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Aus dem Krisengebiet

Rainer Merkel ist eigentlich kein klassischer Jugendbuchautor - doch für sein neues Buch "Bo" hat er drei jugendliche Protagonisten gewählt: Benjamin, Brilliant und Titelfigur Bo begeben sich auf eine Reise durch Afrika, in die Merkel seine eigenen Erfahrungen als Helfer in Krisenregionen einwebt.

Mit Ute Wegmann |
    Ute Wegmann: Ich begrüße den Schriftsteller Rainer Merkel zu einem Gespräch über seine Reisen in Krisengebiete, über seine Arbeit als Psychologe in der einzigen Psychiatrie Liberias, und vor allem über die Last der Erinnerungen.

    Rainer Merkel, geboren in Köln. Sie haben Psychologie und Kunstgeschichte studiert, debütierten im Jahr 2001 mit dem Roman "Das Jahr der Wunder" (Preis der Jürgen Ponto-Stiftung), es folgten zwei weitere Romane, "Das Gefühl am Morgen" und "Lichtjahre entfernt", der Roman war im Jahr 2009 nominiert für den Deutschen Buchpreis.

    Als das geschah, waren Sie bereits in Monrovia, der Hauptstadt Liberias und arbeiteten dort für Cap Anamur als Psychologe. Was hat Sie bewogen, dieses Auslandsjahr in einem Krisengebiet anzutreten?

    Rainer Merkel: Es hing letztendlich mit der Idee zusammen, über den NGO-Bereich zu recherchieren. Der Bereich, wo Hilfsorganisationen arbeiten, oder Menschen sich entscheiden, ins Ausland zu gehen, um zu helfen. Das hat mich damals, als ich noch in Dublin gelebt habe, interessiert, weil ich da Kontakt hatte zu Studenten, die Peace and Conflict Resolution studierten. Und über viele Irrungen und Wirrungen bin ich an den Punkt gekommen, dass ich gedacht habe, ich müsste selbst mal bei einem solchen Projekt mitarbeiten. Schließlich war es möglich über meine Berufsausbildung als Psychologe, denn dieser Bereich hat sich stark professionalisiert im Vergleich zu den 60er- und 70er-Jahren, wo jede helfende Hand gebracht wurde und viele Leute auch mit so einer Abenteuerhaltung irgendwo hingefahren sind, und geholfen haben. Ich musste mich auch mit der Frage auseinandersetzen: Wie lange gehe ich weg? Es gab andere Möglichkeiten, da wäre ich aber zwei, drei Jahre weg gewesen. Wie auch immer, Cap Anamur hat zu der Zeit ein psychiatrisches Krankenhaus in Liberia betrieben, und es ergab sich die Möglichkeit, dass ich als Psychologe in diesem Krankenhaus arbeite. Dann habe ich mich auch entschieden, ein ganzes Jahr zu bleiben.

    Wegmann: Sie gingen dann später in den Kosovo, 2011 erneut nach Liberia und schließlich nach Afghanistan. Alles im Zusammenhang mit der Recherche zu den Hilfsorganisationen?

    Merkel: Das kann man sich jetzt nicht so kontinuierlich vorstellen. Im Bezug auf den Kosovo war ursprünglich ein Projekt angedacht, einen Roman zu schreiben über die Region im weitesten Sinne. Da gab es viele Ideen, aber die Kosovoreise selber hat mir dann gezeigt, dass ich diesen Roman gar nicht schreiben will oder kann. Ich habe im Kosovo dann noch mal zum Bereich Mental Health recherchiert, aus Interesse. Erst im Nachhinein kam die Idee auf, dass ich darüber etwas schreiben könnte und erst daraus ist die Idee entstanden, ein Buch zu machen.

    Wegmann: Das Buch ist auf dem Markt. Sie dokumentieren diese Reisen sehr persönlich in dem essayistischen Reportageband "Das Unglück der anderen". Untertitel: "Kosovo, Liberia, Afghanistan" aus dem Jahr 2012. Da heißt es zu Beginn:

    "Zwei Jahre habe ich gebraucht, bis ich mich von Liberia erholt habe." (S.25).

    Was bedeutet das genau?

    Merkel: Das Buch ist in vielerlei Hinsicht auch eine Auseinandersetzung mit dem Jahr, obwohl ich über die Arbeit gar nicht so viel schreibe. Es sind ja vor allem Reportagen auf einer Oberflächenebene. Und unterhalb dieser Ebene gibt es eine ganze Reihe Themen, die bei meinen Reisen - jetzt nicht gegen meinen Willen - aber dennoch hochgekommen sind. Also, so einfach ist das nicht. So einfach habe ich dieses Jahr nicht weggesteckt.

    Deshalb ist das Buch auch so lang geworden. Denn über die journalistische Tätigkeit kamen ganz viele persönliche Fragestellungen auf, die ich auch transparent machen wollte. Ich dachte, es ist interessant, diesen Prozess offen zu legen. Denn es hat sich schon gezeigt, dass die Rückkehr unglaublich schwierig ist. Es gibt ja auch eine Passage in dem Buch, wo ich meine Nachfolgerin in Liberia in Amsterdam treffe, das hat mich sehr beeindruckt, wie sie erzählt hat, dass sie sich nach ihrer Rückkehr mit Gewalt in ihr altes Leben reinhämmern müsse. Sie hat genau den Ausdruck so benutzt: Reinhämmern in den Platz, den sie zu Hause innehatte, denn der ist viel kleiner und beengter und der ist halt nicht so großartig und so glanzvoll und so rauschhaft wie die Arbeit in einem Krisengebiet. So belastend und bedrohlich die Situation dort auch sein kann, so sehr man auch mit dem Elend der Menschen zu tun hat, so ist die Arbeit an sich doch von einer Intensität und man hat so einen großen Gestaltungsspielraum, dass man seine Möglichkeiten ausreizt, sein ganzes Potenzial ausschöpft, was man bei den Jobs, die man in Deutschland macht, oft gar nicht kann.

    Wegmann: Sie haben in dem Zusammenhang einen interessanten Satz geschrieben:

    Die "Möglichkeit des Scheiterns, die Möglichkeit der Niederlage ist nicht bedrohlich", heißt es auf Seite 342.

    Warum nicht? Ist die Welt, in der man da arbeitet, so weit entfernt von der eigenen Wirklichkeit, kann man es fast vergleichen mit einer virtuellen Parallelwelt, in der man dort agiert?

    Merkel: Das wäre jetzt zynisch, das so zu sagen. Also, ein realeres Land als Liberia kann man sich gar nicht vorstellen. Afrika und die Herausforderungen, mit denen die Menschen es dort zu tun haben, das ist an Realität nicht mehr zu überbieten. Nur wenn ich als deutscher Psychologe oder diese Freundin als Psychiatriekrankenschwester dort hinkommen, dann ist die eigene Erfahrung tatsächlich sehr eigentümlich. Es verzerrt sich etwas, es verschiebt sich etwas. Es wird einem auch eine Aufgabe zugeschrieben, es werden Erwartungen auf einen projiziert, die mit der eigenen professionellen Lebensrealität nichts zu tun haben.

    Wegmann: Das meinte ich.

    Merkel: Man ist auch ungeheuer privilegiert, dass man da arbeiten kann. Ich war auch fast einer der einzigen Psychologen. Also wie absurd ist das eigentlich, dass ich - der in Deutschland nicht so viel Berufserfahrung hat, da mitarbeitet. Im Grunde zeigt das schon, wie irreal das ist. Das trifft auch auf alle anderen NGO-Mitarbeiter in Abgrenzung zu. Wie sie mit ihren eigenen Fähigkeiten dort umgehen, wie sie gefordert sind, das macht großen Spaß und mit Abstand erscheint es einem schon auch ungeheuerlich. Und zum Aspekt des Scheiterns: Mir persönlich ist es so gegangen, dass ich es viel belastender und bedrohlicher empfinde, ein Buch schreiben zu müssen. Auch durch diesen Prozess, nicht zu wissen, ob ich das schaffen werde und während des Prozesses auch mit erheblichen Problemen, auch psychischer Art, zu tun habe. Bei meiner Tätigkeit in Liberia habe ich wirklich alles getan, dass es diesem Krankenhaus und den Mitarbeitern gut ging, habe mich da aufgerieben ... ich habe mich aber immer auf viel sichererem Boden gefühlt, als als Autor. Die Tätigkeit des Schriftstellers ist viel prekärer als die Tätigkeit eines NGO-Mitarbeiters. Das mag sich jetzt absurd anhören. Ich sitze hier in gut temperierten Räumen an einem Schreibtisch und schreibe ein bisschen vor mich hin. In Liberia in dem Krankenhaus zuarbeiten, war physisch anstrengender, aber psychisch war das eine ganz andere Hausnummer für mich, weil ich in diesem Projekt drin war, und das Projekt existierte ja, es gab die Wirklichkeit des Krankenhauses. Das gibt einem viel mehr Sicherheitsgefühle. Das Scheitern ist oft natürlich. Und natürlich funktioniert ganz viel nicht. Man muss mit dem Dysfunktionalen, mit dem Scheitern dort ganz anders umgehen, als in Deutschland.

    Wegmann: Erinnerungen, das ist das große Thema in allen Büchern.

    Im Jahr der Wunder erinnert sich die Erzählerfigur, ein Medizinstudent, der durch einen alten Freund in eine Werbeagentur gerät, immer wieder an die gemeinsame Zeit als Zivildienstleistende. Eine Zeit, die für eine andere Art der Beziehung zwischen den beiden Männern steht.

    In "Lichtjahre entfernt" begegnen wir dem Erzähler beim Koffer packen, aber trotz naher Abreise aus New York scheint er durch die Erinnerungen an die Geliebte in eine Zeitschleife zu geraten.

    Ihre eigenen Erinnerungen spielen eine Rolle: Im Kosovo erinnern sie sich an Liberia und während der folgenden Reisen an den Vater und seine Kriegsverletzungen, nach denen Sie ihn nie fragten.

    In "Bo" sind es vor allem Benjamins Erinnerungsbilder an Mobbingszenen. Menschen in ehemaligen Kriegsgebieten, so denkt man, erinnern sich an Gräueltaten, an die psychischen Beschädigungen, die sie erfahren haben. Also der Begriff Traumata taucht auf.

    Merkel: Das Thema Trauma ist ja auch problematisch, es ist so eine Art Modediagnose derjenigen, die in den Krisengebieten arbeiten. Die posttraumatische Belastungsstörung eignet sich ganz gut als Krankheitsbild, wo man sagen kann, da schicken wir mal ein paar Psychologen hin. Das finde ich sehr fragwürdig. Man könnte ja auch sagen, das habe ich im Kosovo und im Libanon so erlebt, die Gesellschaften, die Bürgerkriege erlebt haben, vor allem über einen längeren Zeitraum, haben erst mal das Bedürfnis, das zu verdrängen. Und das mag auch eine gesunde psychische Reaktion sein, in diesen Verdrängungsmodus zu gehen und sich völlig neu zu erfinden und aufzubauen. Was aber nicht heißt, dass es nicht auch Menschen gibt, die von einem Zusammenbruch bedroht sind, und die Hilfe benötigen. Aber in einer Weise wie die internationale Gemeinschaft, die Medien und aber auch die NGOs damit umgehen, da wird so etwas erzeugt, wie: Ah, die Traumatisierten, da müssen wir hin, denen helfen, und das reduziert die Menschen ja wieder auf einen Opferstatus. Die Idee, alle Menschen im Kosovo, im Libanon und in Liberia seien nach den Bürgerkriegen alle traumatisiert, das ist ja Quatsch. Das ist ja nicht der Fall.

    Wegmann: Ich kam natürlich auf meine Frage, weil ich bei ihnen gelesen habe:

    "Wenn hier jemand traumatisiert ist oder kurz davor steht, traumatisiert zu werden, dann sind es die Internationalen. Dann sind es die, die gekommen sind, um zu helfen." (S. 70)

    Selber haben sie ja sehr ehrlich und selbstreflexiv zugegeben, dass Sie beim zweiten Liberiabesuch Ihre Sehnsüchte, Ängste, Erwartungen wieder mit nach Hause genommen haben.

    Das klingt ein wenig wie Hilfe zur Selbsthilfe, dass man dort hingeht. Wie zeigt sich denn diese Problematik vor Ort?

    Merkel: Das habe ich schon vorher bei Recherchen durch Gespräche mit Psychologen, die in dem Bereich arbeiten, erfahren, da ist ein Punkt, dass man sagen kann, dass für den ein oder anderen, der in diesen Bereichen arbeitet, die innere Unruhe, das innere Chaos - bei Menschen, die diese Ambition haben: Ich muss andere Kulturen kennenlernen, ich muss hier raus, ich muss die Welt erforschen, was manchmal einhergehen kann mit einem inneren psychischen Chaos - da findet man im Krisengebiet eine Entsprechung außerhalb seiner selbst. Das Chaos außerhalb, in dem Land, in dem man ist, bildet das ab, spiegelt das, und man könnte jetzt sagen, bietet dann die Möglichkeit, damit umzugehen.

    Wegmann: Sprechen wir über Ihren neuen Roman, "Bo", im März auf denBesten 7, der monatlichen Bestenliste des Deutschlandfunks. Während im Reportageband Politik und persönliche Erfahrungen und Beobachtungen stark miteinander verwoben sind, handelt es sich hier um eine fiktive Geschichte, eine Begegnung mit einer fremden Kultur, einem Kontinent, wo die Uhren anders ticken als in Europa. Man spürt beim Lesen die Hitze der liberianischen Sonne, vor der man in den Schatten flüchtet, man spürt den Wind im Gesicht auf dem Rücksitz eines Motorradtaxis, man fühlt sich durchgerüttelt von den Schlaglöchern der kaputten Straßen.

    "Bo" erscheint wie eine Liebeserklärung an eine ferne, geheimnisvolle Geliebte.

    Merkel: Ja, mein Gott, vielleicht ist es das auch. Ich habe mich in dem Reportageband schon mit Liberia auseinandergesetzt und hatte aber vorher schon ein Teil des Romans geschrieben. Mir ist es so erschienen, als ob sich die Bücher über Kreuz gelegt hätten, das eine aus dem anderen herausgewachsen ist. Ich habe den Eindruck, dass alles was emotional ist, was sich der Analyse entzieht, in dem Buch vorkommt. Ich habe sehr viel nachgedacht, was ich mit dem Buch mache. Aber der Erzählimpuls, was mit den Figuren passiert, wie die überhaupt entstanden sind, das hat viel mit dem Versuch zu tun, diese Welt noch mal auferstehen zu lassen, und zwar aus einer Perspektive - ohne sie zu idealisieren - wie sie nämlich auch ist: in ihrer Normalität, nämlich auch schön und geheimnisvoll und großartig. Mir war es auch wichtig, Afrikaklischees zu vermeiden.

    Wegmann: Kurz zum Inhalt. Sie werfen einen Ihrer Protagonisten, den 13-jährigen Benjamin, in das Abenteuer, alleine, fremd, am Flughafen von Monrovia zu stehen und nicht vom Vater abgeholt zu werden. Er bleibt nicht lange allein: Sogleich tauchen Menschen auf, wohlwollende, uneinschätzbare, berechnende.

    Der Berliner Junge wird später zusammen mit den beiden anderen Jugendlichen, der afroamerikanischen Brilliant, die in L. A. lebt, und dem blinden einheimischen Bo abenteuerliche Situationen erleben, bis er nach Hause zurückkehrt. Eine sehr geraffte Inhaltsangabe für einen 700 Seiten Roman.

    Kinder oder Jugendliche tauchen in Ihren anderen Geschichte und in den Reportagen nicht auf.

    Warum haben Sie drei jugendliche Protagonisten gewählt?

    Merkel: Das geht darauf zurück, dass ich in Liberia, während meiner Tätigkeit, eine Familie kennengelernt habe und ins Besondere auch einen blinden liberianischen Jungen, der hat mich fasziniert, den fand ich toll, weil er eine ungeheuere Souveränität hatte, genau wie die Figur Bo. In keiner Weise denkt man, dass er unter seiner Blindheit leidet. Wobei ich auch in Deutschland schon Menschen kennengelernt habe, die blind sind und damit ganz anders umgehen, als wir denken. Ich kannte mal einen, der ging immer ins Kino und sagte, er müsse sich mal wieder einen Film ansehen. Nun ist Blindsein in Afrika noch mal etwas schwieriger. Später wollte ich nur eine kleinere Geschichte über den blinden Jungen schreiben. Aber dann habe ich die Idee gehabt, dass ich noch einen anderen Jungen brauche, vielleicht einen Deutschen, der dahin kommt. Dieser Blick von außen hat das Buch total verändert. Dadurch ist dann auch Brilliant, die Afroamerikanerin im Schreibprozess auftaucht, und hat immer mehr Bedeutung gewonnen. Darüber hat sich das Buch strukturiert, über die Möglichkeit von draußen auf Liberia zu schauen.

    Wegmann: Stehen die drei Jugendlichen für die Menschengruppen, die in Liberia vertreten sind? Der Ur-Liberianer Bo, die amerika-liberianische, emigrierte reiche Brilliant, der kurz verweilende, helfende Europäer Benjamin?

    Merkel: Genau. Benjamin, der deutsche Junge, der seinen Vater besuchen will, der bei der GTZ arbeitet, der steht für die NGO-Erfahrung. Er erlebt ja selber, was es heißt helfen zu wollen, und er erlebt diese ganzen Probleme und an ihm kann man auch durchspielen, wie schwierig das ist, zu helfen, was da auch alles schief gehen kann, was man sich da anmaßt, und dass man auch Schuld auf sich lädt. Die Frage der Schuld war auch noch mal eine interessante Überlegung für mich, Schuld, obwohl man nur Gutes gewollt hat.

    Brilliant steht für die Ameriko-Liberianer, die das Land bis 1980 beherrscht haben, als Elite, die True Whig Party, die den Präsidenten gestellt hat und erst danach und im Zuge des Bürgerkrieges hat sich das verändert, aber bis heute sind die Ameriko-Liberianer, also die Nachkommen der befreiten Sklaven, die das Land gegründet haben, schon noch sehr mächtig und einflussreich. Viele reiche Familien haben ihr Geld in Amerika oder die Hälfte ihrer Familien in Amerika. Viel Geld geht auch nach Amerika. Das ist auch für das Land schwierig, dass die Eliten immer noch ihre Netzwerke in Amerika haben, das schadet dem Land.

    Die Erfahrung eines jungen Mädchens, die noch nie im Geburtsland ihrer Eltern war, das war für mich ein interessanter Aspekt.

    Bo mit seiner Patchworkfamilie steht dennoch für die Menschen, die schon immer dort gelebt haben. Die haben keine ameriko-liberianischen Netzwerke zur Verfügung.

    Wegmann: Sie erzählen die Geschichte, die sich vordergründig zu einer Suche nach einer entflohenen Psychiatriepatientin entwickelt, aus verschiedenen Perspektiven, - auch aus Erwachsenensicht, mit Rückblicken, mit Erinnerungen, verschachtelt, immer wieder Andeutungen, Verweise auf Dinge, die passieren könnten oder passiert sind. Sie gehen sogar soweit, glaubwürdig Behauptetes später als Lüge zu entlarven.

    Das ist spannend, dramaturgisch äußert geschickt, das hält den Leser über die lange Strecke der fast 700 Seiten.

    Was ist Wahrheit, was ist Lüge - Schein und Sein, - das scheint Ihnen ein wichtiges Motiv in der Geschichte zu sein.

    Merkel: Vielleicht war das für mich wichtig, weil ich in dem Roman noch mal meine eigenen Erfahrungen reflektiert habe, wenn auch mit ganz anderen Methoden als in dem Essayband und auch auf eine unbewusste Weise. Es gibt ja in "Bo" eine Mitarbeiterin der NGO, mit der Benjamin es zu tun hat, die ihn aufnimmt in das Krankenhaus, weil der Vater nicht auftaucht. Und dort kehre ich auch noch mal in die Psychiatrie zurück. Das war für mich sehr faszinierend, den 13-jährigen Jungen in dieses Krankenhaus zu schicken, wo ich ein Jahr lang gearbeitet habe. Eine enorm interessante Erfahrung. Da ist ja das Schöne bei Romanen und an Fiktion, dass man dem Unbewussten so viel Raum geben kann und schauen kann, was macht die Figur jetzt eigentlich. Das war spannend.

    Benjamin findet dann in dem Schlafzimmer, wo er übernachtet, ein Tagebuch eines Mitarbeiters, der nach Hause zurückgekehrt ist, der sich offensichtlich auch irgendwelche Fehler erlaubt hat, und das, was in dem Tagbuch steht, das strukturiert ganz entscheidend das Buch. Über das Tagebuch beginnt die Suche nach der jungen Frau, die im Krankenhaus war und geflohen ist, und der der Mitarbeiter sehr nahe stand. Und da gibt es sehr viele Brechungen und Spiegelungen, wo sich Benjamin mit dem Mann auseinandersetzt, der eine Parallelfigur zu seinem Vater ist, der ja auch dieses NGO-Leben führt. Und da geht es auch um Benjamins persönliche Krise und die Familiensituation. Das spiegelt sich in der Suche.

    Was steht in dem Tagebuch, was stimmt davon ... Das Tagebuch ist ja auch die Quelle, sozusagen detektivisches Material, um diese Patientin zu finden.

    Wegmann: Der Schriftsteller Rainer Merkel ist heute Gast im Büchermarkt.

    Interessanterweise entpuppt sich aus Bos Sicht ausgerechnet der "Außerirdische", so Benjamins Spitzname, als jemand, der zögerlich ist, hilflos und unsicher.

    Ein Grund für Benjamins Zögerlichkeit ist seine innere Stimme, auf die er mal hört, mal nicht. So gibt es die Erinnerungen an E, ein Mitschüler, der ihn gedemütigt hat. Aber schlimmer als die Demütigungen waren die Mitleidsblicke der anderen. Ist E ein Symbol und steht für Erniedrigung? Einsamkeit? Und hat es E überhaupt gegeben?

    Merkel: E steht dafür, dass Benjamin dem Peiniger keinen Namen geben will. Das wird dann auch aufgelöst, warum er das nicht macht, es ist ein bisschen magisches Denken. Durch den kindlichen Konflikt funktioniert das Erzählen aus der Perspektive der Jugendlichen und - das hört sich jetzt bombastisch an, aber in dem kindlichen Blick da vollzieht sich eine Art Selbstdekolonialisierung: Ich gehe mit kindlichem Blick nach Afrika und bin dort mit all meinen Unsicherheiten, geschwächt, und nicht als NGO, der alles reflektiert und alles im Griff hat. Ich habe das nicht so konzipiert, aber für mich war es wichtig, dass es für Benjamin in Deutschland noch eine Bedrohung gibt, dass er dort gequält wird, dass er dort Opfer ist. Und plötzlich in Liberia wird er zum Helden, zum Anführer einer Gruppe, das fand ich schön, die Dynamik in der Figur zu erzählen.

    Wegmann: Ihnen ist mit diesem Roman etwas Wunderbares gelungen, nämlich, dass man während des Lesens in die Geschichte hineinfällt und das Gefühl für die erzählte Zeit verliert. Tag, Nacht, Morgen, Mittag, all das spielt keine Rolle, die Dinge entwickeln sich, wie sie sich entwickeln müssen, in ihrem ganz ureigenen Tempo.

    So stell ich mir Afrika vor.

    Merkel: Ja, das ist natürlich auch ein Klischee. Aber es ist ja nicht umsonst ein Klischee, denn das Faszinierende der Menschen dort ist, dass sie einen etwas anderen Zeitbegriff haben, und dass sie nicht so strategisch planerisch sind, dass sie nicht jede Handlung auf ihre Effektivität prüfen, nicht jede Handlung im Kontext einer Gesamtstrategie hinterfragen. Sie sind impulsiver, sie leben mehr im Jetzt. Das findet man faszinierend, wenn man als Europäer in Afrika ist und was aber nicht heißt, und das war mir an der Figur von Bo wichtig, dass sie nicht doch strategisch handeln. Sie haben eine andere Art von strategischem Denken. Sie sind nicht nur so lustige, fröhliche Menschen, die in den Tag hineinleben, mit ihrer Sinnlichkeit herumtanzen und alles toll finden. Sie haben ein anderes inneres System und sie faszinieren auch, weil sie weniger die Mitmenschen bewerten und ihnen auch mehr Raum geben. Aber vielleicht empfindet man das auch nur als Europäer so. Das ist natürlich auch die kulturelle Lücke, der Abstand zwischen den Kulturen, wo man sich dann freier und anders fühlt. Bo ist für mich am Ende eine Figur, die ich selber nicht mehr durchschaue, ich habe den Jungen in Liberia auch nicht durchschaut, der entwickelt fast etwas Manipulatives und man fragt sich am Ende: Hab ich da was nicht mitbekommen? Hat der das nicht selbst alles mehr im Griff, als man denkt?

    Wegmann: Der Roman endet ja durchaus positiv. Benjamin bei der Abreise steht am Beginn einer Reise, so heißt es und bedeutet, er wird in Europa nicht so weitermachen, wie er aufgehört hat.

    Einige Andeutungen, die Brilliant und Bo betreffen, lassen Sie offen. Das gefällt mir, ich hatte den Eindruck, dass Sie uns damit aus Standardisierungen herausholen möchten, uns zeigen wollen, dass nicht alles erklärt werden muss.

    Unsere Sendung geht zu Ende. Herzlichen Dank an den Schriftsteller Rainer Merkel, heute Gast im Büchermarkt.

    Wir sprachen über seine Romane:

    Das Unglück der anderen. Kosovo. Liberia, Afghanistan, 478 Seiten, 22,99 Euro

    Bo, 687 Seiten, 22,99 Euro

    Weitere Romane sind:

    Das Jahr der Wunder, 283 Seiten, 9,90 Euro

    Das Gefühl am Morgen, 157 Seiten, 8,95 Euro

    Lichtjahre entfernt, 203 Seiten, 18,95 Euro

    Alle Bücher sind im Fischer Verlag erschienen.