Samstag, 18. Mai 2024

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Aus dem Boden gestampft

Wir wollen nun eine Reise in den Südwesten von Frankreich unternehmen. Unser Reiseziel ist das Provinzstädtchen Rochefort, knapp 35.000 Einwohner, in der Nähe von La Rochelle. Rochefort liegt fast am Atlantik, 15 Kilometer vor der Mündung des Flüsschens Charente. Und der Sonnenkönig Ludwig XIV. ließ Rochefort praktisch auf der grünen Wiese per Dekret aus dem Boden stampfen.

Von Franz Nussbaum | 10.01.2010
    Das heißt, die Häuser und Werftanlagen vor rund 330 Jahren erbaut prägen auch heute die Innenstadt von Rochefort. Ähnlich dem Zentrum von Potsdam oder Mannheim schneiden sich auch in Rochefort alle Straßen im rechten Winkel.

    Und in den alten Trockendocks der Königlichen Werft Ludwigs XIV. wird derzeit ein französisches Segelschiff, eine "Fregatte", nach dem Original von 1780 rekonstruiert. Von diesem aufwendigen Nachbau eines Dreimasters werden wir gleich mehr erfahren. Und auch Giacomo Puccinis Oper "Madame Butterfly" hat ihre literarischen Wurzeln in Rochefort. Und wir treffen auch den preußischen Feldmarschall Blücher. Er fahndet 1815 nach dem flüchtigen französischen Kaiser Napoleon, der sich nach Rochefort abgesetzt hatte (das war nach Napoleons Niederlage bei Waterloo). Also genügend interessanter Stichworte für einen Sonntagsspaziergang. Franz Nussbaum erwartet uns zu seinen Reisenotizen an der Charente.

    Wenn man mit dem Auto auf Rochefort zurollt, dann muss man über eine neue, sehr elegant konstruierte moderne Hochbrücke. Sie erinnert auf hohen Stelzen architektonisch an die Hamburger Köhlbrandbrücke, auch wenn sie hier nur halb so groß ist. Oben, vom Scheitelpunkt dieser Brücke haben wir einen weiten Blick auf die Landschaft, auf das Städtchen Rochefort und auf den Flusslauf. Eine helle südländische, fast mediterrane Heiterkeit, auch in dieser Jahreszeit. Und das Flüsschen Charente macht hier um das Städtchen eine weite Schleife. Und der Frankreichkenner Rolf Kreikenbaum hält in seinen "Reisenotizen" als Zitat fest.

    " In perlmuttfarbiges Licht getaucht mäandert der Fluss, von Pappelbäumen gesäumt, durch das weite Tal der Charente. Bei sonnigem Wetter umhüllt ein bläulicher Dunst die ausgewogenen Konturen der sanften Hügel längs ihres Laufes. Ein durch seine zarten Töne bezauberndes Bild. "

    Ein Bild wie mit Worten gemalt. Ein bisschen erinnern Rochefort und die Charente auch an Papenburg an der Ems, wo Rolf Kreikenbaum herkommt. Wo doch auch in Papenburg die Ems aufgestaut wird, damit Kreuzfahrtgalaschiffe in die Nordsee und dann in die Weltmeere verabschiedet werden. So ähnlich legen vor gut 300 Jahren hier die Drei- und Viermaster auf dieser Charente ihren Weg aus der Königlichen Werft in den Atlantik zurück. Im 17. und 18. Jahrhundert ist Rochefort auch Ausgangshafen für den florierenden Überseehandel nach Nordamerika. Und das in starker Konkurrenz mit Großbritannien. Es war ein richtiger Handelskrieg und auch Machtkampf. Und damit sind wir mitten in der Geschichte und auch schon mitten in diesem Städtchen. Eine Reisebroschüre des ADAC fasst zusammen.

    " Rochefort verdankt seine Bedeutung König Ludwig XIV., der aus dem Dorf an der Charenteschleife den wichtigsten Kriegshafen am Atlantik machte. Um das Arsenal entstand schachbrettartig eine etwas "monoton" wirkende Stadt. "

    Monoton? Es liegt vielleicht daran, dass in Rochefort die Planung einer neuen Stadt vom Reißbrett kommt. Die Hauptstraße, die Rue La Fayette, ist eine 20 Meter breite Paradenstraße. Oder da drüben das gigantische Marinearsenal, die Bauten für die Offiziere oder hohen Beamten. Wo also fast jeder Haustyp gleichförmig aus einem festen Baukasten errichtet wurde. Das erinnert ja auch so ein bisschen an die Innenstadt von Potsdam. Und wir beginnen unseren Rundgang in der Rue Pierre Loti. Pierre Loti war Schriftsteller, Abenteurer, Marineoffizier, Weltenreisender und vor gut 130 Jahren ist er damals das jüngste Mitglied der honorigen "Academie Francaise". Und Lotis Geburtshaus ist heute ein Museum. Elodie Berche:

    " Man hat alle Räume so belassen, wie sie Pierre Loti für sich und seine Reiseerinnerungen aus aller Welt eingerichtet hat. Ich will nur einige Namen der Zimmer erzählen. Die "Moschee", in der wir hier stehen, mit einem Baldachin aus Palmen. Die Moschee erinnerte Pierre Loti an seinen geliebten Orient. Er hat diese Moschee-Einrichtung in Jerusalem gekauft und dann hier hergeschafft. Es gibt noch einen türkischen Salon oder ein arabisches Zimmer, einen "Renaissancesaal". Eine Chinesische Suite. Und noch andere Salons. "

    Räume die mit Kunst- und auch Kitschgegenständen aus aller Welt auch teilweise überfüllt sind. Die Sammlung einer schillernden Persönlichkeit. Rolf Kreikenbaum notiert über Loti:

    " Ein unergründlicher, ein agnostischer Mensch, der sich zu allen großen Religionen hingezogen fühlte. Ein Vorläufer der Umweltschützer, Verteidiger des Alten, war er auch der erste "Hippie" oder der letzte Romantiker. Wer weiß? "

    Es ist an sich auch eine Art "Reisenotiz", die dieser Romantiker oder Hippie, dieser Pierre Loti von einer Fernostreise mitbringt, sein halbautobiografischer Roman "Madame Chrysantheme". Madame Chrysantheme inspiriert Giacomo Puccini zu seiner Oper "Madame Butterfly". Eine tragische Romanze in exotischem, also fernöstlichem Milieu. Eine Geisha verliebt sich in einen westlichen Marineoffizier. Und im alten Theater "La Coupe d'Or", mit einer wunderschön italienisch ausgemalten Theaterkuppel, hier probt das "Ensemble Symphonique Rocca Fortis" an Puccinis Musik.

    Andere Texte von Loti sind auch von Chopin und Debussy vertont worden. Und nun sind wir an die Charente runter gegangen, also an den Fluss und wenden uns der königlichen Werft und den vier Trockendocks zu. Das sind also gemauerte Schiffströge von Ludwig XIV.. Sie liegen gute sechs Meter tief in den Boden eingegraben. Sie sollen heute die ältesten noch funktionierenden Trockendocks der Welt sein.

    Ludwig XIV. kommt damals mit 23 Jahren an die Macht. Neben allen Flausen und Amouren, an denen sich junge Monarchen immer schon gerne abarbeiten, Klammer auf, der König tanzt auch. Er selber und seine Schmeichler halten Ludwig für den besten Ballettsolisten an seinem Hof. Einer seiner neuen Berater ist der Marquis Jean Baptist Colbert, den wir hier auf einem barocken Denkmal in fülliger Figur sehen. Ludwig ernennt Colbert zum Minister der Finanzen für seine immer schwindsüchtige Staatskasse.

    " Und Colbert ist auch Minister der schönen Künste, Minister der königlichen Bauten, Minister der Fabriken und Ministre de la Marine. Und Frankreich sieht sich damals von hochgerüsteten Ländern umzingelt, von Spanien, England, und auch von Habsburg-Deutschland. Und Marineminister Colbert zieht Bilanz und stellt fest: Frankreich hat nur noch 5 alte Kriegsschiffe, hat am Atlantik keine Marinewerften und keinen Kriegshafen. "

    Une Katastrophe. Und noch bevor die Tinte unter dem Dekret von Ludwig XIV. trocken ist, beginnt man hier und auf den umgebenden sumpfigen Wiesen auf Anweisung Colberts ein gigantisches Bauprogramm. Das Terrain muss erst mal trocken gelegt werden. Vier Trockendocks für große Schiffe bauen. Dann Kasernen oder eine 370 Meter lange "Corderie Royal", also eine königliche Seilerei für schwere Schiffstaue. Das alles muss wegen des sumpfigen Grundes auf Eichenstämmen fundieren werden, siehe Venedig oder St. Petersburg. Dazu wird eine neue Stadt aus dem Boden gestampft, für fast 20.000 Einwohner, für Militärs, für Schiffsbauspezialisten. Und für Ludwig XIV. baut man ein kleines, elegantes Schlösschen, ein "Sanssouci" (drüben), falls Ludwig mit seiner Sonne im Gefolge gnädig geruhen von seiner ebenso grandiosen Schlossgroßbaustelle in Versailles (!) seinen dröhnenden Schiffswerften und seinen qualmenden Kanonengießereien, hier am Atlantik mit einem Besuch zu beehren.

    " Ja, man sagt, dass sich Ludwig XIV. an den Kosten für Versailles und gleichzeitig für Rochefort verhoben hat. Colbert war ein Finanzgenie. In seiner linken Hosentasche verwahrt er die Steuereinnahmen. Und in der anderen Tasche hatte er die Extrawünsche seines Monarchen. Und den muss er immer bei Laune halten. Es waren aber auch die Gründe, die 120 Jahre später das Volk zum Sturm auf die Bastille treiben und zum Staatsbankrott führen. "

    Der auf Pump gebaute Staat, hört sich so "aktuell" heute an? Ludwig hat also seine neue größte Atlantikwerft, er hat sie nie besucht. Es sind hier in seinen 4 Trockendocks rund 350 Segelkaravellen im Akkord gebaut worden, bis zum Beginn der Französischen Revolution. Rochefort war also damals keine Idylle, wo ein König auf seinen eigenen Sonnenstrahlen tanzen wollte.

    Und ich darf hier einmal zwischenschalten. Das alles, auch der Bau oder die Rekonstruktion eines neuen Dreimasterkriegsschiffes, all das können wir heute hier in Rochefort sehen und besichtigen. Seit über 12 Jahren baut man hier in einem Trockendock ein für die Franzosen berühmtes Segelschiff, die "Hermione" nach. Diese Hermione wird nun hier aus Eichen- und Buchenholz gezimmert. Fünf Stockwerke hoch. 65 Meter lang, mit einem Tiefgang von 6 Metern. Und der Hauptmast wird 50 Meter hoch werden. Aber was sagen uns schon alle diese Zahlen? Vor 300 Jahren hat man nur ein Jahr an einem solchen Dreimaster gearbeitet, im Akkord. Heute brauchen die Schiffszimmerleute, die Segelmacher, die, die Seile und Taue drehen, die die Kanonen gießen, sie arbeiten nun schon seit 12 Jahren hier am Ort an der Kopie der "Hermione". In zwei Jahren soll sie fertig sein. Und wir lesen über die Originalhermione:

    " Im Jahre 1780 verlässt die Fregatte Hermione den Hafen von Rochefort, um den Marquis de La Fayette und seine Freiwilligen nach Nordamerika zu bringen. Das Segelschiff überquert in 38 Tagen den Atlantik und unterstützt die Aufständischen unter Georg Washington im Befreiungskampf gegen die Truppen Englands. "

    Mittlerweile arbeiten sie hier im Trockendock an der luxuriös geschnittenen Kapitänskajüte auf dem Oberdeck. Heute ist natürlich Sonntagsruhe. Hier wurde also damals das Käptn-Dinner serviert. Und diese "Suite" muss man sich aber auch im sozialen, und ich halte mir die Nase zu, im hygienischen Kontrast zu den beiden Decks darunter denken, auf denen bis zu 600 Marinematrosen (600!) zusammen gepfercht leben. Es geht also hier nicht um ein romantisch-abenteuerliches Segelsetzmanöver a la Gorch Fock auf der Windjammerparade bei der Kieler Woche. Die Hermione war wirklich kein elegantes Fünf-Sterne-Kreuzfahrtschiff, sie war eine gigantische schwimmende Kriegsmaschinerie ihrer Zeit, ein Windjammer, der auch jammernd absaufen konnte.

    Und ein solches Ende einer Seereise zeigt auch die Geschichte eines anderen Schiffes aus der königlichen Werft von Rochefort. Es hat damals die Welt bewegt. Aus den Reisenotizen von Rolf Kreikenbaum.

    " Im Sommer 1816 stach die Fregatte Medusa in Richtung Senegal in See. Auf einer Sandbank vor Mauretanien erlitt die Medusa Schiffbruch. Die Offiziere und einige Privilegierte, darunter der neue französische Gouverneur für den Senegal mit Gefolge, bestiegen die sechs Schaluppen und segelten davon. Sie überließen 149 Männer und eine Frau auf einem Floß ohne Süßwasser und Lebensmittel ihrem Schicksal. 4 Wochen später nahm ein Schiff 15 Überlebende der Medusa an Bord. "

    Ein großformatiges Bild dieser Tragödie, 5 x 7 Meter groß, hängt im Louvre. Eine Kopie hier im Marinemuseum von Rochefort. "Das Floß der Medusa". Es zeigt auf Planken und zusammengebundenen Balken treiben die letzten überlebenden Schiffsbrüchigen, mehr tot als lebendig, apathisch im Meer. Die halb nackten Leiber hat der Maler dramaturgisch zu einer Menschenpyramide geschichtet. Vom Kannibalismus, der später in einer Seegerichtsverhandlung bestätigt wurde, zeichnet der Maler nur in Andeutung die Leichen, die halb im Wasser hängen. Das war 1816.

    Und nur ein Jahr zuvor verbringt der abgedankte Kaiser Napoleon seine vorletzten Tage auf französischem Boden hier in Rochefort, Juli 1815. Wir lesen über Bonaparte:

    " Napoleon war zuerst Konsul, dann Kaiser der Franzosen. Seine Vision der revolutionären Freiheit für Europa erweist sich schließlich als ein trügerisches Versprechen. Als er vor Moskau, bei der Völkerschlacht von Leipzig und in Waterloo nach militärischen Fehlern scheitert, ist Napoleon erst Mitte 40. Eine gebrochene Figur. In Paris deutet ihm das Kammerpräsidium an, dass er endgültig abdanken müsse. Der 73-jährige preußische Marschall Blücher soll ihn mit leichter Kavallerie gefangen nehmen. Und die Engländer setzen eine unermessliche Summe für seine Verhaftung aus. "

    Und was 1815 hier in Rochefort folgt, ist eine hochdramatische Parabel über Machtverlust, über Realitätstrübung und Größenwahn. Es erinnert an die letzten Tage unter der Berliner Reichskanzlei oder Erich Mielkes letztem Auftritt in der DDR-Volkskammer. Aus Literatur, die nicht der Mythenbildung anhängt.

    " Napoleon befielt, noch in Paris, dass zwei Kriegsschiffe im Atlantikhafen von Rochefort zusammengezogen werden. Er liebäugelt mit einer Flucht und einer neuen Aufgabe in Nordamerika. Er erwartet von den Alliierten des Wiener Kongresses Rücksicht zur Wahrung seines Nachruhmes. "

    Napoleon verkennt, dass er längst für "vogelfrei" erklärt ist. Auf dem Weg nach Rochefort soll er hier und da in der Kutsche noch bejubelt worden sein. Dann wirft das personifizierte "Schlachtross", so lese ich, stolz den Kopf in den Nacken. Bleibt der Jubel aus, verfällt er in Agonie. So erfährt er schließlich, dass sein Fluchtweg bei Rochefort über das Meer von einem britischen Kriegsschiff abgeschnitten ist. Und im Rücken hat er den Feldmarschall Blücher.

    " Auf der kleinen Insel Ile d'Aix, die ist hier in der Nähe, besteigt Napoleon dann ein britisches Kriegsschiff, das ihn in der Verbannung nach Sankt Helena transportiert. "