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Aus der Geschichte der Trennungen

Natürlich war der Himmel nie wirklich geteilt. Die Wolken zogen und die Vögel flogen immer, ostwärts und westwärts, wohin sie wollten und kümmerten sich nicht um ein Eiserner Vorhang genanntes Phänomen. Aber der Himmel ist nicht nur Bestandteil der Wirklichkeit. Er ist auch eine Metapher. Er versinnbildlicht die Arbeitsfläche der Einbildungkraft, wie jeder auf dem Rücken liegende und nach oben schauenende Tagträumer weiß, der seine Phantasien und Projektionen ins Blaue malt.

Ursula März |
    Durch dieses Gewölbe des Imaginären muß ein Riß gegangen sein, der nun seit fast einem Jahrzehnt geschlossen ist. Jörn reagiert auf den Zustand der Ungeteiltheit euphorisch und mit ungeahnter Produktivität. Die Wiedervereinigung schlägt sich als regelrechter Dammbruch in seinem Inneren nieder. Erinnerungsknoten lösen sich, schwierige, bislang nur flüchtig gestreifte und skizzenhaft berichtete Vergangenheitskapitel wie Jörns jugendliche Faszination durch die Militärmaschinerei des Zweiten Weltkriegs oder das seelische Erdbeben durch die Scheidung der Eltern, lassen sich nun in aller Ausführlichkeit aufblättern und mit langem Atem erzählen, ohne Widerstände, ohne Selbstunterbrechungen. Traumata, wie der Selbstmord seiner Mutter, die ins Wasser des Schwieloch-Sees ging und darin umkam, beruhigen sich. Jörn hat, wie sein alter Ego Jürgen Becker eine Biographie, die in einen Westteil und einen Ostteil zerfällt.

    Er wurde zwar in Köln geboren, verbrachte aber acht prägende Kindheits- und Jugendjahre in Erfurt und kam dann, nach der Etablierung der sowjetischen Besatzungszone ins Rheinland zurück. Bei jedem Wechsel der Lebenssphäre ließ er heimatlos gewordene Erfahrungen zurück, die ins Vergessen trudelten, nun zurückkehren und ins Bewußtsein rücken. In einer der schönsten und intensivsten Szenen des Buches "Aus der Geschichte der Trennungen" legt sich Jörn mit dem Rücken auf den Schwielochsee und schaut zum Himmel hinauf. Er war geteilt und ist es nicht mehr. Die Arbeitsfläche des Imaginären, merkt Jörn, hat sich enorm vergrößert.

    Wenn das Wort Sensation im Zusammenhang mit Jürgen Beckers zurückhaltendem Werk nicht so unangebracht wäre, könnte man sein neuestes Buch eine Sensation nennen. Es trägt die Bezeichnung Roman. Das tat in der langen Schreibgeschichte dieses Schriftstellers noch kein anderes. Er gilt sogar als ausgesprochener Nichtromancier, als ein Autor, dessen Beschreibungskunst zur Dichte und Kürze neigt und am besten in unfestgelegten Formen aufgehoben ist, bei denen Elemente der Lyrik und der Prosa verfließen. §§§§Große Sprachbilder sind Beckers Spezialität. In ihnen gibt es natürlich Ereignisse, Geschichten, Figuren und Episoden. Aber sie waren immer über die Textfläche verteilt wie Gegenstände über ein Gemälde verteilt sind. Sie fügten sich nicht zu jener Erzählordnung, aus der sich eine Handlung ergibt.

    Um keine falschen Hoffnungen zu wecken: Jürgen Becker hat sich nicht plötzlich in einen konventionellen Erzähler verwandelt. "Aus der Geschichte der Trennungen" besitzt, wiewohl Roman genannt, kein traditionelles Romangeschehen. Es ist zwar der vermutlich eindringlichste, vermutlich auch utopischste, und mit Sicherheit der ästhetisch radikalste literarische Text zur Wiedervereinigung und zur Geschichte der deutschen Teilung. Aber die Erwartungen, die sich an ein Wiedervereinigungs-Roman zu nennendes Produkt richten könnten, erfüllt dieses Buch bei weitem nicht. Kein aufgebwirbelter Staub aus dem Dunstkreis der Treuhand-Skandale, kein aus dem Hintergrund in die Handlung hineinwinkender Schalck-Golodkowski, kein Brandenburger Tor, kein Potsdamer Platz. Nein, nichts als Erinnerungsschübe und Erinnerungsanstrengungen. Nichts als die Erinnerungen aus den Jahren vor und nach 1945 einer Figur, die Jörn heißt, normalerweise im Rheinland lebt, Mitte der 90er Jahre den Osten bereist, speziell eine ländliche Gegend im Niederen Fläming. Einer Figur, Lebensgeschichte ziemlich deckungsgleich ist mit denen Jürgen Beckers.

    In gewisser Weise löst Becker die äußeren Probleme, die sich ihm beim Übergang von der gewohnt knappen zur romanhaft ausgreifenden Erzähllänge gestellt haben müssen, indem er sie ignoriert. Er schreibt buchstäblich da weiter, wo die vor gut eineinhalb Jahren erschienene Erzählung "Der fehlende Rest" endete. In dieser Erzählung schlug Jörn, der für den Leser also schon ein alter Bekannter ist, seine Erinerungswerkstatt räumlich auf einem alten Gehöft im Bergischen Land und zeitlich in einer verschneiten Winternacht auf. Nun zu Beginn des Romans heißt es ganz einfach: "Es war Sommer, als ich Jörn dann wiedersah".

    Auch stilistisch und methodisch läuft der die Bücher verbindende Faden weiter. Der unverwechselbare verhaltene Jürgen-Becker-Ton ist da. Die unverkennbare Schreibweise, der das Kunststück gelingt, ohne sichtbare Tricks ganz und gar realistischen Darstellungen des Wirkung des Enigmatischen zu verleihen.

    Natürlich weiß Jürgen Becker, daß er zur Formung der Stoff- und Sprachmengen eines Romans dramaturgische Mittel benötigt. Ein Mittel, das er einsetzt und das er vermutlich aus dem langen Umgang mit Hörspielen mitbrachte, ist der temperamentvolle Wechsel von Tempiund Stimmlagen. Es gibt bedächtige, auch stockende Erzählphasen, wenn Jörn tief in seinem Gedächtnis kramt, um herauszubringen, wie und mit welchen Gefühlen er die Kriegszeit, das Kriegsende, dann die Ablösung amerikanischer durch sowjetische Alliierte erlebte. Es gibt Passagen des moderaten Berichts, in denen Jörn die Geschichten aller möglichen Zeitgenossen memoriert, die sich unter der Hand zu einem großartigen Gesellschaftspanorama gruppieren. Und es gibt Textstellen, die deshalb erstaunlich sind, weil sie Jörn in einer Aufgeregtheit, einem Aufruhr zeigen, die man an ihm - vielleicht auch an Jürgen Becker - noch nicht kannte. Die Stimme überschlägt sich, die Syntax zerfranst unter dem Ansturm der Argumente. Zu dieser hitzköpfigen Hochform läuft Jörn zumal dann auf, wenn er klarmacht, daß er, der durch seine Biographie dafür prädestiniert ist, das politische Ereignis der Wiedervereinigung als persönliches Glück zu empfinden, nicht gewillt ist, sich dieses Glück vom kollektiven deutschen Katzenjammer madig machen zu lassen.

    Auch jene Leser, die Jörns Reflexionen und Seelenreflexen bisweilen mit Distanz folgen, weil sie einer Generation angehören, die ins geteilte Deutschland hineingeboren wurde und die Teilung als einen nahezu natürlichen Zustand zu akzeptieren gewohnt waren, werden in solch furioseren Momenten des Romans von Jörns Mitteilungsleidenschaft überzeugt. Es ist im übrigen eine Leidenschaft ohne Pathos, ohne Nostalgie und ohne nationale Mißverständnisse.

    Jörns Blick zum vereinigten Himmel streift den Horizont der Utopie. Aber es handelt sich um eine Utopie der Illussionslosigkeit. Die Levitation, die Jörn in den Wendejahren 89/90 und bei seinen anschließenden biographischen Erkundungsreisen durch den deutschen Osten erfahren hat, drückt sich im Text durch ein dichtes Metaphernnetz der Luftfahrt aus. Flugplätze, Flugzeuge, Drachenflieger, Fallschirmspringer, Vögel und Segelflieger, alles, was am Himmelszelt herumkreuzt, spielt eine bedeutsame symbolische Rolle. Sogar der Menschheitstraum des Ikarus kommt am Rande zur Sprache. Aber ebenso die Tatsache, daß ein heute harmloser Sportflughafen in der Vergangenheit militärischer Stützpunkt war und daß Jörns Überaufmerksamkeit für die Erscheinungen des Luftverkehrs auf die Urszene der Jagdbomber zurückgeht, die über das Hausdach dröhnten und in Sichtweite des Kindes ihre eiförmige Fracht ausklinkten.

    Ja, die ganzen ersten Zweidrittel des Romans lassen sich als eine allmähliche Verdunkelung des Himmels verstehen. Als eine Annäherung von Jörns Erinnern an die Zeit des Luftkriegs, die er als Kind in Thüringen erlebte, der Bombennächte, des Kellerlebens der städtischen deutschen Zivilbevölkerung. Bei den Erzählungen davon steigert sich die Stimme des Romans ins Dramatische. Die Kriegseindrücke, die Jörn aus seinem Gedächtnis herausholt, sind zum großen Teil akustischer Natur. An die Akustik, das Dröhnen, Rattern, Bersten knüpft sich die beunruhigende Erkenntnis, wie nah und umfassend das Todeswissen des Kindes bereits war. Zwei Geschichten, die der Hoffnung und die der Katastrophe, zeichnen sich am Himmel ab. Satz für Satz ist Beckers Roman der Versuch, politisch wie psychologisch diese beiden Geschichten in Verbindung zu bringen.

    Die Wende, teilt Beckers Verlag in seiner Frühjahrsankündigung mit, habe dem Kölner Schriftsteller den Weg zu diesem Werk geebnet. Das wird stimmen. Wie es indes ebenso stimmt, daß Becker, einem Autor der sogenannten offenen und assoziativ kreisenden Schreibweise die Kurve ins Epische nur mit Hilfe eines ganz bestimmten Manövers gelingen konnte, mit der Einführung des literarischen Du. Sowohl beim "Fehlenden Rest", als auch bei der "Geschichte der Trennungen" handelt es sich um Zwiegespräche zwischen der Hauptfigur Jörn und einem anonym bleibenden Erzähler. Dieser befragt jenen und Jörn steht Rede und Antwort. Es ist interessant zu beobachten, daß eine Schriftstellerin wie Friederike Mayröcker, die, bei allen Unterschieden zu Jürgen Becker, wie dieser die dezentrale Organisation ihrer Erzähltexte ebenfalls dadurch bewältigt, daß sie dem Redefluß der Hauptfigur einen Zuhörer gegenüber setzt, der bei ihr "Ohrenbeichtvater" heißt. Das literarische Du ist die Instanz, auf die hin sich der konfus erscheinende Stoff konzentriert. Eine Instanz, die offensichtlich unverzichtbar ist, da sie die strukturierende Autorität ersetzt, die im üblichen Erzählen vom Handlungsverlauf ausgeht.

    Allerdings haben Jörn und sein protokollierender Ausfrager Gesellschaft bekommen. Im "Fehlenden Rest" herrschte strenge, winterliche Einsamkeit um die beiden Gedächtnisarbeiter. Jetzt, im Sommer, geht es geselliger zu. Die Unterhaltungen finden an öffentlichen Orten statt. Mal auf der Kaffeeterrasse des kleinen Sportflughafens, mal in der Gastwirtschaft eines Örtchens im Niederen Fläming. Wenn die Arbeit hinter der Theke es zuläßt, redet dann ein Dritter, der Gastwirt, am Tisch der beiden Westler mit. Herr Demuth kann, was einige seiner biographischen Eckdaten betrifft, als Jörns ostdeutsches Double verstanden werden. Die Verspiegelung von Zeitgeschichte und eigener Biographie ist Jürgen Beckers großes Thema. Das ist klar. Aber dieser Roman macht vielleicht noch klarer als es bislang war, daß Becker über dieses Thema hinaus, das sein Werk durchaus als Nachbarprojekt eines Werkes wie dem Uwe Johnson erscheinen läßt, einen poetischen Plan verfolgt, der ihn von einem Chronisten wie Johnson wiederum radikal unterscheidet. Becker respektiert den chronologischen, kalendarischen Zeitbegriff - und widerlegt ihn mit den Bildern und Begriffen eines subjekiven Zeitraums. Diese Dialektik ist das Abenteuer seines Romans. All die Daten, die den historischen Verlauf der Dinge linear ordnen, sind im Romantext, wenn auch ungenannt, präsent: April 1945. - Juli 1945. - 7. Oktober 1949. - 9. November 1989. Aber in dem Gebilde eingeebneter Zeitschichten, das der Roman und seine Gedächtnisbühne darstellen, büßen sie ihr Ordnungsmonopol ein. Raffiniert ist nicht das richtige Wort, um Jürgen Beckers Kunst der Zeitüberblendungen, Zeitsprünge, Zeitfalten zu charkterisieren. Raffinesse hat immer etwas Überkalkuliertes, zugleich fast Geheimnisloses. Das Geheimnis vieler Szenen dieses Romans aber, in denen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen, entsteht bewundernswert mühelos, ohne Anstrengung.

    An einem elften August, genau 50 Jahre, nachdem seine Mutter morgens um sechs in den Schwieloch-See schwimmen ging, - "aber Jörn wußte, daß seine Mutter gar nichts schwimmen konnte" – steht er an dessen Ufer. Er setzt sich zum Studieren der Landkarte auf die Wiese, an einer Bucht des Sees, die den merkwürdigen Namen "Hoffnungsbay" hat. Als Jörn dann aufsteht und herumgeht, begegnen ihm zwei Menschen, erst ein Junge, dann eine alte Frau, mit denen Jörn ein wenig plaudert. Das alles ist einfach, unsensationell erzählt, ohne hervorhebendes Indiz, daß der Junge Jörn selbst sein könnte, wie er in der Vergangenheit war und die alte Frau seine Mutter, wenn sie noch lebte. Dann geht Jörn schwimmen und legt sich im Wasser auf den Rücken. "Er schaute lange zum Himmel hinauf.