Donnerstag, 28. März 2024

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"Aus den Fenstern blickt ER: Der Tod"

Die Geschichte kennt längere Belagerungen als die dieser Stadt, die einst St. Petersburg hieß und heute wieder diesen Namen trägt. Doch keine kostete so viele Opfer unter der Bevölkerung: annähernd eine Million Menschen, doppelt so viele wie während der alliierten Luftangriffe auf Deutschland, viermal mehr als durch die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

Von Dietrich Möller und Stephanie Rapp | 26.01.2013
    Opfer des Krieges zwar, doch weniger durch Granaten und Bomben als durch - Hunger. Die Geschichtsschreibung ist über kaum ein Martyrium so ignorant, beiläufig oder gar verfälschend hinweggegangen wie über das dieser Stadt. In der kollektiven Erinnerung hat die Tragödie Leningrads noch immer nicht den ihr gebührenden Platz.

    In Deutschland galt die Blockade allzu lange als gewöhnliche militärische Operation statt als von vornherein geplanter Genozid, in der Sowjetunion wurde sie zum Heldenepos stilisiert, und so ist es geblieben. Darin kommt zwar der Hunger vor, kaum aber der Hungertod Hunderttausender; und es kennt schon gar keinen Kannibalismus. Es verschweigt Verantwortung und Verantwortliche, es kündet nicht von absurden Repressionen und vom Terror des Stalinregimes wider die geschundene Bevölkerung. Stattdessen folgt es Dmitrij Schostakowitschs heroischer "7. Symphonie", der "Leningrader".

    Wie anders klingen da die Verse Anna Achmatowas, die der "Langen Nacht" auch den Titel gaben. Wir folgen den Jahrzehnte später protokollierten Erinnerungen von Menschen, die die Belagerung als das erlebten, was es wirklich war, als Martyrium.

    "Und Städte wechseln ihren Namen, und
    Die Zeugen dessen was geschah sind tot
    Und niemand tauscht mit uns Erinnerungen
    Und weint mit uns."
    (Anna Achmatowa)


    Literatur zur Sendung:
    1. Primärliteratur:


    Lidia Ginsburg
    Aufzeichnungen eines Blockademenschen
    Frankfurt/M. 1997

    Ales Adamowitsch, Daniil Granin
    Das Blockadebuch
    Teil 1 Berlin 1987
    Teil 2 Berlin 1984

    Vera Inber
    Fast drei Jahre.
    Aus einem Leningrader Tagebuch.
    Berlin 1946

    Dmitri Lichatschow
    Hunger und Terror.
    Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika.
    Ostfildern 1997

    Elena Skrjabina
    Leningrader Tagebuch.
    Aufzeichnungen aus den Kriegsjahren 1941-1945
    München 1972


    Auszug aus dem Manuskript:

    "Leningrad ist überhaupt für Katastrophen ungewöhnlich geeignet...
    Dieser kalte Fluss, über dem immer schwere Wolken hängen,
    diese drohenden Sonnenuntergänge,
    dieser furchteinflößende Opern-Mond ..."

    Die Worte Anna Achmatowa weisen über die neunhunderttägige Heimsuchung der von ihr geliebten Stadt hinaus, doch in der Reihe tragischer Ereignisse war die Blockade das schrecklichste - ein Martyrium, indessen eines, das über Jahrzehnte verfälscht wurde, als gewöhnliches Kriegsereignis bagatellisiert oder zum Heldenepos stilisiert. In beidem kommt zwar der Hunger vor, nicht aber auch der Hungertod. Hunderttausendfacher Hungertod. Und das ideologisch begründete Epos kennt schon gar keinen Kannibalismus. Es verschweigt Verantwortung und Verantwortliche, es kündet nicht von absurden Repressionen und vom Terror des Stalin-Regimes wider die geschundene Bevölkerung. Stattdessen folgt es Dmitrij Schostakowitschs vermeintlich heroischer 7. Symphonie, der "Leningrader". Bis heute, da die Stadt längst wieder ihren alten Namen trägt: St. Petersburg.

    9. September 1941

    " Gestern erlebten wir den ersten Luftangriff auf Leningrad. Am Tage gab es, wie gewöhnlich, mehrmals Fliegeralarm. Aber wir beschlossen doch, ins Musik-Komödienhaus in die "Fledermaus" zu gehen. In der Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Akt begann wieder einmal Fliegeralarm. Ins Foyer kam der Geschäftsführer des Theaters, und klar vernehmbar, in dem gleichen Ton, in dem er wohl anzukündigen pflegte, dass wegen Erkrankung eines Künstlers ein Kollege einspringen müsse, teilte er mit: "Das Publikum wird gebeten, sich möglichst an die Wände zu halten, denn wir haben hier (er wies mit der Hand auf den riesigen Plafond) keine Balkenlage."

    Wir gehorchten und standen etwa vierzig Minuten an den Wänden. Irgendwo in der Ferne hörte man die Flak schießen. Nach dem Entwarnungssignal nahm die Vorstellung ihren Fortgang, freilich in beschleunigtem Tempo: Die minder wichtigen Arien und Duette wurden weggelassen.

    Als wir das Theater verließen, war es noch nicht ganz dunkel. In das blaue Abendlicht mischte sich ein rötlich schimmernder Feuerschein.

    Plötzlich bemerkten wir, dass unser Chauffeur Kowrow uns zuwinkte. Wir hatten den Wagen gar nicht bestellt. "Ich habe beschlossen, Sie doch abzuholen, es ist besser, schnell nach Hause zu kommen", sagte Kowrow. Und sein Gesicht erschien in dieser bengalischen Beleuchtung bleich und bestürzt.

    Als der Wagen um den Platz bog, taten sich unserem Blick plötzlich wallende schwarze, von innen durchlohte Rauchmassen auf. Sie türmten sich zum Himmel auf, schwollen an, kräuselten und verästelten sich zu unheimlichen Gebilden. Kowrow wandte sich um und sagte tonlos: "Die Deutschen haben Bomben abgeworfen und die Proviantlager in Brand gesetzt.

    Zu Hause standen wir lange auf dem Balkow und schauten immerzu auf die brennenden Lager", "

    notierte die russische Lyrikerin Wera Michailowna Inber am Dienstag, den 9. September 1941 in ihrem Tagebuch. Erst kurze Zeit zuvor war sie an der Seite ihres Mannes, einem Arzt, von Moskau nach Leningrad gekommen.

    Und Wladimir Admoni, Professor für Germanistik und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, erinnerte sich:
    "Ich ging mit einem Freund die Ligowka-Straße entlang, und plötzlich gab es Alarm. Luftalarm. Wir mussten in ein Haus, in einen großen Flur gehen. Wir waren dort ungefähr eine halbe Stunde in unser Gespräch vertieft, dann wurde der Alarm abgeblasen. Als wir wieder die Straße betraten, bemerkten wir sofort in südlicher Richtung eine mächtige Rauchwolke, die aber seltsamerweise nicht schwarz, nicht einmal dunkel war, sondern hellweiß, fast leuchtend. Als wir das Theater verließen, war es noch nicht ganz dunkel. In das blaue Abendlicht mischte sich ein rötlich schimmernder Feuerschein..."

    2. Sekundärliteratur

    Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad 1941-1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Paderborn 2005

    Anna Reid: Die Belagerung von Leningrad 1841-1944. Berlin 2011

    Aileen Rambow: Überleben mit Worten. Literatur und Ideologie während der Blockade von Leningrad 1941-1944. Berlin 1994

    Antje Leetz: Blockade Leningrad 1941-1944. Dokumente und Essays von Russen und Deutschen. Reinbek 1992

    Andrea Zemskov-Züge: Die Historisierung der Belagerung Leningrads in der Sowjetunion 1943-1953. Geschichtsbilder zwischen politischen Strukturen und Zeitzeugenschaft. Göttingen 2011

    Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. München 2012-12-05


    Auszug aus dem Manuskript:

    " Im Garten sind Gänge gegraben, die Brandstatt wird klein
    Leningrads Waisenknaben, Kinderchen mein
    Kein Atmen im Keller, die Schläfen schmerzwund
    ein Ton, horch, ein geller aus Kindesmund "

    Anna Achmatowa: Dem Gedenken an meinen Nachbarn, einen Leningrader Knaben

    Drei Millionen Menschen sollen sich zu Beginn der Blockade in Leningrad befunden haben. Eine ungenaue Zahl. Und ungenau bleibt sie Zahl derer, die verhungerten. Während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse nannte die Sowjetregierung allerdings 632.253 durch Hunger und damit verbundene Krankheiten Gestorbene und 16.747 durch Bomben und Granatfeuer Umgekommene. Nach Angaben der Friedhofsverwaltungen.
    Der Literaturwissenschaftler Dmitri Lichatschow, der zu den Eingeschlossenen gehörte, nennt die Zahlen schlicht "Humbug":

    "Während der Blockade starben 632.253 Leningrader - was für ein Humbug! zu zählen bis auf die letzte Stelle! Aufgrund welcher Dokumente hat da wer gezählt? Hier das wahre ‚Wer zählt...' - wer zählt die, die unter dem Eis ertranken, die auf den Straßen eingesammelt und sofort ins Leichenschauhaus und in die langen Gräben auf den Friedhöfen geschafft wurden? Wer zählt die nach Leningrad geflüchteten Bewohner der Vororte, der Dörfer des Leningrader Gebiets? Und wie viele Rettungssuchende kamen aus den Gebieten von Pskow und Nowgorod? Und alle anderen - geflüchtet oft ohne Papiere und gestorben ohne Lebensmittelmarken in ungeheizten Räumen, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte - in Schulen, höheren Lehranstalten, Technischen Hochschulen, Kinos?

    Wozu die Zahlen verkleinern, und zwar merklich - bei diesen gigantischen Größenordnungen -, um das Zwei- und Dreifache."

    Jörg Ganzenmüller: " Also die Frage der Hungertoten ist seit langem umstritten; Stalin hat unmittelbar nach dem Krieg eine Zahl festgelegt, über 600.000, die deutlich zu niedrig gegriffen ist, wie er ja generell die Zahl der sowjetischen Opfer zu niedrig angesetzt hat, um zu verschleiern, wie groß der Preis des Sieges war. In den siebziger Jahren wurde diese Zahl dann von sowjetischen Historikern auf 800.000 Tote nach oben korrigiert. Wie viel es genau waren - ich würde sage, das ist die Zahl, wo man sagen kann, es waren mindestens 800.000. Die Stadt war allerdings voller Flüchtlinge, gerade aus dem Baltikum, das heißt, man weiß gar nicht, wie viele Menschen in der Stadt waren, als sich der Belagerungsring geschlossen hatte. Man muss also schätzen, und ich würde sagen, seriöse Schätzungen gehen von rund einer Million Toten aus bei einer Bevölkerung von drei Millionen. "

    Und in dieser Annahme sind sich westliche und russische Historiker mittlerweile einig. Bei der Charakterisierung der Blockade gibt es indessen auf russischer Seite eine merkwürdige Zurückhaltung, ja Ignoranz. Jörg Ganzenmüller und Anja Tippner:

    Jörg Ganzenmüller: " Was aber nach wie vor nicht thematisiert wird, ist die Frage der deutschen Strategie, ist eine Einordnung der Belagerung in den deutschen Vernichtungskrieg eben als keine gewöhnliche militärische Belagerung, sondern als Teil einer Vernichtungspolitik gegenüber der sowjetischen Bevölkerung, weil das das Bild vom heroischen Abwehrkampf hinterfragen würde, und dafür sind viele noch immer nicht bereit beziehungsweise, wenn man das anspricht, an dem Punkt erhält man sehr viel mehr Widerspruch, als wenn man über die Verbrechen des NKWD im belagerten Leningrad spricht. Die klassische sowjetische Erzählung ist immer noch dominant, die folgendermaßen aussieht: Die deutsche Wehrmacht wollte das Symbol der Oktoberrevolution erobern und danach vernichten, die Eroberung aber ist am heldenhaften Widerstand der Roten Armee gescheitert und aus diesem Grund wurde Leningrad gerettet und nicht vernichtet. Der Heroismus ist für Russen der wesentliche Zugang zum Zweiten Weltkrieg allgemein und auch zur Belagerung Leningrads im Besonderen, weil während der gesamten sowjetischen Epoche eigentlich nur in dieser heroischen Sprache über die Opfer gesprochen werden konnte. Das heißt, in Russland ist die Trauer um die Opfer und das Verehren der Helden so weit zusammengeschmolzen, sodass, wenn man heute versucht, die heldenhafte Geschichte des Zweiten Weltkriegs anzuzweifeln, man Gefahr läuft, die Opfer damit zu entwürdigen. Das sowjetische Bild vom Helden ist das Bild vom aktiven Helden, und deshalb ist es wichtig, dass die Verteidigung etwas Aktives war, dass Leningrad durch den aktiven Einsatz der Roten Armee verteidigt worden ist, und nicht von einer Wehrmacht, die an einem bestimmten Punkt stehen geblieben ist, um die Stadt auszuhungern. Ein passives Verhungern eignet sich weniger zur Sinnstiftung wie ein heldenhafter Verteidigungskampf. "

    Anja Tippner: " Die offizielle Kriegsliteratur, die folgte ganz bestimmten Mustern. Die offizielle russische Kriegsliteratur war stark konzentriert auf den Aspekt des Sieges, des Heroismus. Und andere Kriegserfahrungen, wie z. B. Leiden, die Erfahrungen der Opfer wurden in diesen Kriegserzählungen eigentlich gar nicht thematisiert. Wenn Leiden oder traumatische Erfahrungen thematisiert wurden, dann eher in Form von körperlichem Leiden, aber nicht so sehr in Form von psychischen Traumatisierungen. Das war einfach mit einem Tabu belegt. Und passte nicht in den offiziellen Erinnerungsdiskurs. Und das hat bedeutet, dass viele Personen, die ihre Erfahrungen niedergeschrieben haben während des Krieges schon in Form von Tagebüchern, es sind ja sehr viel Tagebücher geschrieben worden, aber auch nach dem Krieg diese psychischen Traumatisierungen eigentlich nicht ausformulieren konnten. Weil der offizielle Diskurs dafür nichts zur Verfügung stellte. Und dann gab es eben zwei Möglichkeiten: Man konnte sich selber zensieren und sich in der eigenen Darstellung an den offiziellen Diskurs anlehnen, weil man die Hoffnung hatte, dass die Texte vielleicht einmal veröffentlicht werden, oder man konnte versuchen, sich vollkommen zu lösen von diesem offiziellen Diskurs und einen Text zu schreiben, der im Grunde genommen mit der Kriegsliteratur, so wie sie in der SU existierte und institutionalisiert war, nicht mehr viel zu tun hatte. "

    Die Historikerin Andrea Zemskov-Züge, die längere Zeit in St. Petersburg gelebt und geforscht hat, ergänzt: " Ich weiß nicht, ob das für diejenigen, die in der Stadt um ihr Überleben gekämpft haben, die zentrale Frage war: ob die Stadt eingenommen werden sollte oder nicht. Den Eindruck habe ich nicht bekommen. Und klar ist es, dass sowohl sehr viel von der Kriegspropaganda als auch was später über die Blockade geschrieben wurde, rezipiert wurde von den Überlebenden und dass sich so etwas wie eine Blokadniki-Identität gebildet hat, die darauf beruht, auf der Gewissheit, wir haben die Stadt verteidigt und wir sind die, die hier überlebt haben, und ohne uns hätte die ganze militärische Verteidigung gar keinen Sinn gehabt, wenn wir nicht durchgehalten hätten. Einerseits kann man darin die Propaganda sich spiegeln sehen, andererseits kann man aber auch sehen, wie wichtig es für die Menschen, die solch furchtbaren Sachen erlebt haben, die ihre Familien verloren haben, die Mütter, deren Kinder verhungert sind und sie konnten nichts dagegen tun - dass die diese propagandistischen Konstrukte auch gebraucht haben, um weiterzuleben, damit dieses furchtbare Sterben einen Sinn hatte. "

    Doch waren mit der Erfahrung der Blockade nicht zugleich alle Voraussetzungen für eine Traumatisierung gegeben, die über Generationen hinweg wirken kann - bis heute, 70 Jahre danach? Eine Frage, der die Literaturwissenschaftlerin Anja Tippner nachgegangen ist: " Diese psychische Seite wird eigentlich vollkommen negiert. Und spielte im offiziellen Diskurs keine Rolle. Und es heißt auch, dass es dafür keine Sprache gab. ... Und erst heute beginnt man damit, sich damit auseinanderzusetzen. Da kommt man wieder auf Ginsburg zurück, die in ihren Aufzeichnungen sagt, wir müssen vergessen, sonst können wir nicht weiterleben. Wir können uns nicht immer wieder damit aufhalten oder dabei aufhalten, mit dem Schrecken und dem Grauen, sonst können wir nicht weiterleben. Gleichzeitig ist es natürlich so - das ist etwas, was gerade von russischen Anthropologen, Psychoanalytikern, Kulturwissen-schaftlern in der letzten Zeit sehr stark thematisiert und aufgearbeitet wird, dass die Monster der Vergangenheit, die man unterdrückt, zurückkehren. Und dass es eine ganz dringende Notwendigkeit gibt auch in der sowjetischen Gesellschaft, sich mit diesem Trauma auseinanderzusetzen. Also nicht nur mit dem Trauma der Blockade, aber auch mit dem Trauma des Großen Terrors der Jahre 37/38, mit dem GULAG, also dass man all diese traumatischen Erfahrungen der sowjetischen Geschichte versprachlichen muss und öffentlich diskutieren muss. "