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"Aus dem Moment geschöpft"

Berlin ist ein El Dorado geworden für junge Glücksritter auf der Suche nach dem spezifischen Gefühl von Freiheit und Party. Der Dokumentarfilm "Berlinized - Sexy an Eis" von Lucian Busse wirft einen Blick zurück auf die wilde Szene des Berlins der 90er-Jahre.

Von Florian Fricke | 20.04.2012
    "In die Ruine rein in den Keller, hinten wieder hoch durch den Garten über die Mauer, da durchs Fenster steigen, und da ist dann 'ne Bar. So was gibt's jetzt halt nicht mehr so."

    Die Fotografin Simone Gilges schildert, wie man in den 90er-Jahren eine Hinterhof-Bar in Berlin Mitte finden musste. Ein Zirkel glücklicher Eingeweihter kannte diese Bars, die nur einmal in der Woche öffneten. Sie konnten sich sogar in Wohnungen befinden. Man traf sich in schillernden Clubs wie dem "Eimer", dem "Club for Junk", der "Sniper Bar" oder im "St. Kilda Trips Drill". Orte, die von der Improvisation lebten, die in einer Zwischenzeit gefangen schienen. Hier konnte alles passieren.

    Für ein kurzes Zeitfenster von ungefähr zehn Jahren war Berlin eine unglaublich aufregende Stadt. Nach der Wende hatten viele Bewohner und Betriebe den Ostberliner Bezirken den Rücken gekehrt. Sie hinterließen eine Menge Leerstand mit ungeklärten Besitzverhältnissen. Das rief Künstler, Hipster und Bohemiens auf den Plan, die sich die Räume eroberten und nutzten. Einer von ihnen war Lucian Busse, der Regisseur von "Berlinized – Sexy an Eis", den es 1987 nach Kreuzberg verschlagen hatte.

    "Es war schon damals in Westberlin sehr eingesessen. Wir wussten, wie weit wir gehen konnten, was zu tun ist, und das war so ein bisschen cool inzwischen. Und cool war im Osten gar nichts mehr. Man hat aus dem Moment geschöpft und Dinge getan, die einem gerade eingefallen sind. Das führte wieder zu einem Ausleben der Kreativität ohne Zweck. Und das ist eigentlich der Urzustand, den man erreichen sollte als kreativer Mensch."

    Lucian Busse war immer dabei und hielt mit seiner Kamera drauf, denn er brauchte Stoff für seine eigene Videoshow "Alien TV". So wurden die schrägsten Events verewigt wie eine sehr exaltierte Modenshow mit selbst genähten Kostümen. Konzerte auf Hausdächern. Expressives Schattentheater, das mit einfachsten Mitteln auf Brandmauern geworfen wird. Ein Künstlerkollektiv, das sich mit alberner Maskerade und Spielzeuglaserpistolen durch die Straßen treiben lässt. Viele lebten einfach ihren Traum aus: das Zusammengehen von Leben und Kunst.

    ""Das hat so jetzt keiner formuliert, aber so war's ja. Also wir hatten natürlich die Gelegenheit, wir konnten so leben, weil es Räume gab und Geld nicht eine große Rolle gespielt hat, die Mieten sind billig gewesen, und keiner hat sich gekümmert um Erlaubnis für seine Kreativität, sondern man hat es halt ausgelebt."

    Die vielen Stunden Videomaterial von Lucian Busse wurden zum Steinbruch für "Berlinized". Zusätzlich hat er die Protagonisten von damals noch einmal für rückblickende Interviews besucht, wie zum Beispiel Vredeber Albrecht, einer der Betreiber der legendären "galerie berlintokyo" nahe den Hackeschen Höfen.

    "Wir haben Sexy an Eis angeboten, das gab es nur bei uns und gibt es seitdem auch nicht mehr. Das musste man vorbereiten in einem Kanister, und da kamen spezielle Zutaten rein. Zum Schluss wurde es mit Sekt aufgegossen. Also keiner von uns hat das je probiert, wir haben das nur für die Gäste gemacht. Es war auch jedes Mal anders, und wir haben geguckt, was passiert."

    Die Freiräume wurden immer weniger, Straßenzug nach Straßenzug wurde saniert. Spätestens 2002, als im Zuge der WM in Asien plötzlich überall Fußball gezeigt wurde, sei Schluss gewesen mit der großen Party für alle. "Berlinized – Sexy an Eis" ist ein faszinierendes Dokument über eine Zeit, als alle Beteiligten diesen federleichten und verspielten Moment zwischen DDR und Gentrifizierung festhalten wollten. Busse hat dabei bewusst die Technoszene ausgespart, obwohl es viele Überschneidungen gab. Diese sei schon zu genüge beleuchtet worden, aber die Szene der Hinterhofkreativen und Kellerbars noch nicht. Regisseur Lucian Busse glaubt jedenfalls, dass alle Beteiligten für ihr Leben etwas mitgenommen haben.

    "Sich trauen, einfach Dinge zu tun. Dass man so einen gewissen Mut und Unverschämtheit hat. Das zu erfahren und zu erleben ist praktisch was, was einen das ganze Leben lang beeinflusst in seiner Kreativität oder auch Herangehensweise an andere Dinge im Leben."