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Aus der Haut für das Rückenmark

Medizin. - Die regenerative Medizin hat ein großes Ziel. Aus reifen Zellen von Patienten sollen jugendliche Zellen werden, mit denen sich kranke Gewebe reparieren lassen. Dabei sind induzierte pluripotente Stammzellen – kurz IPS der neue Hoffnungsträger. Diese Zellen konnten US-Forscher nun erstmals aus der Haut von Patienten gewinnen.

Von Michael Lange |
    Amyotrophe Lateral Sklerose oder ALS ist eine grausame Nervenkrankheit. Der bekannteste Patient ist der an den Rollstuhl gefesselte Physiker Stephen Hawking. Bei ihm ist der typische Lähmungsprozess weit fortgeschritten, kam dann aber zum Stillstand. Bei den meisten Betroffenen schreitet die Krankheit weiter fort, bis irgendwann nicht einmal mehr die Atmung funktioniert.
    Die Ursache dafür ist das Absterben bestimmter Nervenzellen im Rückenmark, der Motorneuronen. Um ALS besser zu verstehen, müssten die Wissenschaftler diese Zellen aus dem Patienten gewinnen, um sie dann im Labor zu erforschen, erklärt der ALS-Spezialist Christopher Henderson von der Columbia University in New York.

    "Der Krankheitsprozess bei ALS findet im Rückenmark statt. Dort sitzen die Motorneuronen und sind über lange Fortsätze mit den Muskeln verbunden. Bei ALS sterben diese Zellen ab, und das führt zu immer stärker werdenden Lähmungen. Um diesen Vorgang zu erforschen, müssen wir an die Zellen heran kommen. Wir wollen wissen, wie die Krankheit entsteht und fortschreitet über Lähmungen der Arme und Beine bis zum Atemstillstand."

    Statt die Zellen im Rückenmark zu erforschen, haben die Mediziner aus New York einen Umweg gewählt. Sie haben Stammzellenforscher von der Universität Harvard in Boston um Hilfe gebeten. Aus zwei Patienten im Alter von 82 und 89 Jahren entnahmen sie Hautzellen, um sie im Labor umzuwandeln in Motorneuronen. Als einziger möglicher Weg für diese Umschulung galt bisher das Klonen. Dabei wird die Erbinformationen aus einer Hautzelle in eine Eizelle ohne eigenes Erbgut verpflanzt. Doch es geht auch ohne Klonen, wie das Forscherteam um Kevin Eggan von der Harvard-University in Boston zeigen konnte.

    "Wir haben die Reprogrammierungstechnik eingesetzt, die Shinya Yamanaka von der Universität Kyoto entwickelt hat. Dabei haben wir vier fremde Gene in die Hautzellen der ALS-Patienten eingeschleust. Die Zellen entwickelten sich dadurch zu induzierten pluripotenten Stammzellen: so genannten IPS-Zellen. Und aus diesen Zellen züchteten wir Motorneuronen, wie sie normalerweise im Rückenmark vorkommen."

    Mit diesen Nervenzellen wollen die Wissenschaftler nun die Krankheit im Labor nachstellen. In einer Zellkultur sollen die gleichen Prozesse ablaufen, wie sonst im Rückenmark der Patienten. Diese Zellen könnten aber auch zur Behandlung der Patienten dienen. Sie müssten als jugendliche Nervenzellen ins Rückenmark der Betroffenen verpflanzt werden. Dort könnten sie bereits abgestorbene Motorneuronen ersetzen. Aber noch ist es nicht so weit, betont der Stammzellenforscher Kevin Eggan.

    "Die umgewandelten Zellen wurden gentechnisch verändert. Dazu haben wir Viren verwendet, die bestimmte Gene in die Zellen einschleusten. Die Zellen wurden dadurch verjüngt. Das bedeutet, dass ein Risiko besteht, dass sich die Zellen in Tumorzellen verwandeln. Aber die Forschung schreitet schnell voran. Vielleicht können wir demnächst die eingeschleusten Gene durch ungefährlichere chemische Faktoren ersetzen. Ich glaube, das wird nicht mehr lange dauern."

    Das ist die große Zukunftsvision der regenerativen Medizin. Wenn es gelingt, ohne Genmanipulation aus Hautzellen Nervenzellen zu machen, dann lassen sich viele heute unheilbare Nervenkrankheiten mit IPS-Zellen aus dem Labor behandeln. Dem Entdecker dieses chemischen Schlüssels wäre der Nobelpreis gewiss.