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Aus der Perspektive des Außenseiters

Der US-amerikanische Schriftsteller Morton Rhue kam 1950 als Todd Strasser in New York auf die Welt. Rhue greift in seinen Büchern Themen wie den Nationalsozialismus, Gewalt an Schulen oder Obdachlosigkeit auf, und bearbeitet sie für Jugendliche. Seine Bücher "Die Welle", "Asphalt Tribe", "Boot Camp" und "Ghetto Kidz" sind im Ravensburger Verlag erschienen und wurden übersetzt von Werner Schmitz und Hans-Georg Noack.

Morton Rhue im Gespräch mit Tanya Lieske | 17.01.2009
    Tanya Lieske. Morton Rhue, Sie wurden 1950 als Todd Strasser in New York geboren, was hat es mit den beiden Namen auf sich?
    Morton Rhue: Mein erstes Buch war ein Roman mit dem Titel Angel Dust Blues, und kurz vor dem Erscheinen bat mich mein Verleger, den Roman "Die Welle" zu schreiben, und dann sollten beide Bücher zur gleichen Zeit erscheinen. Da ich aber ein neuer und noch unbekannter Schriftsteller war, befürchtet mein Verleger, die Leute würden nur eines der beiden Bücher kaufen, und so schlug er mir ein Pseudonym vor. Mein Vorname "Todd" hört sich an wie das deutsche Wort "Tod" und "Strasser" wie "Straße", und so kam ich auf die Idee, beides ins Französische zu übersetzten. Aus mir wurde aus "Morton Rhue".

    Lieske. Welche Bücher schreibt Morton Rhue, und welche Todd Strasser?

    Rhue: Morton Rhue schreibt natürlich die guten Bücher, und Todd Strasser bedient das Mittelmaß! Scherz beiseite, Morton Rhue schreibt über ernste soziale Themen, und die werden ins Deutsche übersetzt. Ich schreibe auch lustige Bücher für Kinder, die sind in Frankreich sehr beliebt, aber die Franzosen wollen meine ernsten Bücher nicht. Nur in Amerika werden alle meine Bücher übersetzt.

    Lieske. Wie haben die sechziger Jahre Sie beeinflusst?

    Rhue: Die sechziger Jahre waren eine Zeit, in der die Menschen ein großes soziales Gewissen hatten. Das hat mich geprägt, in meinen ernsten Büchern geht es um brennende gesellschaftliche Fragen. In den sechziger Jahren wollten wir die Welt ja verändern und verbessern.

    Lieske. Sie schreiben immer aus der Perspektive des Außenseiters?

    Rhue: Bis vor kurzem war mir gar nicht bewusst, dass ich immer die Perspektive des Außenseiters einnehme. Als ich aufgewachsen bin, war ich auch immer ein Außenseiter, ich habe nie zu den Insidern, den coolen Kindern in der Schule gehört. Zu mir kommen immer die Gedanken der Außenseiter. Vor kurzem habe ich in Denver gelesen, und auf dem Rückweg fragte mich meine Gastgeberin, ob ich sie begleiten würde, sie wollte in einem Obdachlosenheim vorbeisehen, und dort etwas zu Essen abgeben. Ich sagte "klar", und begriff zunächst gar nicht, dass es sich um ein Obdachlosenheim für Teenager handelte, da lebten Teenager auf der Straße! Daraus wurde dann mein Buch "Asphalt Tribe". Und genau so war es mit "Ghetto Kidz", ich habe in einer Schule in einem Schwarzenghetto in New York City gelesen und gesehen, wie schrecklich dort alles war, und diese Kinder hatten überhaupt nicht das geringste Interesse daran, etwas zu lernen! Und dieses Erlebnis gab mir dann die Inspiration für "Ghetto Kidz".

    Lieske. Zu Ihrer Biografie gehört auch, dass Sie als Straßenmusiker und Schiffsteward gearbeitet haben?

    Rhue: Ja, das stimmt, das war in Dänemark. Ich ging noch zur Universität, und war mir nicht sicher, was aus mir werden sollte, und dann machte ich erst Mal eine große Reise durch Europa, und in Dänemark habe ich mich um ein Schiff gekümmert, und ich habe auch Straßenmusik gemacht.

    Lieske. Manche Szenen aus Ihrem Roman "Ghetto Kidz” erinnern mich an die Westsidestory!

    Rhue: Auf diesen Vergleich ist noch nie jemand gekommen. Aber es stimmt, noch nie war das Problem der Gangs und der Banden so groß wie heute. Überall gibt es diese Gangs, deswegen habe ich auch das Buch geschrieben. Es hat mit dem Zerfall des Bildungssystems und der ganzen Gesellschaft in den Vereinigten Staaten zu tun). Junge Männer, die in den Ghettos groß werden, haben einfach keine andere Perspektive als irgend einen kümmerlichen Job anzunehmen, sie arbeiten dann für einen Lohn am Rande des Existenzminimums. Man hört schon mal von dem einen oder anderen Rapper oder Sportler, die es geschafft haben, aber es gibt immer noch Millionen andere, für die es einfach keinen Ausweg gibt. Und so müssen sie sich einer Gang anschließen, wie soll ein junger Mensch es sonst zu einem Auto bringen oder zu anderen Statussymbolen wie Schmuck oder Geld, um ein Mädchen auszuführen. Die Gang, das ist der einfachste Weg, man schiebt Drogen und tut alles, was angesagt ist.

    Lieske. Ihre Hauptfigur Kalon ist ein liebenswertes, intelligentes Kind, und trotzdem kommt er auf die schiefe Bahn.

    Rhue: Genau darum geht es in meiner Geschichte. Im Ghetto rekrutieren die Gangs nicht nur die Verlierer, sondern auch gute Kinder, die einfach keine Perspektive haben, sie könnten im allerbesten Fall Hausmeister werden, auch diese Kinder werden sich irgendwann einer Bande anschließen. Es gab immer schon diese Geschichten von Ghettokindern, die groß rauskommen, aber ich wollte die Wirklichkeit zeigen, die meisten schaffen es ja nicht. Deshalb schreibe ich über ein Kind, das unter normalen Umständen niemals eine kriminelle Laufbahn einschlagen würde, und ich zeige, wie die Hoffnungslosigkeit ihn dazu bringt, sich einer Gang anzuschließen.

    Lieske. Wie kann man den Kreislauf der Gewalt durchbrechen?

    Rhue: Wissen Sie, es geht nicht nur um den Teufelskreis der Gewalt, es geht um Hoffnungslosigkeit, um Armut, die Gewalt ist ja nur eine Folgeerscheinung. Es geht vor allem um die Misere des Bildungssystems. Wenn ein junger Mensch eine Schule im Slum besucht, und er sieht schon, dass alles kaputt ist, die Bücher zerrissen, es fehlen ganze Seiten, es funktioniert einfach gar nicht, dann stellt sich das Gefühl ein, dass sich einfach niemand hier verantwortlich fühlt. Wenn sich keiner um die Schule und die Schüler kümmert, warum soll ein Kind sich kümmern? Man muss diese Schulen neu aufbauen, die Kinder müssen ihre Schule betreten und das Gefühl haben, dass jemand für sie sorgt! In den Vereinigten Staaten arbeiten die besseren Lehrer an guten Schulen, in schöneren Städten, in den Vororten. Wenn man ein besseres Bildungssystem in den Ghettos schaffen will, dann muss man die Lehrer besser bezahlen, damit sie dort bleiben! Diese beiden Sachen müssten getan werden! Wenn ich mir aber die Nachrichten zu der Finanzkrise anschaue, dann sinken alle meine Hoffnungen.

    Lieske. Sie sind in Deutschland sehr bekannt als der Autor des Romans "Die Welle", er ist hier Klassenlektüre seit 1984. Haben Sie jemals mit dem Lehrer gesprochen, der das Faschismusexperiment durchgeführt hat?

    Rhue: Mit Ron Jones habe ich nie gesprochen, es hat sich einfach nicht ergeben. Aber ich habe mich mit Schülern unterhalten, die an dem Versuch teilgenommen haben. Und jetzt, so viele Jahre später, scheint mir das Experiment gar nicht mehr das Wichtigste zu sein, was zählt, ist die Botschaft, die Geschichte, die daraus gewachsen ist. Ich bin sehr froh darüber, dass sie ein aktualisiert.

    Lieske. Haben Sie den Film gesehen?

    Rhue: Ja, ich habe den Film gesehen und finde ihn sehr gelungen. Diese Fassung ermöglicht es den Teenagern von heute, sich damit zu identifizieren. Außerdem beantworten die Autoren des Films die Frage, was mit Robert geschehen ist. Es gibt da diesen Jungen, der am Ende ganz verloren dasteht, er war ja der Bodyguard des Lehrers. Und die Regisseure erfinden ein gewaltsames Ende für seine Geschichte. Auch wenn ich nicht ganz hundertprozentig einverstanden bin, mir gefällt der Versuch, seine Geschichte zu Ende zu erzählen. Bei mir hing der Junge ja in der Luft, und es war nicht ganz klar, was später aus ihm werden würde.

    Lieske. Ihre Buch und er Film sagen aus, dass Faschismus überall passieren kann. Stehen Sie heute noch zu dieser These?

    Rhue: Ich denke, es gab in den dreißiger Jahren in Deutschland eine historische Ausnahmesituation. Ich glaube nicht, dass Leute, die zufrieden sind, und die genug zum Leben haben, sich zu einer solchen Notgemeinschaft zusammenschließen. Aber wenn die Leute unglücklich sind, wenn es ihnen schlecht geht, wenn eine Inflation droht, dann sieht es anders aus. In vieler Hinsicht erleben wir das gerade in den Vereinigten Staaten. Jetzt sind auf einmal die Banker an allem Schuld. Vielleicht haben sie ja etwas versäumt, aber trotzdem gibt es jetzt fast so etwas wie eine Pogromstimmung in Amerika, die Zeiten sind schlecht und wir brauchen jetzt einen Sündenbock. Wir schauen uns um und suchen den Schuldigen. Also, jetzt waren es die Banker! Ich glaube, so etwas liegt in der Natur des Menschen, wenn es ihm gerade schlecht geht.

    Lieske. Sehen Sie sich in dieser Situation als Schriftsteller gefordert?

    Rhue: Also, ich glaube, ich bin nur einer von vielen Leuten die sich Gedanken machen, aber ich habe natürlich ein Forum in meinen Lesern, und ich kann auf solche Dinge aufmerksam machen. Ich schreibe für junge Leute, weil bei ihnen die Zukunft liegt, und weil sie in die Welt noch hineinwachsen.