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"Aus diesem Jubiläumsjahr etwas Notwendiges für die Zukunft zu lernen"

Er war der erste gesamtdeutsche Bundespräsident - und gilt vielen Deutschen noch heute als der Prototyp in diesem Amt: Richard von Weizsäcker. Seine Biografie ist vielschichtig und wie kaum eine andere durch die Ereignisse der bundesdeutschen Geschichte geprägt: Aufstieg Hitlers, 2. Weltkrieg, Wiederaufbau, Ost-Verträge, Wiedervereinigung.

    Sprecher: Dr. Richard von Weizsäcker, geboren 1920, war der sechste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der erste des wiedervereinigten Deutschland. Seine zwei Amtszeiten dauerten von 1984 bis 1994. Früh wählte er als seinen ersten Amtssitz das Schloss Bellevue in Berlin. Vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten war Dr. Richard von Weizsäcker Regierender Bürgermeister von Berlin. Nach seinem Jurastudium übernahm Richard von Weizsäcker verschiedene Positionen in der Wirtschaft, vor allem aber engagierte er sich in der evangelischen Kirche. 1969 wurde er für die CDU in den Deutschen Bundestag gewählt. Er gehörte dort zu einer kleinen Minderheit, die für die Ostverträge stimmte. Noch heute als Bundespräsident außer Dienst ist sein politischer Rat gefragt.

    Richard von Weizsäcker: Als dann tatsächlich der 9. Oktober '89 ohne irgendein Blutvergießen, ohne eine Intervention von Streitkräften zu Ende ging, da hatten eben doch die daran beteiligten bürgerschaftlichen Kräfte das Gefühl, jetzt haben wir's geschafft.

    Sprecher: Deutsche Teilung, deutsche Vereinigung.

    Dieter Jepsen-Föge: Herr Bundespräsident, dieses Jahr 2009 ist wirklich ein Jahr der Jahrestage, am 23. Mai vor 60 Jahren wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verkündet, auch die DDR wurde in dem gleichen Jahr 1949 gegründet, und vor 20 Jahren, am 9. November 1989, fiel die Mauer. Sie selbst waren im Mai des Jahres 1989 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt worden und wurden auf diese Weise der erste Präsident des vereinten Deutschland. Rückblickend betrachtet, haben die Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonderes Glück gehabt oder auch die richtigen Schlussfolgerungen gezogen aus den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

    Richard von Weizsäcker: Es ist wohl doch eine Verbindung mehrerer Einflüsse. Zunächst ist es zur Teilung Deutschlands dadurch gekommen, dass bei den Friedensverhandlungen, soweit man das so nennen darf, die Sowjetunion sich mit den Amerikanern darauf verständigt hat, nicht die Teilung auf Deutschland alleine zu beziehen, sondern auf Europa im Ganzen. Und dann haben die jeweiligen führenden Siegermächte ihrerseits dafür gesorgt, dass aus den beiden Teilen Deutschlands Teilstaaten gebildet wurden. Die DDR, das wurde auf Anordnung der Sowjetunion vollzogen, die Gründung der Bundesrepublik, also des alten Westdeutschland, da gab es auch eine Art von Anordnung von den westlichen Siegermächten, die das als das Ziel nominiert haben. Das war gar nicht leicht durchzusetzen, denn es gab manche Ministerpräsidenten in den westdeutschen Bundesländern, die sagten: Wenn wir einen solchen Teilstaat gründen, dann gefährden wir damit unser Ziel einer späteren Vereinigung. Und letzten Endes hat den Ausschlag dafür gegeben, dass die westdeutsche Bundesrepublik dann doch gegründet wurde, der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin-West, Reuter, der immer darauf hingewiesen hat, wenn wir überhaupt je das Ziel einer Wiedervereinigung erreichen, dann können wir das nur unter Einschluss von Berlin und quasi auch unter einer Anführung einer Verständigung der Siegermächte darüber, dass es in dieser Richtung vorangehen kann. Also, insofern war das nicht leicht. Dann muss man auch weiter bedenken, die Siegermächte waren sehr bald verstrickt in den ausbrechenden Kalten Krieg. An einer Vereinigung der beiden deutschen Teilstaate waren sie in Wahrheit damals durchaus nicht interessiert, auch nicht die Westmächte. Und dass der damalige Bundeskanzler Adenauer in dieser Richtung seine Freude daran hatte, mit den Franzosen näher zu kommen, erstens, und zweitens mit den Amerikanern die Frage der Sicherheit nach außen klären zu können, das hat er gut gemacht, das hat er mit der ihm eigenen Würde und Überzeugungskraft auch getan, und dann konnte hier in diesem Westdeutschland ein Aufbau beginnen, zu dem aber nun wiederum die Siegermächte ihrerseits wesentlich beigetragen hatten.

    Jepsen-Föge: War denn trotzdem 1989 sozusagen ein Glücksfall für die deutsche Geschichte oder war's auch eben verdientes Glück, nicht nur durch Adenauers Politik, sondern auch durch die folgenden Regierungen?

    von Weizsäcker: Es gab Ursachen dafür in beiden Teilen Deutschlands. Wir dürfen doch nicht vergessen, dass es in der DDR in einem zunehmenden Maß, heranwachsende Bürgerstimmen, Bürgerkräfte gegeben hat. Wenn Sie heute einen Bürger aus der ehemaligen DDR fragen, was eigentlich der entscheidende Tag war, durch den dann schließlich die Vereinigung möglich war, dann würde er möglicherweise gar nicht in erster Linie den 9. November des Jahres ...

    Jepsen-Föge:: ... den 9. Oktober vielleicht ...

    von Weizsäcker: ... sondern den 9. Oktober. Der 9. Oktober, das war die große Demonstration, die aus der Nikolaikirche in ...

    Jepsen-Föge: ... und die friedlich blieb.

    von Weizsäcker: ... und die vollkommen friedlich blieb. Man versammelte sich in der Kirche oder davor, man verständigte sich auf die Friedfertigkeit. Zugleich musste man aber erwarten, dass die Sicherheitskräfte in der DDR nun ihrerseits eingreifen würden. Es ging sogar so weit, dass bei den Krankenhäusern Reserveplätze angeordnet wurden für den Fall, dass es zu vielen schweren Verwundungen und Verletzungen kommen würde, und gleichzeitig wurde immer bei den Russen nachgefragt: Ihr müsst uns jetzt ein Signal geben oder mitwirken. Gorbatschow hatte aber seinen Amtskollegen Reagan nicht nur aus einem Aufrüster zu einem Abrüster gemacht gemeinsam, sondern er hat eben auch gesagt, die eigenen Kräfte in den jeweiligen verbündeten Ländern der Sowjetunion dürfen ihrerseits nicht behindert werden. Das war schon eine wirklich große Leistung. Und als dann tatsächlich der 9. Oktober '89 ohne irgendein Blutvergießen, ohne eine Intervention von Streitkräften zu Ende ging, da hatten eben doch die daran beteiligten bürgerschaftlichen Kräfte das Gefühl, jetzt haben wir es geschafft.

    Jepsen-Föge: Damals am 9. November '89 oder um diese Zeit herum hat nicht nur Willy Brandt davon gesprochen, dass nun zusammenwächst, was zusammenwachsen soll, Sie haben das noch einmal variiert und haben gesagt: Aber wirklich zusammenwachsen und nicht zusammenwuchern. Wenn Sie jetzt zurückblicken: Ist das gelungen, ist Ihre Hoffnung erfüllt oder sehen Sie das auch mit etwas Enttäuschung rückblickend, was wir sozusagen "innere Einheit" nennen?

    von Weizsäcker: Das ist ein langer und noch nicht abgeschlossener Prozess durch die letzten 20 Jahre hindurch. Hier muss man auch wieder sagen: Die meisten Demonstranten vom 9. Oktober '89, über den wir gerade gesprochen haben, die Leute, die neue Parteien zu gründen sich bemühten, die hatten ja gar nicht in erster Linie die Idee, wir wollen uns möglichst schnell vereinigen. Was sie vor allem wollten, war, eine innere Reform der DDR selber in einer freiheitlich-demokratischen Richtung zu erreichen. Und das ist ja eben gerade das, was sie auch besonders auszeichnet. Dass dann gleichzeitig dennoch der Wunsch zu einer Vereinigung sowohl aus dem menschlichen Zusammenhang wie aber auch aus materiellen Gründen sehr rasch die Oberhand gewann, kann ja doch niemand verwundern. Und insofern ist dann der Weg in Richtung auf eine Vereinigung schon im Winter 89/90 einigermaßen definitiv abzusehen gewesen ...

    Jepsen-Föge: Ist es denn bis zum 3. Oktober ein gradliniger, aber wenn Sie nun diese 20 Jahre von heute Revue passieren lassen, ist denn das geglückt, was Sie selber gehofft haben, dass es zusammenwächst und nicht zusammenwuchert, sind wir sozusagen heute ein Volk auch im Empfinden?

    von Weizsäcker: Also mit dem Stichwort "wuchern" - Willy Brandt und ich haben überdies in der Frage ganz zusammengestimmt - war natürlich in erster Linie gemeint: Wir, die wir aus dem Westen kommen, dürfen nicht davon ausgehen, es sei einfach furchtbar leicht, alles in einer Form miteinander zu vereinen, von der man dann sagen könnte, hier werden einfach westliche gesetzliche Grundlagen, hier werden westliche Erfolgsschritte von Westen nach Osten in einer Form sich als exportierbar erweisen, die dazu führen, dass ein allmählicher Gleichklang der Lebenschancen und so weiter entstehen würde. Bitte, wir haben natürlich bis zum heutigen Tag eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit in den östlichen Bundesländern, wir haben eine nach wie vor große Abwanderung, vor allem von jungen Menschen dorthin, wo sie die nötige Ausbildung und anschließenden Arbeitsplatzchancen bekommen. Junge Leute sind dann inzwischen in Richtung Hamburg oder Süddeutschland gegangen. Will nur sagen, die Verständigung unter den Menschen zwischen Ost und West hat ja trotz der Teilung nie aufgehört.

    von Weizsäcker: Der Versailler Vertrag am Ende des Ersten Weltkrieges war eine zu schwere Last für das besiegte Deutschland.

    Sprecher: Der Aufstieg Hitlers.

    Jepsen-Föge: Herr Bundespräsident, wir führen dieses Gespräch in einer Zeit einer großen Wirtschafts- und Finanzkrise; es wird erinnert an die Krise von 1929, also vor 80 Jahren, und es damit verglichen. Haben Sie den Eindruck, dass diese Krise von einem solchen Ausmaß ist, dass sie nicht nur unsere Wirtschafts- und Finanzpolitik gefährdet, sondern die Demokratie destabilisiert?

    von Weizsäcker: Ich glaube nicht, dass es die Demokratie destabilisiert. Die Auswirkungen der schweren Krise aus dem Jahr 1929 und 30/31 waren insofern viel tiefgreifender auf deutschem Boden, weil ja damals noch immer das Heranwachsen der Weimarer Republik zu einer wirklich von der ganzen Bevölkerung mitgetragenen Demokratie noch nicht richtig vollzogen war. Wir haben einen aus Breslau stammenden Arztsohn, einen jüdischen Arztsohn - Fritz Stern heißt er, er ist im Alter von zwölf Jahren mit seiner Familie nach Amerika ausgewandert -, der hat neulich anlässlich einer seiner mehreren, sehr wichtigen Reden, jetzt nach der Vereinigung in Deutschland darauf hingewiesen, man müsse immerhin verstehen, dass damals im Jahr 1929 und '30, wo so wahnsinnig viele Arbeitslose zu verzeichnen waren bei einer Bevölkerung von 60 Millionen sieben Millionen Arbeitslose, das muss man mal vergleichen mit späteren Zahlen, das gleichzeitig bei den ersten großen außenpolitischen Erfolgen, die dem Hitler beschert wurden. Der machte also ein Flottenabkommen mit Großbritannien und einen Nichtangriffspakt mit den Polen und ein Konkordat mit dem Vatikan, also, was sollten denn die Menschen in dieser Situation, die das Wort "Auschwitz" natürlich noch nie gehört hatten und sich nicht das Geringste vorstellen konnten, unter dem, was dann schließlich zum grausamen Holocaust herankam - was sollten die denn anders sich wünschen als zu sagen: Vielleicht geht's hier vorwärts, dass ein Deutscher, der seine Heimat verloren hat, ein Amerikaner geworden ist, in dieser Form schildert, dann hat das doch einen Gehalt, dem man auch ernsthaft zuhören darf, ohne dass damit irgendeines der schrecklichen Verbrechen entschuldbar wird.

    Jepsen-Föge: Sie sind ja aufgewachsen als Sohn auch eines Diplomaten in unterschiedlichen europäischen Hauptstädten, Berlin eben zum großen Teil, aber Sie waren ja auch in Kopenhagen ...

    von Weizsäcker: Ja, ja, bei mir war das natürlich die Ausnahme, ich habe Lesen und Schreiben in Kopenhagen gelernt ...

    Jepsen-Föge: Ja ...

    von Weizsäcker: ... im Alter von sechs Jahren. Und später bin ich dann noch mal in der Schweiz zur Schule gegangen und hatte außerdem auch noch vor meinem Wehrdienst die Möglichkeit, je sechs Monate in England und Frankreich ein Studium zu beginnen.

    Jepsen-Föge: Sie waren doch wahrscheinlich auch sehr früh dadurch politisiert, einmal durch Ihr Elternhaus und denn auch durch Freunde und Klassenkameraden in anderen Ländern?

    von Weizsäcker: Also ich habe vor allem von meinem Vater von vornherein immer eines gelernt: Der Versailler Vertrag am Ende des Ersten Weltkrieges war eine zu schwere Last für das besiegte Deutschland. Die Briten haben das auch gesehen und haben sich infolgedessen zurückgehalten. Von den Franzosen oder damals sogenannten kleinen Ententes aber ging es anders. Und dann war die politische Zielsetzung aller Regierungen in der Weimarer Republik: Wir müssen die schwersten Bedingungen des Versailler Vertrages einer Revision entgegenbringen, aber natürlich mit friedlichen Mitteln. Und es war die Aufgabe des Auswärtigen Amtes, in dieser Richtung sich einzusetzen, und dafür gab es auch viele ausländische Regierungs- und Diplomatiekollegen, eben insbesondere auch in Großbritannien, wo man sich darum bemühte. Aber als dann Hitler eben sehr rasch mit seiner Aufrüstung voranmarschierte, als er dann seinerseits sagte, er müsse mit einem militärischen Schlag die Landkarte verändern, bevor England und Frankreich auf einen neuen Weltkrieg hin gerüstet gewesen seien, also nach dem Münchner Abkommen im Jahr '38 und nach dem Einmarsch in Prag, Frühjahr 1939, war die Aussicht, mit friedlichen Mitteln zu einer festeren Basis zu kommen, vertan.

    Jepsen-Föge: War das aber auch bis dahin ja die Hoffnung Ihres Vaters, der im auswärtigen Dienst war, der Diplomat war ...

    von Weizsäcker: Ich habe es einmal so ausgedrückt, wie ich's wirklich erlebt habe: Ich habe ihn seit dem 1. September 1939 überhaupt nie mehr lachend gesehen, er war vollkommen verzweifelt. Und ich bin in den Krieg am 1. September in Polen einmarschiert, selber habe viel zu wenig gewusst von Polen, wie wir alle viel zu wenig von Polen gewusst haben. Dann ist auch noch am 2. September '39 - wir waren im selben Bataillon - mein eigener Bruder gefallen, und wir sind hineingeraten in diesen Krieg, jedenfalls ich von meinem Elternhaus her, in der festen Überzeugung: Das ist ein Krieg, der nur Grausamkeit auslöst und niemals zugunsten friedlicher Ziele ausgehen kann, die Deutschland vielleicht da und dort auch noch legitimerweise hätte vertreten können.

    von Weizsäcker: Meinerseits habe ich frühzeitig Claus Stauffenberg kennengelernt ...

    Sprecher: Im Krieg.

    Jepsen-Föge: Ihr Vater war ja zu der Zeit Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, nicht? 1938 ist er's geworden, eigentlich ja zu einer Zeit, wo er dann kaum noch Hoffnungen haben konnte, dass es doch eine friedliche Lösung gibt?

    von Weizsäcker: Sehen Sie, da ist also zum Beispiel ein besonderes, auch in meiner Erinnerung gebliebenes Datum, wenn Sie so wollen, das war das Münchner Abkommen im Oktober des Jahres 1938. Es war klar, dass Hitler seinerseits mit Gewalt in die Tschechoslowakei einmarschieren wollte. Da gab es so eine Art von Diplomatenverschwörung, das war der britische Botschafter Henderson, der italienische Botschafter Attolico und mein Vater, die gesagt haben: Wir müssen jetzt Regierungen in Europa finden, die ihrerseits mit Hitler zu Verhandlungen zusammenzukommen bereit sind und dort auf Lösungen sinnen, die die Kriegsgefahr abwendet. Das gelang Mussolini gegenüber, und Mussolini kam dann nach München zusammen mit dem französischen Premierminister und dem britischen Premierminister, und dann wurde das Münchner Abkommen geschlossen, und da wurden dann die Ziele, von denen Hitler zunächst behauptete, sie seien seine einzigen, auf eine friedliche Weise herbeigeführt, und dann dauerte es nur noch ein paar Monate, bis dann schließlich Hitler sagte, nein, jetzt werde aber mit Gewalt in Prag einmarschiert werden. Und seither bleibt dieses Münchner Abkommen, was damals zunächst sowohl in Frankreich wie in England begrüßt wurde, als eine Rettung des Friedens, bleibt als das charakteristische Datum der Kapitulation der Demokratien gegenüber einem Diktator.

    Jepsen-Föge: Sie hatten, Herr von Weizsäcker, als Sie in den Krieg zogen, sehr bald Kontakt zu einer Gruppe von Männern, auch Ihr Freund Axel vom Busche, die später zu den Widerstandskämpfern und auch zu den Attentätern auf Adolf Hitler gehörten. Wie nah war da Ihr Kontakt?

    von Weizsäcker: Ich gehörte zu einem Potsdamer Infanterieregiment, in dem man auf der einen Seite sich zunächst darüber gefreut hatte, dass man für das Regiment auch wieder eine Unterstützung im Staat bekam und dass das auch ernst genommen wurde, auf der anderen Seite aber bestand - also bitte, ich war ja zunächst nur Rekrut, bis ich dann selber Reserveoffizier wurde oder schließlich auch Regimentsadjutant wurde, dauerte das ja natürlich längere Zeit, hatte man aber eben doch seine Überzeugung, dass man in Bezug auf das, was aus dem Parteimilieu da hineinzuwirken sich bemühte, keinerlei Kontakt. Meinerseits habe ich frühzeitig Claus Stauffenberg kennengelernt, das lag nun wiederum daran, dass Stauffenberg ja zu dem Dichter Stefan George eine nahe Beziehung hatte, und mein acht Jahre älterer Bruder von mir, der hat mich einmal zu einem Besuch zu Stefan George mitgenommen, und als ich dem Stauffenberg zum ersten Mal begegnet, er hörte meinen Namen, da fragt er mich gleich als Erstes, was ich denn von George-Gedichten hielte. Darum ging es natürlich zunächst gar nicht. Aber mein nächster Freund - Sie haben seinen Namen schon genannt, Axel von dem Busche - der wurde einmal abkommandiert in den rückwärtigen Heeresbereich, und dort hat er zusammen mit einem Freund gesehen, wie Juden und Zivilbevölkerungsangehörige, die auch Nichtjuden waren, ihrerseits dazu gezwungen wurden, Gräben auszugraben, hinunterzusteigen und dort ermordet zu werden. Und mit dieser Nachricht kam er wieder zurück zu unserem Regiment, und er sagte: Wir können nichts anderes als in dem kleinstdenkbaren Kreis uns bereithalten für den Fall, dass gegen dieses Unrechtsregime vonseiten der Angehörigen der kämpfenden Truppe etwas geschehen könne. Und dann hat Stauffenberg nach einem jungen Frontoffizier gefragt, der einmal eine Uniformvorstellung bei Hitler machen sollte, und Axel Busche wurde dafür - er war fast zwei Meter groß und ein schweigsamer, wirklich tapferer Mann -, und er wurde zu Stauffenberg geschickt, und dann sollte er dort das machen, was wir heute einen Selbstmordanschlag nennen.

    Jepsen-Föge: ... Termin kam's dann nicht?

    von Weizsäcker: Zu dem Termin kam's deswegen nicht, weil unmittelbar vor der vorgesehenen Terminvorführung der neuen Uniform die unglücklichen britischen Flieger bei einem Fliegerangriff das alles vorher zerbombt hatten. Er kam dann wieder zurück, es sind dann eben eigentlich wohl aus keinem anderen Regiment so viele Leute - also einer war ein Ordonanzoffizier bei Stauffenberg und ein anderer war auch dort beteiligt - sind dann nach dem 20. Juli auch in den Verdacht geraten und auch hingerichtet worden. Wir waren bereit, ich hatte mit einem Freund von Stauffenberg - Schulenburg hieß der, der auch Reserveoffizier in unserem Regiment war - mich noch vier Wochen vorher getroffen. Er hat mir gesagt, das steht jetzt unmittelbar bevor, und wenn es gelingt, dann werden wir euch holen und euch damit beauftragen, ein erfolgreiches Attentat nun auch zunächst erst mal im inneren Kreis einigermaßen abzusichern.

    Jepsen-Föge: Wie haben ...

    von Weizsäcker: Der Schulenburg ist selber dann aber auch wenige Tage darauf hingerichtet worden.

    von Weizsäcker: Von diesem Tag an war es Ende mit dem Mord und mit der Angst und mit dem schrecklichen Hinschlachten in den Konzentrationslagern oder in den Gefängnissen ...

    Sprecher: Kriegsende und Neuanfang.

    Jepsen-Föge: Wie haben Sie das Kriegsende erlebt? Später als Bundespräsident haben Sie in Ihrer berühmten Rede zum 8. Mai in die Diskussion gleichsam eingegriffen, ob der 8. Mai Niederlage oder Befreiung war, und Sie haben eindeutig gesagt, im Rückblick, das haben Sie auch in Ihrer Rede gesagt, im Rückblick als Befreiung, aber zu dem damaligen Zeitpunkt am 8. Mai 1945, wie haben Sie es da empfunden, doch als eine Niederlage? Sie haben ja auch in Ihren Erinnerungen geschrieben, dass für viele Menschen sogar das Leid dann erst richtig begann ...

    von Weizsäcker: Auch vollkommen richtig. Ich selber war noch mal verwundet worden im März '45 und war gerade auf Genesungsurlaub wieder zu Hause am Kriegsendetag. Bitte - ich habe versucht, so gut es mir möglich war, darauf hinzuweisen, für wie viele Menschen Leid, Heimatverlust, Tod, Familienverlust erst nach dem 8. Mai '45 begann. Und dennoch wird man eben doch auch auf ungezählt viele Menschen zu dem Gedanken vorstoßen, wo es heißt, von diesem Tag an war es Ende mit dem Mord und mit der Angst und mit dem schrecklichen Hinschlachten in den Konzentrationslagern oder in den Gefängnissen. Und außerdem eben doch mit einem ersten Schritt in Richtung auf das, was sich dann schließlich, als wir uns eine Verfassung geben konnten in Westdeutschland, dazu führte, jetzt können wir wirklich die Demokratie als Lebensweg bei uns ernsthaft aufzubauen versuchen, was uns ja noch während der Weimarer Zeit weithin nicht ausreichend gelungen war.

    Jepsen-Föge: Sie haben immer wieder viel über Schuld und Verantwortung gesprochen, nicht nur in der Rede zum 8. Mai, und man hat den Eindruck, auch wenn man Ihre Erinnerungen liest, das ist auch sehr gespeist durch Ihre Verteidigung für Ihren Vater beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, wo Sie ja auch gesprochen haben über das, was ist wirklich Schuld, was ist Verantwortung, wie man damit umgeht. Hängt das zusammen?

    von Weizsäcker: Wissen Sie, mein Vater hat, als er zum ersten Mal von amerikanischen Anklagevertretern vernommen wurde, gesagt, also, er bäte sie um Verständnis dafür, aber er fände, er sei hier vor dem falschen Gericht.

    Jepsen-Föge: Er war ja auch zunächst als Zeuge geladen,

    von Weizsäcker: Er ... Jaja, aber er war zuletzt ... seine letzte Aufgabe war Botschafter im Vatikan, und es gibt immerhin ein Dokument des Reichssicherheitshauptamtes, in dem drinstand, sobald unser Botschafter am Vatikan wieder für uns griffbereit ist, muss er bei uns vor Gericht gestellt werden, denn er hat mit Vertretern anderer Mächte daran gearbeitet, den Ausbruch des Krieges und seine Ausweitung zu verhindern, und das ist Landesverrat. Also, dass ich dann von 'nem amerikanischen Gericht die Möglichkeit bekam, mich an der Verteidigung meines Vaters zu beteiligen, hat mir die Möglichkeit gegeben, viel intensiver - ich habe meinen Vater dabei damals fast jeden Tag gesehen und gesprochen - mit ihm wirklich vertraut zu werden, mit seinem eben sehr schweren Weg. Und dann, als er zunächst verurteilt wurde, hat dann der amerikanische Hohe Kommissar - McCloy hieß er hier, der amerikanische Hohe Kommissar hier im amerikanisch besetzten Gebiet - gesagt, also er sei zwar keine Revisionsinstanz, die gäbe es für die Nürnberger Prozesse nicht, aber mit den Mitteln, die er als die Gründe seiner Beurteilung des ganzen Falles ansähe, ordne er die sofortige Haftentlassung meines Vaters an, noch am selben Tag. Also, es war doch für alle Beteiligten furchtbar schwer, sich in Bezug auf den Lebensweg eines jeden, zumal wenn er auch ein wichtiges Amt, eine wichtige Aufgabe gehabt hatte, darüber im Klaren zu werden, was er wirklich wusste, was er anstrebte, womit er vielleicht da und dort auch Erfolg gehabt hat und womit er eben auch ganz gescheitert ist. Und selbstverständlich war niemandem klarer als meinem Vater, dass das, worum er und seine Freunde sich im Auswärtigen Amt bemüht hatten, eben gescheitert war.

    von Weizsäcker: Also bitteschön, wir wollten doch nicht einfach heranaltern, bis ihr immer alles weitermacht, so gut wie ihr's eben könnt - und ihr könnt's ja auch gut, das bezweifeln wir ja gar nicht ...

    Sprecher: Engagement in Staat und Kirche.

    Jepsen-Föge: Sie selber, Herr von Weizsäcker, hatten ja auch zunächst in den auswärtigen Dienst gestrebt, Sie wollten Diplomat werden, vielleicht in die Politik gehen, das ist gescheitert. Im Auswärtigen Amt sind Sie zunächst nicht aufgenommen worden, haben eine Wirtschaftskarriere gemacht - ich verkürze das mal etwas - und sind später gleichsam als Seiteneinsteiger in die Politik gekommen.

    von Weizsäcker: Na ja, also es war so: Ich bin mal zusammen mit fünf oder sechs anderen jungen Leuten dem damaligen Bundeskanzler Adenauer vorgestellt worden. Dann fragte er jeden von uns, wie heißen Sie und was machen Sie und so weiter. Als ich drankam, sagte er: Na, jetzt gründen Sie mal Ihre Familie und bilden sich gut aus und übernehmen Sie Ihren Beruf, damit Sie Ihre Familie auch unterhalten können; in der Politik brauchen wir Sie nicht! Das bezog sich natürlich nicht auf meine Person, er kannte mich ja gar nicht, hatte ja gerade erst zum ersten Mal mich gefragt. Das war aber Ausdruck dafür, dass die aus der Weimarer Republik mit ihrer eigenen Erfahrung am Anfang des Lebens der Bundesrepublik nun die Zügel in der Hand hatten, fanden, wir machen das so gut wir es können, und die anderen sollen sehen, wie sie ihre Wege finden. Ich finde, Adenauer selber und auch die anderen haben ein bisschen gezögert damit, junge Leute heranzuziehen. Und wir haben dann auch gesagt, und das habe ich Adenauer später auch einmal gesagt: Also bitteschön, wir wollen doch nicht einfach heranaltern, bis ihr immer alles weitermacht, so gut wie ihr's eben könnt, und ihr könnt's ja auch gut, das bezweifeln wir ja gar nicht. Es hat auf diesem Gebiet dann aber für mich eigentlich eine ganz andere Entwicklung gegeben. Ich war zwar in der Wirtschaft, ich war aber vor allem im Rahmen meiner evangelischen Kirche besonders aktiv von vornherein schon seit den 60er-Jahren mit der Frage beschäftigt, wie kommen wir mit unseren ehemaligen Kriegsgegnern im Osten ...

    Jepsen-Föge: ... als Präsident des Evangelischen Kirchentages, Sie waren auch Mitverfasser der Ostdenkschrift der EKD.

    von Weizsäcker: Die Ostdenkschrift, die war in dieser sogenannten Kammer für Öffentliche Verantwortung, deren Stellvertretender Vorsitzender ich war, da haben wir diese Ostdenkschrift verfasst, und dann haben wir uns damit an die Parteiführungen gewandt. Die Parteiführung war - das war Mitte der 60er-Jahre - die waren damals auch alle noch nicht so weit zu sagen: Jaja, wir müssen jetzt auch wirklich ernsthaft anfangen, mit den Polen zu sprechen. Es ging ja zunächst vor allem um die Frage: Kommt vielleicht doch noch ein Friedensvertrag? Und könnte mithilfe eines solchen Friedensvertrages derjenige, der seine Heimat verloren hatte, auf diese Weise in die alte Heimat wieder zurückkehren? Aber das war eine Illusion. Wir konnten gar nicht anders, als auch von Westdeutschland aus die neu entstandene reale Situation der Oder-Neiße-Grenze unsererseits anzuerkennen, um auf diese Weise mit den Polen und den anderen verbündeten Ländern der Sowjetunion wieder in Kontakt zu kommen. Die Annäherung mit den Franzosen war ja viel leichter. Schon deshalb, weil die eigentlichen Strafen für unseren Angriffskrieg und die Verbrechen, die in den besetzten Gebieten durch Deutsche gemacht wurden, weil diese Strafen ja alle im Osten geschehen waren. Polen war um ein Riesenstück durch die Sowjets nach Westen verschoben worden. Daraufhin wurden dann die Polen ihrerseits auch nach Westen verschoben. Die Franzosen dagegen - de Gaulle ist dafür die Hauptpersönlichkeit, die zu nennen ist - waren eigentlich von den angelsächsischen Mitsiegern, vor allem von den Amerikanern und Engländern, gar nicht so richtig zu den Siegern mitgezählt worden. Franzosen waren früher aber auch eine mit ihrer Stimme rings um die Welt hörbare gewesen. Und nun die Aussicht, eine Europäische Gemeinschaft zu gründen, und das unter Führung der Franzosen, das war etwas für die Franzosen sehr Willkommenes, und daran haben die Westdeutschen sehr bereitwillig mitgemacht, denn sie waren froh, nun in den Klub wieder aufgenommen zu werden. Und auf diese Weise ging also die Verständigung mit den ehemaligen Kriegsgegnern in Frankreich relativ leicht vor sich, und umso viel schwerer aber war's in Richtung auf Polen und die anderen, also auch in Richtung auf die Tschechoslowakei.

    von Weizsäcker: Aber jedenfalls habe ich eben doch mit Nachdruck versucht, mit dafür einzutreten, dass wir eine Politik der Entspannung machen, und die kam dann Schritt für Schritt seit dem Jahr 1969 zustande bis hin zur Konferenz von Helsinki im Jahre 1975 ...

    Sprecher: Minderheitenpositionen in der CDU.

    Jepsen-Föge: Sie haben dann ja aber doch sozusagen gewechselt, Sie sind in die Politik gewechselt ...

    von Weizsäcker: Ja ...

    Jepsen-Föge: ... , wenn auch spät 1969, und es ist ja interessant und nicht untypisch, dass die Themen, mit denen Sie sich vorher beschäftigt hatten, eigentlich dieselben blieben, denn dann ging es um die so genannte neue Ostpolitik, Willy Brandt zum Beispiel ...

    von Weizsäcker: ... das war doch der ganze Grund, ich habe mein Amt als Kirchentagspräsident abgelegt und habe dann zum ersten Mal kandidiert für den Bundestag. Kaum saß ich im Bundestag, hatte ich doch auch manche schwierige Auseinandersetzung mit meiner eigenen Fraktion.

    Jepsen-Föge: Ja sicher, sodass man eigentlich gefragt hat, sind Sie in der verkehrten Fraktion, in der verkehrten Partei, denn Sie haben ja - die Hörer wissen das nicht alle - Sie haben ja für die Verträge gestimmt und gehörten damit zu einer Minderheit in Ihrer Partei.

    von Weizsäcker: Jaja, das ohne Zweifel, zu einer ziemlich kleinen Minderheit. Das ändert aber nichts daran, dass mancher, der in der Politik seine Standpunkte vertreten hat, schon gelegentlich dem Vorwurf begegnen musste, er sei in der falschen Partei. Das ist Helmut Schmidt überdies auch passiert. Also, ich will das gar nicht miteinander vergleichen, seine Verantwortung war ja größer als die meine. Aber jedenfalls habe ich eben doch mit Nachdruck versucht, mit dafür einzutreten, dass wir eine Politik der Entspannung machen. Und die kam dann Schritt für Schritt seit dem Jahr 1969 zustande bis hin zur Konferenz von Helsinki im Jahr 1975. Und eines muss man ja immer sagen: Diese Entspannungspolitik, die die westdeutsche Bundesrepublik machte, widersprach zwar zunächst dem ursprünglichen ostpolitischen Ziel von Bonn, welches lautete: Wenn jemand diplomatische Beziehungen mit der DDR aufnimmt, dann müssen wir unsere Beziehungen zu ihm abbrechen.

    Jepsen-Föge: Nach der Hallstein-Doktrin ...

    von Weizsäcker: Nach der Hallstein-Doktrin. In Wirklichkeit kam aber nach dem Fall der Mauer unvermeidlicherweise die Aufgabe auf den Regierenden Bürgermeister von Berlin-West zu, etwas für die Bevölkerung Erleichterndes durchzusetzen, wo noch die Mauer jetzt da war. Aber wie konnte man das denn anders erreichen, als mit den Autoritäten jenseits der Mauer auch zu reden? Und da kam dann, wenn Sie so wollen, eine Ergänzung zur Hallstein-Doktrin durch das, was Egon Bahr und Willy Brandt zusammen in Westberlin machten, und die Westberliner Bevölkerung hat es ihnen gedankt.

    Jepsen-Föge: Man hatte immer gespürt, Herr von Weizsäcker, dass Sie, ich will nicht sagen gerade, über den Parteien standen, aber doch auch eine kritische Distanz eben zu Ihrer eigenen Partei hatten, zur CDU, und es durchaus auch Sympathien zu einer anderen Partei gab, zu Willy Brandt und Egon Bahr und Helmut Schmidt. Ist das gleichsam ...

    von Weizsäcker: ... ich wollte ja gar nicht in eine andere Partei. Die CDU/CSU, das war eine der beiden großen Volksparteien. Und ich habe es immer für besonders wichtig gehalten, dass auch in dieser großen Volkspartei, in Bezug auf die Außenpolitik und gerade auch in Bezug auf die Ostpolitik, eine Linie sich durchsetzt, mit der wir dann langfristig auch weiterleben und auf die wir aufbauen können. Also, ich meine, da waren die Verträge, der sogenannte Warschauer Vertrag mit den Polen und der Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion, durch die Regierungen unterschrieben. Da kam es dann plötzlich zu einem Misstrauens-... Absetzungsantrag im Bundestag. Ich habe in meinem eigenen Parteivorstand zusammen mit zwei anderen Kollegen dagegen votiert, weil ich gesagt habe: Wo wollt ihr denn eigentlich hin? Die ganze Welt sieht, dass hier eine gewählte deutsche Regierung die Verträge abgeschlossen hat, und jetzt wollt ihr plötzlich sagen: Nein, nein, das ist gar nicht ernst gemeint, jetzt ist 'ne andere Regierung hier, und wir widersprechen der Unterschrift unserer Vorgängerregierung, das kann man international doch in gar keiner Weise durchsetzen. Aber, bitte, solche Auseinandersetzungen hat es immer mal wieder innerhalb von verschiedenen Parteien gegeben, und ich finde es doch nur gut, wenn in den Parteien noch wirklich offen diskutiert wird und in den Parteien nicht nur ein einziges Ziel bleibt, nämlich die nächste Wahl gegen die anderen zu gewinnen.

    von Weizsäcker: Die Aufgabe einer strikten Überparteilichkeit im Amt des Bundespräsidenten, wenn ich das so sagen darf, ist mir in der Tat nicht schwer gefallen.

    Sprecher: Der Bundespräsident.

    Jepsen-Föge: Wegen dieser Grundhaltung - ich nenne es mal so - finden ja viele es natürlich, dass Sie Bundespräsident waren, und sagen, Richard von Weizsäcker ist eigentlich die Verkörperung des Bundespräsidenten. Haben Sie auch das Gefühl, dass dieses Amt gleichsam zu Ihnen besonders passte? Sie haben es in zwei Amtsperioden ausgeübt.

    von Weizsäcker: Na ja, ich habe immer gefunden, wenn man in einer verantwortlichen Stelle sitzt - vorher war ich Regierender Bürgermeister von Berlin-West -, dann ist man doch verantwortlich für alle miteinander und nicht in erster Linie nur für das Wohl der eigenen Partei. Gleichzeitig darf man ja für die eigene Partei werben, wenn man das Richtige macht, man darf ja sagen, unsere Überlegungen sind die und die. Aber die Aufgabe einer strikten Überparteilichkeit im Amt des Bundespräsidenten, wenn ich das so sagen darf, ist mir in der Tat nicht schwer gefallen.

    Jepsen-Föge: Wir haben vorhin einmal über die 8.-Mai-Rede gesprochen, das heißt, ich habe sie erwähnt. Ist das auch in Ihrer Sicht eine ganz besondere Rede gewesen, etwas, was Ihnen wirklich ... wonach es Sie drängte, diese Rede zum 8. Mai 1985 zu halten, also 40 Jahre nach der Kapitulation?

    von Weizsäcker: Wissen Sie, es war so, inzwischen ... also bitte, im Jahr '85 war zwar Deutschland und Europa nach wie vor geteilt, im Übrigen aber gab es feste Bündnisse und die Europäische Gemeinschaft und die NATO, und es hatte sich zum Anfang Mai des Jahres '85 der amerikanische Präsident Reagan zum Staatsbesuch angesagt. Und dann war mal eine Zeit lang darüber nachgedacht worden, ob er nicht vielleicht in den Bundestag auch kommen wolle und vielleicht dort auch eine Rede halten wollte. Und dann hat es dann gewisse Vorgespräche unter uns gegeben. Mein Votum war zu sagen, am Tag des Kriegsendes müssen wir Deutsche in erster Linie unter uns, uns über alles im Klaren werden. Es war überdies ein Gedanke, den dann auch sowohl Reagan als auch der damalige Bundeskanzler Kohl fanden: Wir können nicht an dem Tag des Kriegsendes sozusagen über erste Erfolge der NATO miteinander sprechen, sondern wir müssen darüber sprechen, was das für uns Deutsche bedeutet, welche Auslösung wir dafür gegeben hatte und welche Konsequenzen wir gezogen haben. Ich hätte damals aber bei Weitem nicht daran gedacht, dass infolgedessen ich vorm Bundestag 'ne Rede halten sollte. Aber die Aufgabe wurde mir dann zugewiesen, und ich hab sie wahrgenommen.

    Jepsen-Föge: Herr Bundespräsident, zum Schluss: Haben Sie den Eindruck, dass wir uns in diesem Jahr der historischen Jahrestage auch in einem Jahr befinden, das selber ein historisches Jahr werden könnte, dieses Jahr 2009, aus den unterschiedlichsten Gründen, vielleicht wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise. Ist das wieder so etwas wie ein deutsches Schicksalsjahr?

    von Weizsäcker: Zunächst glaube ich nicht, dass wir das Jahr 2009 vergleichen sollen mit dem, was wir vorher miteinander über das Jahr 1929 ausgetauscht haben. Das Nächste ist, wir leben in einem ganz anderen Bewusstsein in Bezug auf die Globalisierung aller Aufgaben, aber auch aller Krisen, gerade die jetzige Krise zeigt das mit besonderer Kraft. Oder wenn wir daran denken, was die langfristigen Aufgaben auf diesem Globus sind, nicht zuletzt in Bezug auf den Schutz der Natur und das Klima. In all diesen Fragen stehen wir jetzt sehr wohl im Bewusstsein dieser "Jubiläen" in Anführungsstrichen, die sich hier so summieren, stehen wir viel stärker im Bewusstsein, dass wir auf Lösungen nur noch zusammen kommen werden. Und in diesem Geist voranzugehen, das halte ich für das Jahr 2009 für besonders wichtig. Nehmen Sie nur ein Beispiel: Jetzt haben gerade alte Bekannte und Freunde von uns in Amerika ein Quartett gebildet mit dem Ziel, die Welt zu denuklearisieren, das heißt, die Atombomben Schritt für Schritt abzuschaffen. Dazu müssen Amerika und Russland wieder erneut zusammenarbeiten. Zu den Leuten, die zu diesem Quartett vor allem zählen, zählt Henry Kissinger, der ja immer eine große Rolle in der Außenpolitik gespielt hat. Jetzt haben wir bei uns in Deutschland auch ein solches Quartett gebildet, zu dem Helmut Schmidt und Genscher und Egon Bahr und ich gehören, um uns hier in Europa dafür einzusetzen und zugleich auch bei den Russen nachzufragen, sie sollten auch ein solches Quartett aufstellen, und dann sollten wir, auch wenn wir gar kein politisches Mandat dafür haben, eben doch Ausschau halten, wie wir solchen Zielen näher kommen. Das ist doch ein Charakteristikum dieses Jahres 2009, das zeigt, wie unendlich viel weiter die Entwicklung gegangen ist seit den Zeiten, als die Jahre und die Ereignisse in erster Linie nur durch die schweren, eifersüchtigen und Konflikte der einzelnen Nationen bestimmt wurden. Das ist heute anders. Und in diesem Sinne ist es unsere Aufgabe, aber auch unsere Möglichkeit, aus einem solchen Jubiläumsjahr etwas Notwendiges für die Zukunft zu lernen.

    Sprecherin: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Dieter Jepsen-Föge im Gespräch mit Richard von Weizsäcker.