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"Aus einem Totenhaus"

Eingezwängt zwischen der Arbeit am Film "Der neunte Tag" und der Geschäftigkeit der Berlinale fanden die Proben für das neue "Totenhaus" an der Deutschen Oper Berlin statt.

Von Frieder Reininghaus | 20.02.2005
    Der erste Eindruck bei der – unverständlich in Deutsch gesungenen – Premiere war, dass nicht viel Zeit und Aufmerksamkeit zu Verfügung stand, um die Begebenheiten in einem sibirischen Straflager, von denen Dostojewskijs Roman von 1862 und Leoš Janáčeks Oper von 1930 handelt, so auf die Bühne zu übertragen, dass sich diese "auf der Höhe der Zeit" bewegt. Lieblos-routiniert erschien der Umgang mit einem Werk, dessen Thematik außerordentlich virulent ist und dessen Musik dunkel funkeln müßte.
    Adam Fischer hat sich als Einspringer einen Namen gemacht. In Bayreuth durfte er nach dem Tod von Giuseppe Sinopoli den "Ring" weiterbetreiben, vermochte aber die Chance kaum zu nutzen. In Berlin sprang der nun für Christian Thielemann ein, der die Deutsche Oper schnöde im Stich ließ. Auch diese Riesenchance verstrich: Bei aller redlichen Bemühung blieb das musikalische Resultat glanzlos und ohne Dämonie, farblos und weithin zäh. Aber vielleicht ist das ja kongenial für den Ton "Aus einem Totenhaus".

    Matt wirkt auch Lenus Carlson in der zentralen Rolle des politischen Gefangenen Gorjanschikoff, der gleich bei Einlieferung 100 Peitschenhiebe verabreicht bekommt. Wie schon vor 17 Jahren in Paris setzte Schlöndorff die Drangsal und Schrecken, die Menschen den Mitmenschen bereiten, in Kontrast zu weiten Bildern einer schönen Natur. Mit sensiblen Strichen hat die amerikanische Künstlerin Jennifer Bartlett die Vorhänge für die Hintergründe entworfen. Wenn im zweiten Akt Hoffnungsschimmer aufkommen, Gorjantschikow sich mit dem jungen Tataren Aljeja befreundet, diesem Lesen und Schreiben beibringt, am Feiertag in der Eintönigkeit der Koch verteilt Piroggen und die Häftlinge (in Ketten!) Theater spielen dürfen, dann ergrünt der Hintergrund und tausend Vögelchen beleben die Tundra.
    Die von den Gefangenen präsentierten Schwänke kreisen nicht zufällig um das Thema Sexualität: "Don Juan" in rohester Kurzform oder "Die schöne Müllerin" und ihre Liebhaber. Schlöndorff zeigt die schrecklichen Männerstücke in äußerster Biederkeit, unterstreicht damit die schöne Gemütlichkeit seiner Inszenierung. Die erscheint im Sinne des Stadttheaters der 70er Jahre "realistisch". Aber die Wirklichkeit ist weitergegangen. Vielleicht hätte sich der Regisseur zur Frage angemessener Behandlung von Gefangenen vom Frankfurter Vizepolizeichef Daschner Rat einholen sollen.

    Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in Berlin wieder einmal eine anheimelnd antiquierte Form des Theatermachens als große Begütigung funktionieren sollte: Da sollte wohl kein Funke der Erkenntnis vom geläuterten Revolutionär Dostojewski überspringen in eine Gegenwart, in der der Präsident eines überaus befreundeten Landes das Lager Guantanamo betreibt. Von der Weiterentwicklung, welche das Verhältnis von Musiktheater und Filmtechniken in den letzten zwei Jahrzehnten erfuhr, zeigte sich keine Spur. Auch in diesem Sinn war die Produktion dezidiert anachronistisch – was freilich nur ein Teil des Premierenpublikums honorierte.

    Der vielfach verdienstvolle Schlöndorff ist prominent und sein Name sollte als Kassenmagnet dienen. Das war der Grund für seine Verpflichtung. Nun hat er lauthals den Wunsch geäußert, verstärkt zu Opernproduktionen in der Hauptstadt herangezogen zu werden, da er des Reisens müde sei. Die Idee, dass einer, der dergestalt überbelegt und ausgelaugt ist, das sündhaft teure Podium freigibt für Jüngere, die mit sich und der Kunst noch etwas anzufangen wissen – das kommt ihm nicht in den Sinn. Die Bewußtseinsform Helmut Kohl hat sichtbar tiefe Spuren hinterlassen in der neuen Berliner Republik: Noch die triftigste Kritik prallt ab wie Wasser an der Öljacke. Nicht nur notorisch überschätzte Minister sitzen eine nicht vorhandene Verantwortung aus, sondern auch Halblinksintellektuelle ihren guten Ruf. Offensichtlich hat es keinen guten Freund gegeben, der dem Workaholic Schlöndorf sagt: Volker, hör die Signale!