Der Obsesssion der Zeit gehorcht auch Modianos neuester Roman, dessen Titel "Aus tiefstem Vergessen" auch alle anderen Romane betiteln könnte. Der Zeitrutsch in die Vergangenheit vollzieht sich diesmal in zwei mathematisch exakt gleichen Etappen. Genau fünfzehn Jahre von der Erzählzeit aus gesehen ist es her, daß der Erzähler durch Zufall jene Jacqueline wiedertraf und ihr uneingeladen auf eine Party folgte, mit der ihn weitere fünfzehn Jahre vorher eine Liaison und eine kurze, aber abenteuerliche Lebenszeit verband. Heute ist er 50 Jahre alt. Damals war er 20 und lebte in Paris. Er hatte keine Wohnung, keinen festen Beruf und eigentlich auch keine feste Lebensrichtung. Aber das ist die Regel bei Modiano, der all seine Erzähler und Protagonisten von dem üblichen Gepäck einer bürgerlichen Existenz so stark wie möglich befreit, um sie als Zeitpassagiere auch räumlich so beweglich wie möglich zu machen. Sie wohnen in Hotels, essen in kleinen Restaurants, gehen oft zum Bahnhof und unternehmen pro Roman ein, zwei Reisen. Auch der Mann, der sich in dem Roman "Aus tiefstem Vergessen" erinnert, wohnte im Hotel, als er vor dreißig Jahren auf ein seltsames geheimnisvolles Paar traf, auf den älteren, beleibten Van Bever, der sich vom Roulettespiel zu ernähren schien, und seine dünne, kettenrauchende Gefährtin Jacqueline.Sie träumte von Mallorca, sie plante, nach Mallorca zu gehen und gleichsam als Vorgeschmack auf das erträumte Leben in der Wärme, im bitterkalten Pariser Winter in viel zu dünnen Jacken und Schuhen herum. Mehr ist über Jacqueline nicht herauszubringen. Erstens, weil sich Patrick Modiano nicht für psychologische, sondern nur für zeitliche und faktische Romanverhältnisse interessiert. Und zweitens, weil Jacqueline eine Geheimniskrämerin ist.
Eines Tages verschwindet sie aus Van Bevers Leben und brennt mit dem Erzähler nach London durch, in die Stadt der 60er Jahre. Dort hält sich das Paar ein paar Monate mehr schlecht als recht über Wasser, der junge Mann beginnt in dieser Zeit allerdings Romane zu schreiben, Jacqueline geht ihrer Wege, bis sie eines Tages wieder heimlich verschwindet. Dann vergehen fünfzehn Jahre, bis der Mann, nun 35 Jahre, Jacqueline plötzlich in der Pariser Metro sieht, um sie sofort wieder aus den Augen zu verlieren. Dann vergehen wieder fünfzehn Jahre bis zum Treffen auf der Party. Das ist alles, könnte man sagen. Viel mehr passiert in diesem Roman genau genommen nicht. Daß es ausreicht, um viele Modiano-Leser in Frankreich und Deutschland zu Fans zu machen, die jeden neuen Roman süchtig erwarten, wissend, daß er sich vom vorangegangen strukturell kein bißchen unterscheiden wird, liegt nicht nur an Modianos suggestivem und deshalb fesselndem Ton. Es liegt vor allem an der erzählerischen Intelligenz, mit der er die penible, an Indizien und Details orientierte Arbeit der E-rinnerung in die Spannung einer detektivischen Ermittlung versetzt. Modiano lesen heißt einen Krimi lesen, obwohl die Täterin in Patrick Modianos Fällen von vorneherein schon feststeht: Es ist die Zeit.