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Aus Traumata lernen

Sowohl das deutsche als auch das argentinische oder das spanische Volk musste lernen, mit traumatischen Ereignissen aus der eigenen Geschichte umzugehen. Über die unterschiedlichen Möglichkeiten, solche Traumata aufzuarbeiten, diskutierten vergangene Woche Wissenschaftler an der Universität Konstanz.

Von Thomas Wagner | 30.07.2009
    Beispiel: Der Holocaust - die wohl größte Katastrophe in der jüngeren Menschheitsgeschichte. Trotz millionenfachem Mord, Leid, trotz Folter und Krieg: Die Deutschen hielten sich als "Täternation" zunächst mit der Aufarbeitung der Geschehnisse zurück.

    "Das ist ein in vielen Fällen zu beobachtender Umstand: In der ersten Zeit sind die Überlebenden als Opfer, aber auch die Überlebenden, die die Täter waren, sozusagen stumm. Sie können noch nicht darüber sprechen. Das Trauma ist in den Körper eingeschlossen und wird in der Öffentlichkeit kaum erwähnt. Das konnte man in den 50er-Jahren in Deutschland beobachten, und das galt sogar für Israel."

    So Professor Bernhard Gießen, Soziologe an der Universität Konstanz, der bereits zum zehnten Mal die "Konstanzer Meisterklasse" organisiert hat - ein interdisziplinär besetztes Forum, bei dem hochkarätige Experten mit Nachwuchswissenschaftlern zusammentreffen. Der Umgang einer Gesellschaft mit Gewalt ist - wenn wie im Beispiel des Holocaust die Gewalt selbst von der Gesellschaft ausgegangen ist - nach seiner Beobachtung stets ein kollektiver Prozess, der sich stufenweise über mehrere Generationen hinweg abspielt.

    "Dann aber gibt es, wenn eine neue Generation auf den Plan tritt, die Möglichkeit, dass es ausgesprochen wird. Und das ist ungefähr bei uns Ende der 60er-Jahre passiert, durch die Achtundsechziger. Und dann entwickelt sich auch analog zur individuellen Verarbeitung eines Traumas eine Phase, in der es öffentlich ausgesprochen und debattiert wird und in Institutionen, in Filmen, Büchern und historischen Studien sozusagen durchgearbeitet wird. Und erst dann hört das Trauma auf, ein Trauma zu sein - es wird zu einem öffentlichen Thema."

    Dahinter steckt die Theorie, dass nicht nur die vielen Individuen einer Gesellschaft durch die schrecklichen Ereignisse traumatisiert werden, sondern die Gesellschaft als sozusagen "kollektives Wesen". Darüber hinaus geht Professor Bernhard Gießen davon aus, dass dieses "kollektive Wesen" ganz bestimmte Mechanismen entwickelt, um mit diesem Trauma fertig zu werden - welche genau war unter anderem ein wichtiger Diskussionspunkt in Konstanz. Dabei gibt es nämlich unterschiedliche Mechanismen zur gesellschaftlichen Trauma-Aufarbeitung. Beispiel Argentinien: Dort herrschte bis 1983 eine Militärdiktatur. Entführungen, Folter, Morde auf staatliche Anordnungen waren - wenn auch in wesentlichem geringerem Umfang als während der Nazi-Diktatur in Deutschland - auch dort an der Tagesordnung. Aber die Aufarbeitung des Geschehens, also die Bewältigung des gesellschaftlichen Traumas, verläuft bis heute anders. Nadia Zysman kommt aus Argentinien und beschäftigt sich als Politikwissenschaftlerin mit der Aufarbeitung der Geschehnisse in ihrem Heimatland. Die Bewältigung des Traumas dort ist aber nach ihrer Auffassung nicht vergleichbar mit der Art und Weise, wie dies in Deutschland geschah.

    "Ich glaube nicht, weil nach der Diktatur in Argentinien gab es keine solch eine Zeit, wo niemand darüber gesprochen hat. Also es wurde immer darüber gesprochen. Es gab da kein schweigendes Moment. Und ich finde das interessant, es unterscheidet sich auch im Vergleich zu Deutschland, dass in Argentinien die Gesellschaft immer noch sehr fragmentiert ist. Es gibt so einen Fight zwischen den verschiedenen Erinnerungen. Es gibt keinen Konsens. Die Fraktion der Militärs, die wirklich diesen Putsch gemacht haben, und alle Opfer, die sehr bekannte Mütterbewegung, die sehr bekannt ist, also jene Mütter, deren Kinder verschwunden sind (es gibt 30.000 Leute, die verschwunden sind), und es gibt zwei Bewegungen, zwei große Bewegungen, die Mütter von diesen Verschwundenen und die Kinder dieser Verschwundenen, die suchen nach der Wahrheit."

    Auf der einen Seite die Opfer der Militärdiktatur, auf der anderen Seite die Täter. Das bedeutet aber auch: Die Bewältigung des gesellschaftlichen Traumas in Argentinien kommt nicht voran.

    "Ohne diese Verarbeitung muss man sich fragen. Welche Gesellschaft haben wir gegründet? In der wir eine Interpretation der Geschichte haben, wo das Militär das Recht hat, 30.000 Leute verschwinden zu lassen und zu foltern? Ich glaube, man muss über dieses reine Verbrechen weiter lehren."

    Was aber gar nicht so einfach ist: sei es nun Argentinien nach der Diktatur, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg oder beispielsweise Serbien nach dem Kosovo-Krieg. Durch ihre Traumatisierung erlebt eine Gesellschaft in solchen Situationen eine Beschneidung ihrer Funktionen. Die Aufarbeitung des Gewaltgeschehens dient daher auch dazu, das nachhaltige Funktionieren einer Gesellschaft insgesamt sicher zu stellen. Professor Geoffrey Hartmann von der University of Yale:

    "Das Problem ist doch: Wir haben auf der einen Seite die Täter und auf der anderen Seite die Opfer. Und was immer wir auch anstellen - irgendwie müssen die trotzdem wieder miteinander leben. Und dafür muss die Gesellschaft ein System ausbilden: ein System, das einerseits dieses Zusammenleben ermöglicht, auf der anderen Seite aber den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lässt und die Täter dennoch angemessen sanktioniert. Und da ist es wichtig, dass die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern sehr schnell getroffen wird. Was ich getan habe, ist Folgendes: Ich habe im Rahmen unseres Projektes den Opfern die Gelegenheit gegeben, das, was sie bewegt, offen auszusprechen. Wir haben das dann auf Video aufgezeichnet. Das heißt: Die Opfer haben damit die Gelegenheit bekommen, das, was sie bewegt, jedermann mitzuteilen."

    So ist das "Fortunoff Archive for Holocaust Testimonies" entstanden - eine Einrichtung, die sich nicht nur an Historiker wendet. Vielmehr diene sie, so Geoffrey Hartmann, der Gesellschaft insgesamt zur Aufarbeitung ihres Gewalt-Traumas. Eine ähnliche Funktion erfüllt die Literatur: Erzählungen, Gedichten, Romanen, Essays, die den Holocaust zum Inhalt haben, schreiben die Experten auch die Funktion zu, die Trauma-Aufarbeitung der Gesellschaft voranzubringen. Jede wissenschaftliche Untersuchung über das Geschehene stehe da hinten an, meint Professor Hayden White, Kulturwissenschaftler aus Santa Cruz, Stanford:

    "Das Problem, das wir in der Wissenschaft haben, ist doch das folgende: Wir erkennen nicht, dass die Sprache der Dichtung in diesem Fall präziser und konkreter den Schrecken nachzeichnet als die Sprache der Wissenschaft. Die wissenschaftliche Sprache ist dazu einfach überfrachtet."

    Während beispielsweise ein Roman oder ein Gedicht viel stärker über emotionale Impulse jene Empfindungen trifft, die Gewaltopfer und Gewalttäter wohl gehabt haben können. Damit sei Literatur ein unverzichtbarer Bestandteil bei der Aufarbeitung eines gesellschaftlichen Gewalttraumas, hieß es dazu in Konstanz. Selbst Ironie und Satire habe (dies eine nicht unumstrittene These) dabei ihren Platz. Professor Bernhard Gießen nennt dazu ein Beispiel:

    "Man kann das auch auf ganz andere Weise tun, in dem man das Ganze beispielsweise als Komödie darstellt, wie das 'La vita est bella' von Benigni gemacht hat. Und man kann natürlich auch versuchen, die Spuren des Schrecklichen im Alltag der Menschen zu beschreiben. Das ist so ähnlich, wie wenn Sie versuchen, ein Loch zu beschreiben. Dann können Sie den Rand beschreiben, aber das, was im Loch ist, das entgeht ihrer Aufmerksamkeit. Also das heißt: Sie sehen, wie im Alltag bestimmte Dinge sich verändert haben, bestimmte Dinge vermieden werden. Also ich kenne das aus dem Verhältnis zu meinen eigenen Eltern, wo bestimmte Dinge, die im Krieg geschehen sind, einfach nicht angesprochen werden durften, und wo man dann immer herging und sagte: Das verstehst Du nicht. Das verstehen nur diejenigen, die dabei waren. Wenn also solche kommunikativen Barrieren zu beachten sind, dann deutet das immer darauf hin, dass immer ein Trauma am Werke ist."

    Will heißen: Das Geschehen, auf das das Trauma beruht, und das Trauma selbst erscheinen unbeschreibbar. Aber die Auswirkungen sind sichtbar und dienen als Basis der Verarbeitung. In diesem Zusammenhang messen die Kulturwissenschaftler auch symbolhaften Handlungen einen hohen Stellenwert bei der Aufarbeitung eines gesellschaftlichen Traumas bei. Bernhard Gießen:

    "Das war zum Beispiel Brandts Kniefall in Wahrschau. Mit einem Mal wurde sozusagen weltweit klar: Das ist das Ende der Nachkriegszeit. Die Deutschen bekennen sich zu ihrer Identität als Täter."

    Wichtig erscheint dem Konstanzer Soziologen in diesem Zusammenhang die Außenwirkung dieser symbolträchtigen Handlung: Die Welt erkennt, dass Deutschland sich um eine Aufarbeitung des Holocaust-Traumas bemüht. Und genau dieses "Erkennen" beschleunigt diesen Aufarbeitungsprozess.

    "Wir haben das ausführlich beforscht. Und uns ging es da überhaupt nicht um das, was Brandt im Kopf hatte, sondern vielmehr um die Frage, wie das Ganze in der Weltöffentlichkeit wahrgenommen wurde. Und da gab es interessante Unterscheidungen: Die ersten Reaktionen kamen aus den USA, aus Russland und aus Italien und nicht aus Deutschland. Und erst mit einer gewissen Verspätung hat die deutsche Medienöffentlichkeit die welthistorische Bedeutung dieses Aktes irgendwie erkannt. Also entscheidend ist, wie etwas rezipiert wird und nicht, welche Intentionen die Autoren dabei haben."