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Aus Liebe zu Marcel Proust

Im eisigen Winter 1940/41 lauschen gefangene polnische Offiziere in einem sowjetischen Lager dem Vortrag eines Mitgefangenen. Joseph Czapski stellte seinen von Schwerstarbeit gezeichneten Zuhörern das Werk Marcel Prousts vor. Daraus entstand ein knapp 80 Seiten umfassendes Essay mit dem Titel "Proust. Vorträge aus dem Lager Grjasowez", das jetzt auf Deutsch nachzulesen ist.

Von Brigitte van Kann | 15.02.2007
    Gegensätzlicher können Welten nicht sein: Im eisigen Winter 1940/41 lauschen gefangene polnische Offiziere in einem sowjetischen Lager dem Vortrag eines Mitgefangenen, der seine verlausten, von Schwerstarbeit gezeichneten Zuhörer in die Kunst des Marcel Proust entführt - aus dem kalten, stinkenden Lagerspeisesaal in die funkelnden Pariser Salons und gediegenen Landhäuser der "Suche nach der verlorenen Zeit".

    Die Gefangenen treffen sich regelmäßig, um einander Vorträge zu halten über Gegenstände, denen ihre Liebe und Leidenschaft gilt: Ein Leutnant spricht über seine Bergtouren in Südamerika, ein Priester über englische Geschichte. Auf diese Weise versichern sich Referenten und Zuhörer ihrer Würde und ihres Menschseins. Sie erinnern einander daran, dass sie vor dem Krieg nicht nur vom Brot allein gelebt haben. Auch sie sind gewissermaßen auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

    Die Proust-Vorträge des polnischen Malers und Schriftstellers Joseph Czapski im Lager Grjasowez hat die Friedenauer Presse in Berlin nun in deutscher Übersetzung herausgebracht; das informative Nachwort steuerte Lore Ditzen bei, von der auch ein Film über Czapski stammt.
    Ende 1943 oder Anfang 1944, genau weiß man es nicht, hat der Autor seinen Redetext in französischer Sprache in die Maschine geschrieben. Weil das handschriftliche Original-Manuskript verloren ging, basiert die vorliegende Übersetzung auf dem französischen Typoskript.

    Die knapp 80 Seiten dieses Essays über Proust, entstanden unter widrigsten Umständen, ohne Bücher und Bibliothek, nur aus der Erinnerung des Referenten geschöpft, sind nicht nur ein bewegendes Dokument des geistigen Widerstands gegen die Barbarei. Sie sind auch ein glänzendes Beispiel für gelungenes Sprechen über Literatur.

    Czapskis Proust-Vorträge kann man getrost in eine Reihe stellen mit Nabokovs unter so viel glücklicheren Umständen vor amerikanischen Studenten gehaltenen Vorlesungen zur Literatur, vor allem mit seinem Glanzstück, der Vorlesung über Tolstojs "Anna Karenina". Beide, den Polen Czapski und den Russen Nabokov, zeichnet die Liebe zu ihrem Gegenstand aus. Ihre Begeisterung ist mitreißend, sie sind genaue, hellwache Leser mit einem Blick für das feine Gespinst der literarischen Konstruktion, die unbestechliche Präzision der Beobachtung, die absolute Sorgfalt, die Schriftsteller wie Proust und Tolstoj auf ihre Wörter und Sätze verwendeten.

    Wie sein berühmterer Kollege Nabokov spricht Joseph Czapski ganz und gar unakademisch über Literatur. Als Leser ist er ein Amateur, übersetzt heißt das, ja, ein Liebender. Er bedient keine wissenschaftlichen Moden. Er geht von seinen eigenen Leseerlebnissen aus und verschweigt nicht, dass er als junger polnischer Immigrant in Paris zunächst keine Geduld für Prousts Ausführlichkeiten aufbrachte. Erst als sein Französisch besser wurde und eine Typhus-Erkrankung ihm die nötige Muße bescherte, konnte er die "Suche nach der verlorenen Zeit" genießen und bewundern.

    Dabei referiert Czapski keineswegs "aus dem Bauch". Wie Nabokov ist er ein gebildeter Leser und imstande, seinen Zuhörern das Bild einer ganzen Epoche mit ihren geistigen Strömungen zu vermitteln. Aber er verschmäht auch Anekdoten und Gerüchte nicht, wenn sich daraus Erkenntnis-Funken schlagen lassen. Sein Wissen, seine feurige Begeisterung und seine noble Bescheidenheit machen den Maler und Autor, der nie in seinem Leben eine Lehrtätigkeit inne hatte, zu einem Mentor, wie man ihn allen Studenten der Literaturwissenschaft wünschen möchte. Für Literaturliebhaber, die einen Führer durch Prousts monumentales Werk suchen und es auf den Spuren eines großen Lesers lesen wollen, sind Czapskis Vorträge im Lager Grjasowez eine ideale Handreichung.

    Die Männer, die ihm dort im Winter '41 zuhörten, waren die wenigen Überlebenden eines Massenmords an wehrlosen Gefangenen: 1939, nach dem deutschen Einmarsch in Polen, hatten Hitler und Stalin Polen untereinander aufgeteilt. Große Teile der polnischen Armee gerieten in sowjetische Gefangenschaft, unter den polnischen Offizieren auch Joseph Czapski, zu diesem Zeitpunkt bereits ein bekannter Maler und Buchautor. Von 15.000 seiner Mitgefangenen überlebten nur 400. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurden die Reste der polnischen Armee aus sowjetischer Gefangenschaft entlassen, nach einer Odyssee durch Mittelasien und Nordafrika landeten sie schließlich in Italien.

    Sofort nach der Befreiung beginnt Joseph Czapski, das Schicksal seiner verschwundenen Kameraden aufzuklären. Er ist der erste, der auf das vom sowjetischen Geheimdienst verübte Massaker an polnischen Offizieren in Katyn hinweist, ein Massenmord, zu dem sich Russland bis heute nicht bekennt und der das polnisch-russische Verhältnis immer noch belastet. Sein Leben lang hat der Überlebende Czapski die Aufklärung dieser und anderer Morde an Angehörigen der polnischen Armee in der Sowjetunion gefordert und vorangetrieben, zwei seiner Bücher sind diesem Thema gewidmet.

    Nach dem Krieg wird Joseph Czapski in Paris zu einem der führenden Organisatoren des polnischen Exils. Er gründet und betreut die Zeitschrift "Kultura" und den gleichnamigen Verlag. 1993 ist er im Alter von 97 Jahren gestorben. Er durfte also noch miterleben, dass seine unermüdliche Arbeit für die Wahrheit und die Freiheit Früchte getragen hat.