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Aus dem Milieu der Migranten in Neukölln

"Wunderland" ist ein gelungenes Debüt. Es ist gut lesbar, unterhaltsam, verführt außerdem zum Nachdenken, über jene unsichtbare Gesellschaft in unserer Mitte, die aus lauter Deutschen besteht. Solange wir in ihnen die Fremden sehen, werden sie auch fremd bleiben. Das ist die Botschaft dieses Romans.

Tanya Lieske spricht mit Autorin Sophie Albers | 06.07.2011
    Hanna ist Mitte 30, geschieden, single und mit einem schicken Beruf in Berlin unterwegs. Sie ist Journalistin und berichtet aus dem Milieu der Migranten in Neukölln, also aus jenem Bezirk der Hauptstadt, der es zu einer gewissen, traurigen Berühmtheit gebracht hat. Auch Sophie Albers, die Autorin dieses interessanten Debütromans "Wunderland", ist Journalistin und hat in gleicher Funktion schon in Berlin recherchiert.

    "Ich lebe seit zehn Jahren in Berlin und durch meine Arbeit als Journalistin habe ich verschiedene Milieus kennengelernt. 2006 war die Sache mit der Rütli-Schule, und das war für mich der Anstoß, darüber nachzudenken, um welche Menschen geht es eigentlich? Einer der Gründe, warum ich Journalistin geworden bin, ist meine Freude an diesen Geschichten und die Erkenntnis, dass jeder Mensch eine Geschichte ist, schlussendlich – und das waren dann eben die Geschichten aus Neukölln."

    Sophie Albers schildert eine Parallelwelt. Mitten unter uns leben Menschen, die noch nie etwas anderes gesehen haben als ihre deutsche Stadt, ihren Kiez. Trotzdem begreifen sie sich als Ausländer, als Araber im vorliegenden Fall. Der Roman, geschrieben aus der Sicht der jungen Journalistin, geht diesem Paradoxon nach. Die Widersprüche entwickeln sich im Dialog. Am Anfang stellt Hanna, die Journalistin, vor allem Fragen, zum Beispiel:

    "Wie nennt man jemanden, der in Deutschland geboren und von einer deutschen Mutter großgezogen wurde, der einen deutschen Pass hat, aber wie ein Araber angeguckt wird, weil er wie ein Araber aussieht?
    Und, wie nennt er sich selbst?"


    "Wirklich verblüffend war, wie perfekt es sie gibt: Die völlig andere Welt um die Ecke. Mein Weg, den ich jeden Tag gehe, den ich gehen kann, ohne mitzubekommen, dass es diese Welt gibt. Wo glaube ich auch ein guter Schuss Intoleranz und Indifferenz dazugehört, den wir uns alle antrainiert haben, der eben da ist. Und den ich dann versucht habe, ganz bewusst abzulegen."

    Der Roman ist als Selbstgespräch der Hauptfigur Hanna konstruiert, die immer tiefer eintaucht in jene Parallelwelt, die sie "Wunderland" nennt. Wir erfahren alles aus erster Hand, ihre zunehmende Faszination mit archaischen Männerbündnissen, Irritationen, Zweifel, ein Anflug von Unterwerfungslust inspiriert von einer Kultur, in der Frauen zwar nichts zu melden haben, dafür aber beschützt werden. Hanna verbringt immer mehr Zeit mit Tamer, einem jungen Mann, 25 Jahre alt, der sie einweiht in diese Kultur, in der alles seinen Platz hat. Es sind gerade die vermeintlichen Sicherheiten, die Hanna verunsichern. Hier ein Gespräch mit Tamer über Freundschaft:

    "Tamer, was bedeutet dir Freundschaft?" Frage ich, als wir mal wieder allein im Auto sitzen.
    "Wie meinste das?"
    "Sie scheint schneller zu zerbrechen, als sie entsteht."
    "Das ist doch immer so bei schönen Sachen, oder?"
    Zwischen Hamza und dir, das ist schon was Besonders. Ich habe so was vorher noch nicht gesehen. Das ist so bedingungslos."
    "Versteh ich nicht!"
    "Ich kenne niemanden, der sagen würde: Ich würde mir die Hand für dich abhacken lassen."
    "Und warum kennst du solche Leute nicht? Was kennst'n du für Leute?"
    Ich denke: Leute, die zuerst an sich selbst denken.
    Ich sage: ich habe meine Freunde noch nicht gefragt, ob sie sich für mich eine Hand abhacken würden."
    "Musst du ja auch nicht fragen. Normalerweise ist so was klar! Bei uns."


    Wenn aus einer Reportage gute Literatur werden soll, dann braucht es einen Prozess der Verdichtung. Sophie Albers ist das auf mehreren Ebenen gelungen. Ihre Dialoge sind dem Milieu abgelauscht, die Sätze der beiden jungen Männer Tamer und Hamza fangen meist an mit "Alter" oder "Bin ich schwul oder was?" Zugleich sind es Dialoge mit Kunstcharakter, denn das Eigentliche bleibt meist ungesagt. Im Kern geht es nämlich um Identitäten und um das, was uns als Menschen ausmacht. Auch die Erzählpassagen lassen viel offen, leben von Andeutungen. Hanna zeigt sich zunehmend verunsichert in ihrem Erzählanliegen: Will sie wirklich noch die Reportage über Migranten der zweiten Generation schreiben oder doch ihr eigenes Leben erforschen? Sie bemüht sich um Distanz, um eine Haltung, die auf Vorurteile verzichtet, und die es Tamer erst möglich macht, sich zu öffnen.

    "Xenophobe Reflexe haben wir glaube ich alle – und mir ist das mal aufgefallen ... dass ich tatsächlich auf dem Flughafen, wenn da verschleierte Frauen oder dunkel anmutende bärtige Männer an mir vorbei gegangen sind, dass ich denke oops! - Und dann habe ich im Flieger gesessen, es war von San Francisco, du dann saß ich neben einer Syrerin und habe mit ihr wunderbar geredet, und darum geht es mir ja auch immer, hingucken, reden. Fremdenfeindlichkeit ist ja nur möglich, wenn ich den anderen nicht kenne."

    Mit einer solchen unvoreingenommenen Haltung kann Naivität einhergehen, das gilt für das Leben genau so wie für die Literatur. Sophie Albers ist sich dessen bewusst. Sie hat ihrer Hanna einen Schuss Gutgläubigkeit mit auf den Weg gegeben. Hanna verliert sich gerne in Illusionen darüber, dass Tamer ein guter, sogar der bessere Mensch sei. Sie träumt vom Edlen Wilden. Tatsächlich aber bewegen Tamer und sein Freund Hamza sich in einer Gesellschaft, die nicht nur parallel ist, sondern eben auch kriminell. Dieser Widerspruch zwischen Hannas Illusion und Wirklichkeit ist ein gelungenes Korrektiv, die Autorin beugt damit dem Verdacht der Sozialromantik vor.
    Überhaupt lebt dieser Roman von seinen Polaritäten: Frau trifft auf Mann, Bildung auf Unterschicht. Darüber hinaus ist Hanna Jüdin, Tamer und Hamza sind Moslems. Das könnte leicht zu viel werden, doch gelingt es Sophie Albers immer wieder, ihre hohen Thementürme aufzulösen in kurzen, fast schon aphoristischen Betrachtungen.

    "Ich fand die Fallhöhe spannend. Weil es natürlich auch in Deutschland noch eine ganz andere Frage der Identität ist. Dadurch kennt Hanna ja das Gefühl der Fremde. Aber der Fremde von innen. Bei Tamer ist es die Fremde von außen, die ihm zugetragene Fremde, und bei ihr ist es die Fremde von innen."

    "Wunderland" ist ein gelungenes Debüt. Es ist gut lesbar, unterhaltsam, verführt außerdem zum Nachdenken, über jene unsichtbare Gesellschaft in unserer Mitte, die aus lauter Deutschen besteht. Solange wir in ihnen die Fremden sehen, werden sie auch fremd bleiben. Das ist die Botschaft dieses Romans.

    Sophie Albers: "Wunderland". Knaus Verlag.