn sie empfiehlt sich keinesfalls zur Nachahmung. Für die Handlung aber ergeben sich enorme stoffliche und erzählerische Möglichkeiten durch diese schillernde Helden-Karikatur mit Cape und schwarzer Augenmaske, diesen Superhelden, der alles besser weiß und sich alles zutraut, diesen Entertainer, mit dem das Leben bunt und verrückt ist. Ganz klar ist Coolman ein Kerl vom Schlag eines Captain Spark oder eines Kapitän Shark, wie in Dagmar Geislers "Chaos-Comics von Luis". Ein Fantasiewesen, eine innere und ausgesprochen vitale Figur, deren Treiben – parallel zur Haupthandlung – in den Comics stattfindet:
Heribert Schulmeyer: "Das ist eine Figur, die eigentlich dadurch, dass sie verinnerlicht ist, frei ist. Wenn sie außen wäre, wäre sie gefährlich. Das gibt dem Zeichner auch die Möglichkeit, die Szenen, die diese Figur mitbestimmt – die also auch gezeichnet sind -, einfach auszubauen. Also ich kann in Welten reingehen, ich kann sie ausstaffieren, der kann Pirat werden, der kann alles machen. Weil es auch Tagträume sind, die eine Form bekommen. Aber der traut sich alles zu, der rennt gegen die Wand, der steht wieder auf, der macht alles! Der trägt eine Maske, eine Gesichtsmaske, die gleichzeitig eine Supermann-Maske ist und auch wieder eine Maske von einem Verbrecher sein kann. Da ist immer so was Ambivalentes in der Figur. Ein Spinner eigentlich, aber ein gefährlicher Spinner."
Rüdiger Bertram: "Aber er ist ja in die Comics eingeschlossen. Das war von Anfang an das Konzept, dass Coolman nur in den Comics auftaucht. Damit die Comics auch noch mal eine Funktion bekommen."
Heribert Schulmeyer: "Er randaliert nur im Comic."
Jenseits von Witz und Irrwitz kämpft Ich-Erzähler Kai sich – wie alle anderen Comic-Romanhelden vor und nach ihm – Tag für Tag durch den Alltagsdschungel. Und wird auch hier mit besonderen Härten konfrontiert, denn Rüdiger Bertram hat ihm ein unkonventionelles Elternhaus angedichtet: Seine Eltern sind Theaterschauspieler und treten – wenn es die Rolle erfordert – gerne auch mal nackt auf. Wo die Schmerzgrenze seiner Zielgruppe liegt, erprobt der Autor gern an seinem 12-jährigen Sohn:
Rüdiger Bertram: "Zum Teil ist es ihm auch wirklich zu peinlich, was ich mache. Zu der Szene im Theater, wo die Eltern sich ausziehen, hat er gesagt. "Das kannst du nicht schreiben! Das geht nicht!"
Heribert Schulmeyer: "Weil das schön unangenehm ist. Schauspielereltern find ich unheimlich scheiße! Und dann haben wir noch gesagt: Sie müssen sich die ganze Zeit abknutschen, weil das für Kinder peinlich ist. Wir wollten nicht die normalen Eltern, sondern wir wollten Eltern, die richtig unangenehm sind. Das war schön."
Rüdiger Bertram: "Der Ansatz, den ich habe, ist ja zu unterhalten, mit den Büchern. Also such ich mir ein Ambiente, das möglichst viel Material bietet und das bot viel Material. Auch mit der Schwester Anti. Das Schöne ist, dass ich sie aus dem Namen Antigone gemacht hab, wo der Anspruch der Eltern wieder durchleuchtet."
Antigone ist Kais ältere Schwester, die mitten in der Pubertät steckt und deshalb tagtäglich ihrem Spitznamen "Anti" alle Ehre macht. Mit solch stimmigen Metaphern und einem so klugen wie unterhaltsamen Erzählkonzept, das einen Motivstrang ins zeichnerische Medium überführt, setzen Schulmeyer und Bertram ihre eigene Vision von einem Comic-Roman überzeugend um. Es ist nicht ihr erster übrigens, denn 2004 erschien bei Rotfuchs "Pizza Krawalla":
Rüdiger Bertram: "Das war auch klassischer Comic-Roman, der aber damals von den Buchhändlern noch nicht angenommen wurde, da war die Zeit noch nicht reif, scheinbar. Also, wir blicken auf eine lange Tradition von Comic-Romanen zurück."
Davon kann Frank Schmeiser nur träumen, denn "Schurken überall!" Die streng geheimen, ultrawahren Aufzeichnungen des Superhelden DAS GEHIRN alias Sebastian von Nervköter und der Unglaublichen Dreieinhalb" ist sein erstes Kinderbuch. Titel, Untertitel und hingekritzelter Bucheinband nehmen überdeutlich Bezug auf "Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt". Doch wer eine Parodie vermutet, irrt. Im Buchinneren sind leider nur vergleichsweise wenig Seiten von Jörg Mühles herrlich schrägen Zeichnungen aufgelockert. Daher ist dieser letzte der vorgestellten neueren Comic-Romane nur etwas für Jungs (und Mädchen natürlich!), die wirklich gern lesen und nichts für diejenigen, die nur durchhalten, wenn alle zehn Zeilen ein neues Bild kommt.
Dafür ist das, was man zu lesen bekommt, durchgeknallter als alles Bisherige. Denn Protagonist Sebastian wird von seiner Mutter – "Sehen Sie, was ich mit dem Jungen durchmache!" – und seinem Psychiater - Dr. Klingschön (!) - gezwungen aufzuschreiben, "wie der ganze Schlamassel in der Schule und zu Hause passieren konnte".
Legt schon Jeff Kinney eine manisch-depressive Neigung seiner Hauptfigur nahe und Rüdiger Bertram die Option einer multiplen Persönlichkeit, um die verrücktesten Geschichten erzählen zu können, potenziert Frank Schmeißer dies noch. Alle drei jugendlichen Helden haben – zumindest aus Erwachsenensicht - einen leichten Dachschaden. Aber gerade ihre Verrücktheiten machen sie – so sehen sie es übrigens auch selbst - stark und unverwechselbar.
Hauptfigur Sebastian – "Das Gehirn" - kann sich fast alles merken, was er sieht, zieht aber gerne mal die falschen Rückschlüsse daraus. Durch seine blühende Fantasie sprüht er vor Ideen und Einfällen. "Action-Bärbel" ist zappelig, aber enorm sportlich und hat sehr viel Kraft. Wenn sie ihre Tabletten nimmt, wird sie jedoch zur Schlaftablette. Der bebrillte, etwas pummelige Martin ist wie sein eingebildeter Freund Dieter "unscheinbar bis zur Unsichtbarkeit" und damit "Das Chamäleon".
Die drei zelebrieren ihre Superheldenexistenz mit Superheldenzentrale, Superheldenklamotten und Superheldenspruch. Durch Sebastians Talent, immer genau das zu tun, was am meisten Ärger bringt, sind die Aktionen der "Unglaublichen Dreieinhalb" ziemlich verrückt oder – anders ausgedrückt: unwahrscheinlich bis hirnrissig. So wollen sie - um nur ein Beispiel zu nennen - einen Klassendieb entlarven, indem sie alles mit unsichtbarer Farbe anstreichen. Um, so glauben sie, alle Sachen mit blauem Licht wiederzuentdecken. Um diese These zu überprüfen, räumen sie kurzerhand das Aquarium von Sebastians Vater leer.
So geht das, bis nach über 200 Seiten jeder weiß, warum Tante Hellas Geburtstag in einer Katastrophe endete, wie man mit voller Blase in einem Schrank ausharrt, welche Tarnfarben Klassenhamster Machmawas trug und wie der verhasste Physiklehrer seine Lektion bekam, ohne dass die Drei von der Schule flogen.
Beeindruckend, geradezu ausschweifend regieren hier Witz und Irrwitz. Mit trockenem Humor und einer extra Portion Ironie spielt Frank Schmeißer gekonnt mit dem erfundenen Superhelden-Imago heranwachsender Jungs. Ganz nach dem Motto: je schachsinniger die Aktionen, desto lustvoller die Lektüre.
Ob Tagebuch, Erlebnisbericht oder Aufzeichnungen, der Alltag Heranwachsender ist in den vorgestellten Comic-Romanen voller Situationskomik, Witz und manchmal auch Irrwitz als Überlebenskampf inszeniert. Als Auseinandersetzung mit sich selbst, insbesondere den eigenen Wunschvorstellungen und den Anforderungen des Umfelds.
Die ihm eigene Erzählweise aus Text und Bild bescheinigt dem "Comic-Roman" enormes künstlerisches Potenzial. Durch den Erfolg von "Gregs Tagebuch" gewann die verjüngte Spielart Aufmerksamkeit und Popularität und scheint eine Geheimformel für gute Laune zu sein, die Autoren und Leser inspiriert, auch oder gerade, wenn man sie nicht zu ernst nimmt.
Buchinfos:
Jeff Kinney: Gregs Tagebuch. Aus dem Amerikanischen von Collin McMahon, Bd. 1-5, Baumhaus 2008-2011.
Nick Romeo Reimann (Sprecher): Gregs Tagebuch. Von Idioten umzingelt!, Wellenreiter/Lübbe Audio 2009.
Gregs Tagebuch – Von Idioten umzingelt, USA 2010, DVD: Oetinger Audio 2011.
Dagmar Geisler: Chaos-Comics von Luis, Bd. 1-3, dtv 2010-2011.
Rüdiger Bertram/ Heribert Schulmeyer (Illu.): Coolman und ich, Bd.1-3, Oetinger 2010-2011.
Frank Schmeiser/ Jörg Mühle (Illu.): Schurken überall!, Ravensburger 2011.