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Aus dem Inneren der Diktatur

Während des Nazi-Regimes verfassten ausländische Diplomaten Tausende Berichte, die über Politik und Gesellschaft in Deutschland von 1933-1945 Aufschluss geben. Korrespondenzen belegen: Die Regierungen der westlichen Welt wussten früh um das Martyrium der jüdischen Bevölkerung.

Von Ursula Storost |
    Am 30. Januar 1933 wendet sich der gerade ernannte Reichskanzler Adolf Hitler mit großem Pathos an die deutsche Nation:

    "Es ist das Wunder unserer Zeit, dass ihr mich gefunden habt unter Millionen Menschen. Und dass ich euch gefunden habe. Das ist Deutschlands Glück."

    Die anwesenden ausländischen Diplomaten hörten solche Reden mit gemischten Gefühlen. In drastischen Worten berichteten sie an ihre Heimatregierungen, was sich da in Deutschland tat. Beispiel: der amerikanische Generalkonsul Messersmith:

    "Als er gefragt wurde, wie er denn den künftigen Kurs NS-Deutschlands einschätze, antwortete er, dass man den nur insofern vorhersagen könne, wie der Leiter einer Irrenanstalt in der Lage sei, das Verhalten seiner Insassen innerhalb der nächsten Stunde zu beurteilen."

    Der Historiker Dr. Frank Bajohr von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg hat zusammen mit seinem Kollegen Dr. Christoph Strupp fünf Jahre lang ein internationales Forschungsprojekt geleitet. Thema: Was berichteten ausländische Diplomaten aus dem nationalsozialistischen Deutschland? Es sind subjektive Einschätzungen aus dem Inneren der Diktatur, sagt der Historiker Christoph Strupp:

    "Was vor allem in den Berichten 1933 und 1934, also unmittelbar nach dem Regimewechsel, ganz stark zum Ausdruck kommt, ist, dass es in der breiten Bevölkerung ein ganz starkes Bedürfnis nach so was wie Ruhe und einer gewissen Dauerhaftigkeit der neuen Strukturen gibt. Also dass nach dieser als chaotisch und unberechenbar empfundenen Endphase der Weimarer Republik jetzt endlich etwas kommt, was irgendwie stabil erscheint."

    In Wahrheit sei das System aber von Chaos und Instabilität geprägt gewesen. Insbesondere die angelsächsischen Botschafter pointierten die Zustände, analysiert Strupp:

    "Man findet Zitate, die in die Richtung gehen, dass also führende Politiker Deutschlands in anderen Ländern in einer Nervenheilanstalt sitzen würden. Dass Politiker direkt aus einem amerikanischen Gangsterfilm hätten entnommen worden sein können als Charaktere.''"

    Umso erstaunlicher ist es, dass nicht früher Sanktionen gegen Hitlerdeutschland ergriffen wurden. Eine politische Entscheidung, kommentiert Frank Bajohr:

    ""Der amerikanische Generalkonsul beispielsweise hatte dafür plädiert, die Olympischen Spiele 1936 zu boykottieren. Er konnte sich mit diesen Positionen aber auch nicht durchsetzen. Also die ausländischen Mächte waren vielfach daran interessiert, doch Hitler und Nazi-Deutschland sozusagen einbinden zu wollen."

    Kopfschüttelnd standen die ausländischen Diplomaten vor dem Führerkult, den die Deutschen betrieben. Der amerikanische Generalkonsul berichtet Ende September 1933 über einen Besuch Hitlers in Berchtesgaden:

    "Er wird von einem Teil der Bevölkerung nahezu vergöttert. Bauernfrauen haben die Erde aufgesammelt und weggetragen, über die der Führer geschritten ist."

    Aber, so Frank Bajohr, die Diplomaten hatten auch eine Vorahnung, dass diese Hitlerbegeisterung irgendwann umschlagen könne:

    "Dass diejenigen, die jetzt Hosianna rufen, danach 'kreuziget ihn' rufen könnten. Diesen Eindruck hätte er gewonnen. Das ist ja genau 1945 dann passiert, wo niemand, der zuvor bei Hitler gejubelt hatte, jemals etwas gemacht haben wollte. Auch eine interessante Prophezeiung."

    Viele der Berichterstatter hatten ebenso düstere wie zutreffende Zukunftsahnungen. Zum Beispiel der französische Botschafter André François-Poncet, sagt Bajohr:

    "Der sehr früh schon einerseits vorhersagte, dass das Regime vermutlich nicht von innen, sondern nur von außen gestürzt werden würde. Und der auch deutlich macht in einem sehr langen Bericht über den Reichsparteitag der NSDAP 1935, dass Hitler leider nicht schnell genug fallen würde, um nicht zuvor noch eine ungeheure Katastrophe anzurichten, die Welt in Brand zu stecken."

    Schon früh erkannten die Diplomaten, dass das NS-Regime vom Militär und den alten Eliten massiv unterstützt werde und deshalb eine gewisse Stabilität habe. Und sie bemerkten am eigenen Leibe, dass es gefährlich war, sich den Nazis zu widersetzen:

    Strupp: "Dass immer wieder amerikanische Staatsbürger, wenn sie auf der Straße bei irgendwelchen Paraden oder Märschen den Hitlergruß nicht mitmachen, dann also angegriffen werden. Das zeigt sozusagen diesen Druck, der eben auch auf den Teilen der Bevölkerung lastete, die nicht vorbehaltlos hinter dem Regime standen."

    Aber auch faschistische Verbündete standen dem Treiben im Deutschen Reich kritisch gegenüber. So berichtet der italienische Konsul über einen Einsatz der SA gegen Juden:

    "Tatsächlich wurde das Haus eines 94 Jahre alten gelähmten Mannes von einer Gruppe der SA in Uniform gestürmt und demoliert. Woraufhin die Polizei nichts weiter tat, als sich zurückzuziehen. Da sich im ersten Stock der Villa, die ich bewohne, eine jüdische Familie befindet, drangen über zwanzig liederliche Burschen, die der SA angehörten, gegen drei Uhr morgens in mein Appartement ein."

    Die Politik des Nationalsozialismus wurde eben auch bei den Verbündeten nicht vorbehaltlos bejubelt, konstatiert Christoph Strupp:

    "Man muss hier auch wieder sehen, es sind interne Berichte, die ein möglichst realistisches und informatives Bild für die Leser in den Außenministerien und die jeweilige Regierung geben sollen. Und das gilt selbstverständlich auch für Mussolini und die italienische Regierung."

    Die fremden Blicke der Diplomaten galten durchaus auch der Verfolgung und Vernichtung der Juden. Frank Bajohr zitiert ein Schreiben des Schweizer Generalkonsuls aus Köln. Der hatte 1942 bei offiziellen Stellen nach dem Verbleib einiger jüdischer Bürger gefragt.

    "Und dort die offiziöse Auskunft erhielt, dass die vermutlich, so schreibt er wörtlich, vergast worden seien. Die waren nach Auschwitz gekommen. Weil keine Nachrichten über ihren weiteren Verbleib in Köln eingetroffen wären. Und das berichtet er ganz offen an die Regierung in Bern, ohne diesen Begriff vergast in irgendeiner Weise zu erläutern."

    Auch andere Korrespondenzen belegen: Die Regierungen der westlichen Welt wussten um das Martyrium der jüdischen Bevölkerung.

    Bajohr: "Allerdings ist man dann sehr irritiert, dass man einerseits einen Massenmord sehr offen thematisiert, aber dass derselbe in der gesamten Berichterstattung dann einen untergeordneten Stellenwert eingenommen hat. Mit der Deportation der Juden aus den deutschen Städten war das Schicksal der Juden auch ein wenig aus ihrem Blickfeld verschwunden."

    Noch befremdender ist, dass sich die ausländischen Diplomaten und Regierungen aufgrund der offensichtlichen Ermordung der Juden nicht dazu entschlossen zu helfen, führt Bajohr aus:

    "Im Gegenteil: Viele Diplomaten warnen vor einer Flüchtlingswelle. Also plädieren noch dafür, die Grenzen dichtzumachen. Und sind selber bei der Erteilung von Visa keineswegs besonders großzügig, sondern insgesamt eher restriktiv."

    Natürlich spielte dabei eine Rolle, dass die Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise überall zu spüren waren. Dass Millionen von Arbeitslosen auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten die Straßen bevölkerten.

    Bajohr: " Und auch die Diplomaten waren sich natürlich darüber im Klaren, dass eine gesteigerte Auswanderung politisch keineswegs besonders populär in den jeweiligen Ländern war."

    In Amerika plädierten Mitte der 30er-Jahre nur etwa acht Prozent der Bevölkerung für eine großzügige Einwanderungspolitik. Mit Blick auf die Gegenwart wagt Frank Bajohr eine Parallele:

    "Wenn eine Regierung sich Wahlen stellen muss und rechtspopulistische Bewegungen damals wie heute auch Stimmung machen gegen Ausländer, gegen eine weitere Einwanderung, dann ist es nicht einfach, so etwas dann durchzusetzen."

    Das Buch "Fremde Blicke auf das Dritte Reich" von Frank Bajohr und Christoph Strupp ist im Wallstein Verlag erschienen und kostet 42 Euro.