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Aus dem Verkehr gezogen

Der wieder einmal für den Winter so völlig überraschend gekommene Schnee hat die Republik entschleunigt. Was erst ein Ärgernis war, kann man auch positiv sehen.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Spätestens seitdem der Londoner Banker Nathan Mayer Rothschild den Ausgang der Schlacht von Waterloo früher als alle anderen per Brieftaubenpost erfuhr und aus diesem Wissensvorsprung an der Börse ein Vermögen machte, lässt sich der Nutzen der Geschwindigkeit nicht mehr bestreiten. Schnelligkeit ist das Wesen der Moderne: Wir leben in der Epoche des Kaffees. Wir fahren mit Hochgeschwindigkeitszügen, benutzen High-Speed-Internet und essen Fast Food. Und die Beschleunigung geht immer weiter.

    Das Lebenstempo steigert sich zu einer globalen Gleichzeitigkeit. Alles überall sofort, lautet die Devise. Kirschen im Dezember, Wintersport im Hochsommer, Konferenz in Tokio. Wir haben uns daran gewöhnt, im Overdrive-Modus zu funktionieren, und zwar störungsfrei. Denn Schnelligkeit setzt Zuverlässigkeit voraus; die schnellste Eisenbahn nützt nichts, wenn sie Verspätung hat.

    Allmählich aber kippt unser Verkehrssystem um wie ein überdüngtes Gewässer. Störungen werden zu festen Bestandteilen des Programms, allerdings auch nicht zu ganz festen. Bei der Bahn zum Beispiel ist nicht einmal auf die Verspätungen Verlass. Aber auf den Fahrplan eben noch viel weniger. Den Flugverkehr bringen abwechselnd Terrordrohungen, Vulkanaschevermutungen und Schneeflocken zum Erliegen. Bei Kälte geht sowieso alles langsamer: Die ICEs rollen gemächlicher, Lastwagen und Autos müssen mehr bremsen, und die Elektronen sausen bloß mit halber Kraft um ihre zuständigen Atomkerne. Entschleunigung ist angesagt.

    Entschleunigung war lange ein Schlagwort der Zivilisationskritik, ein Begriff aus der Nebelküche von Psychoseminaren. Entschleunigung lautet das Mantra derer, die sowieso ein bisschen langsam und überdies der Ansicht sind, ihr Langsamsein sei das bessere Sein. Dabei ist das keineswegs ausgemacht. Das Schneckentempo der Entschleunigten kann einem geschwindigkeitsgewohnten Menschen geistig und gesundheitlich genauso zusetzen, wie das im umgekehrten Fall die Raschheit tut.

    Wichtig ist einfach, dass man beides beherrscht, denn Zwischenfälle in unserer Hochgeschwindigkeitswelt sind mit jähen Tempowechseln verbunden, an die wir uns mehr und mehr gewöhnen müssen. Souverän ist nämlich nicht nur, wer über den Ausnahmezustand verfügt, sondern wer überhaupt mit ihm umgehen kann. Was tun, wenn eine auf viereinhalb Stunden kalkulierte Reise plötzlich vierzig Stunden dauert? Wenn kein Heizöl mehr geliefert wird und Streusalz ausgegangen ist? Wenn wichtige Termine ohne einen stattfinden und das Ganze Zukunftsgebäude des Kalenders einzustürzen droht?

    Dann sind auf einmal wieder uralte Kulturtechniken gefragt: das englische Abwarten und Teetrinken, der indische Fatalismus und der arabische Zeitbegriff. Von Vorteil ist es, immer ausreichend Lektüre bei sich zu haben. Und wie der Bergsteiger immer nach oben schaut statt in den Abgrund, so soll man sich beim Warten auf die kommende Zeit konzentrieren und nicht auf die verrinnende. Eine gute Gelegenheit, das richtige Verhalten zu üben, bietet übrigens von jeher der grippale Infekt, der alle Arbeits- und Reisevorhaben über den Haufen wirft und sein prinzipiell ungeduldiges Opfer einfach für eine unbekannte Weile aus dem Verkehr zieht.

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