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Ausbildungsplatzabgabe kommt "auf jeden Fall"

Frank Capellan: Wenn es ein Prestigeobjekt für den neuen SPD-Parteivorsitzenden gibt, dann ist das wohl die Lehrstellenumlage. Sie haben den Delegierten auf dem Parteitag zugerufen: "Kein junger Mensch von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit. Da stehen wir im Wort!" Da will man sicherlich auch ein Zeichen setzen, dass die Sozialdemokraten die Schwachen der Gesellschaft nicht aus den Augen verlieren. Von der Parteibasis haben Sie ja dafür sehr viel Beifall bekommen. Kritik dagegen auch von einigen SPD-Ministerpräsidenten, vor allem aber natürlich von den Wirtschaftsverbänden, die sagen nämlich, allein schon die Debatte über eine Ausbildungsplatzabgabe kostet Lehrstellen, weil die Betriebe eben erst mal abwarten, was die Politik denn macht? Warum beenden Sie die Debatte nicht einfach?

    Franz Müntefering: Es geht um junge Menschen. Es geht darum, dass in dieser Gesellschaft endlich wieder klar ist: Alle jungen Menschen haben einen Anspruch, wenn sie aus der Schule kommen, in Arbeit, Ausbildung, in Weiterbildung, in Qualifizierung zu kommen. Da haben sich in den vergangenen Jahren viele angestrengt, das zu erreichen. Das hat aber nicht ganz geklappt, und ich möchte, dass wir unbedingt erreichen, dass in den nächsten Jahren dieses Ziel dann auch wirklich entsprechend gewürdigt wird und dass die jungen Menschen nicht von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit fallen.

    Capellan: Es gibt da jetzt neue Anstrengungen. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag bietet einen Pakt für Ausbildung an. Würde das reichen, um vielleicht das Gesetz doch noch zu verhindern?

    Müntefering: Das zeigt, dass der Ansatz, den ich gewählt habe, richtig ist. Dass man da konkret werden muss, dass allgemeine Sprüche da nicht weiterhelfen. Das, was wir dazu in den letzten Tagen an verschiedenen Stellen gehört haben, prüfen wir, überlegen wir, ob wir das einbeziehen können in das Gesetz...

    Capellan: Einbeziehen in das Gesetz heißt aber, das Gesetz kommt auf jeden Fall?

    Müntefering: Das Gesetz kommt auf jeden Fall. Es wird im Mai im Deutschen Bundestag in zweiter, dritter Lesung beschlossen. Es wird vor der Sommerzeit dann im Deutschen Bundesrat zur Entscheidung anstehen und wir sind dabei zu überlegen, was von dem, was wir da letzte Woche gehört haben, wir in dem Gesetz nutzen können.

    Capellan: Nun gibt's auch Leute in der Fraktion, ich zitiere Klaus Brandner, Rainer Wend, die sagen, 'der Müntefering darf da nicht mit dem Kopf durch die Wand gehen. Wenn es belastbare Fakten gibt, dass man neue Anstrengungen macht um die Lehrstellenlücke zu schließen, dann brauchen wir kein Gesetz'. Was sagen Sie dazu?

    Müntefering: Nein, das Gesetz wird kommen. Wir müssen eine Verbindlichkeit in das ganze Geschehen hinein bekommen. Wenn im Herbst die nötige Zahl von Ausbildungsplätzen zur Verfügung steht, dann muss das Gesetz überhaupt nicht angewandt werden, weil...

    Capellan: Wie können denn diese neuen Vorschläge - wenn wir da mal kurz drauf eingehen – wie können die ins Gesetz eingebunden werden? Da gibt es den Vorschlag, dass man eine Art BAFÖG anbietet für Jugendliche, die, um einen Lehrstellenplatz in anderen Bundesländern anzunehmen, umziehen müssen.

    Müntefering: Das war nun ein sehr einfacher Vorschlag der Arbeitgeber und der Kammern. Da geht es nämlich darum, dass die öffentliche Hand das bezahlt. Ich meine, das ist sozusagen eine einfache Lösung, auf Kosten von anderen Vorschläge machen. Aber das Interessanteste an dem, was ich da gehört habe, ist ganz zweifellos die Überlegung, dass man die Lernschwächeren, die, die noch nicht in der Lage sind, in eine normale Ausbildung zu gehen, dass man sie über eine Art Praktikum an die Ausbildungsfähigkeit heranführt. Das ist ganz sicher ein Punkt, den wir in den nächsten Tagen noch einmal konkretisieren werden...

    Capellan: Also es geht im Prinzip um die nicht Vermittelbaren?

    Müntefering: Noch nicht Vermittelbaren. Ich will sie nicht endgültig abschreiben. Da gibt es so eine Grauzone, wo man nicht genau weiß, können die das schon, können die das nicht. Hängt auch damit zusammen, dass viele ohne Abschluss aus den Schulen kommen und unzureichend von da aus versorgt werden.

    Capellan: In Nordrhein-Westfalen funktioniert das ja eigentlich ganz gut. Da gibt es ja auch solche freiwilligen Selbstverpflichtungen. Das ist ja genau das, auf das der Regierungschef Peer Steinbrück immer hinweist. Reicht das nicht aus? Könnte das ein Vorbild sein für den Bund?

    Müntefering: Erkennbar nicht. Das gibt es in allen Bundesländern. Das gibt's in vielen Kammerbereichen. Da ist regional viel Aktivität, viele Bürgermeister, Oberbürgermeister sind engagiert. Ich will das ausdrücklich belobigen, auch die Unternehmen, die sich anstrengen. Aber es reicht insgesamt nicht. Es fehlten im letzten Jahr etwa fünf Prozent. 35.000 Jugendliche hatten am 30.09. keinen Ausbildungsplatz. 564.000 hatten einen, aber 35.000 nicht, das heißt fünf Prozent fehlen, und das kann so nicht bleiben.

    Capellan: Heide Simonis sagt: "In Schleswig-Holstein funktioniert das", Peer Steinbrück habe ich zitiert, der sagt das. Warum kann man die Länder nicht ausnehmen? Warum keine regionalen Ausnahmen, was das Gesetz angeht?

    Müntefering: Also, erstens ist es nicht so, dass auch nur in einem Bundesland es im letzten Jahr wirklich gereicht hätte. Das reicht nur, wenn man zum Schluss, wenn alles gar nicht mehr geht, sie alle in Schulen steckt, in vollzeitschulische Ausbildung steckt. Am 30.09. letzten Jahres fehlten in Nordrhein-Westfalen 7000 Plätze und in Schleswig-Holstein 650. Das ist alles ein Annäherungswert, den man erreicht. Aber das ist nicht wirklich befriedigend. Wir können keine regionale Lösung machen, weil das sofort dazu führen würde, dass im Bundesrat das Gesetz aufgehalten werden kann. Deshalb haben wir einen zentralen Ansatz. Wenn wir ein Gesetz eingebracht hätten, das ganz klar im Bundesrat von CDU/CSU aufgehalten werden könnte, dann wäre das wohl weiße Salbe gewesen.

    Capellan: Trotzdem kann das Gesetz immer noch scheitern im Bundesrat, wenn Peer Steinbrück alleine schon Nordrhein-Westfalen sich verweigert und nein sagt. Haben Sie Befürchtungen, dass er dies tun wird?

    Müntefering: Das kann ich nicht für die Länder entscheiden. Das liegt in der Souveränität der Länder. Ich gehe davon...

    Capellan: ...es gibt Parteitagsbeschlüsse. Er ist nun mal ein führender Sozialdemokrat. Muss er sich da nicht dran halten?

    Müntefering: Das ist in der Tat ein interessantes Argument. Ja, wir haben es in der Partei zwei Mal beschlossen. Die Koalition hat es beschlossen, die Fraktion hat es beschlossen. Ich gehe davon aus, dass dieses Gesetz dann auch die Mehrheitsfähigkeit im Deutschen Bundesrat hat, dort nicht aufgehalten wird.

    Capellan: Weil Steinbrück sich enthalten wird? - Die Grünen in Nordrhein-Westfalen, und auch die Bundesgrünen, verweisen schon auf den Koalitionsvertrag, wenn man sich nicht einig ist. Die Grünen wollen die Ausbildungsplatzabgabe, dann müsste man sich enthalten.

    Müntefering: Ja, das zeigt nochmal, dass das Problem in allen Bundesländern gesehen wird und nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern in allen anderen Bundesländern auch.

    Capellan: Woher nehmen sie eigentlich die Zuversicht, dass mit dem Geld, das durch diese Abgabe oder Umlage, wie Sie sagen, locker gemacht wird, tatsächlich neue Lehrstellen geschaffen werden?

    Müntefering: Erst mal geht es ja nicht darum, dass da Geld über eine Umlage kommt. Diese Umlage wird ja nur erhoben - das ist immer noch nicht so ganz klar nach draußen hin - wenn in diesem Herbst das Problem sich nicht faktisch löst. Das Ganze ist von mir und von uns darauf angelegt, dass sich das Problem in diesem Herbst löst. Falls es sich dramatisch nicht löst, dann wird die Umlage erhoben und dann wird die Umlage eingesetzt für diejenigen, die überproportional ausbilden oder die, die dann zusätzlich ausbilden. Denn die Unternehmen, die heute 20 Ausbildungsplätze haben, 21 machen - im Schnitt - ist das Problem gelöst.

    Capellan: Strafzahlungen werden ja nur für größere Betriebe, ab elf Beschäftigten in Kraft treten, wenn überhaupt. Könnte das dazu führen, dass sich Großbetriebe möglicherweise freikaufen von der Ausbildung, dass das vielleicht am Ende für die sogar günstiger ist?

    Müntefering: Na, es kommt darauf an, wie hoch eine solche Umlage wäre. Und die wird so sein, dass da keiner Interesse hat, da auszusteigen. Nein, davon gehe ich nicht aus.

    Capellan: Sie sind zuversichtlich, dass das Gesetz kommt, dass es im Bundesrat durchkommt, wenn die Abgabe durch ist. Dann ist sicherlich ein Symbol umgesetzt, ein Symbol dafür, dass die SPD auch die Partei des kleinen Mannes, der sozialen Gerechtigkeit, ist.

    Müntefering: Es ist kein Symbol, sondern das meine ich, das meinen wir, wirklich ernst. Die jungen Menschen...

    Capellan: Das eine schließt das andere ja nicht aus. Also, parteiintern ist es doch sicherlich auch ein Symbol für die Reformkritiker.

    Müntefering: "Symbol", das hat so was an sich, dass man das nur tut zum Schein. Nein, nein, das ist schon ernst gemeint. Wir sind diejenigen, die die Interessen der jungen Leute in diesem Lande vertreten und zwar mit allem Nachdruck. Und für die Schule und für die Hochschule ist der Staat zuständig, für die duale Ausbildung die Unternehmen. Auf die Idee, dass man einfach einen Teil der jungen Leute auf der Straße lässt, kommt man manchmal schon in Deutschland, und das muss weg.

    Capellan: Dann frage ich mal andersrum. Sie haben es sicherlich auch angepackt, um ein bisschen Ruhe in die Partei zu bringen?

    Müntefering: Nein, nein, nein....

    Capellan: ...um zu zeigen: "Man tut was!"

    Müntefering: Nein, nein, nein, das war ganz anders. Wir haben das über die Jahre verfolgt. Wir haben viele Ankündigungen gehabt: "Das läuft jetzt, das wird jetzt gemacht, das wird jetzt freiwillig gemacht." Es funktioniert bisher aber nicht. Was noch eine große Chance ist, über die haben wir noch nicht gesprochen, wenn die Tarifparteien Verträge machen und das Problem lösen. Das wäre mir das Liebste oder wenn die Kammern entsprechende Entscheidungen treffen. Es gibt ja im Bereich der Chemie und im Bereich Bau solche freiwilligen Vereinbarungen und ich könnte mir vorstellen, dass auch in anderen Bereichen - Metallbereich zum Beispiel - Arbeitgeber/Arbeitnehmer Vereinbarungen treffen, über diese Lösung der Ausbildungsproblematik. Dann würde das Gesetz auch in diesem Sinne obsolet werden, dann wäre es da, aber müsste nicht angewandt werden.

    Capellan: Nachher entscheiden die Tarifparteien, die Lehrlingsgehälter zu kürzen. Das wäre auch nicht in Ihrem Sinne...

    Müntefering: Das wäre aber eine Sache der Tarifautonomie. Da kann ich mich nicht einmischen...

    Capellan: ...oder die Lehrzeit zu verkürzen, ist auch noch ein Vorschlag, der im Gespräch ist...

    Müntefering: Ja, aber da gibt es dann eine größere Differenzierung. Da gibt es ja auch schon gesetzliche Vorlagen, Vorgaben, die eine modulare Ausbildung vorsehen. Also insgesamt muss die Ausbildung sicher bei drei, dreieinhalb Jahren liegen, bei den qualifizierten Berufen. Aber es gibt bestimmte Jugendliche, wo man zunächst dann vielleicht einen ersten Schritt macht und nach einem Jahr dann sieht, wie man weiterkommt. Nicht alle Menschen sind mit 16 oder 18 soweit, dass sie voll belastbar sind und manche sind eben Spätzünder.

    Capellan: Herr Müntefering, Sie sagten eingangs, diese Lehrstellenumlage ist nur ein Projekt, das Sie anpacken, jetzt als neuer Parteivorsitzender. Was kommt danach?

    Müntefering: Das Wichtigste ist, dass wir das mit der Innovation jetzt wirklich als die große Herausforderung verstehen, d. h. wir müssen mehr Geld und mehr Initiative einsetzen in der Wirtschaft und seitens des Staates für Bildung, für Ausbildung, für Qualifizierung, für Forschung, für Technologie, für neue Unternehmen. Es geht ja darum, dass wir mittelfristig und langfristig in Deutschland Wohlstand halten, wie wir ihn immerhin heute haben. Wir werden uns anstrengen müssen, und da sind wir in Deutschland in den 90er Jahren, in der Zeit von Helmut Kohl, deutlich zurückgefallen. Wir sind dabei aufzuholen, aber wir müssen uns noch verdammt anstrengen. Wir wollen bis 2010 drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgeben für diese Investition in die Köpfe und die Herzen der jungen Menschen und in neue Technologien. Wir werden den Wohlstand Deutschlands nicht halten mit Niedriglohnstrategien, sondern mit Wissen und mit Können und mit neuen Produkten, die handelsfähig sind, weltweit.

    Capellan: Kann man damit wieder sozialdemokratisches Profil gewinnen?

    Müntefering: Sozialdemokratie ist mal gegründet worden dafür, dass es den Menschen besser geht. Besser gehen tut es den Menschen nur, wenn Wohlstand ist im Land und dazu gehört die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und der Mut, das, was wir wissen und können, dann auch anwenden. Wissen Sie, wir haben die Magnetschwebetechnik 20 Jahre lang in Deutschland im Emsland im Kreis herum fahren lassen, bis die Chinesen gekommen sind und haben gesagt, die können auch geradeaus fahren. Und das darf uns nicht passieren. Das Wissen, was wir haben, daraus müssen wir auch Arbeitsplätze machen.

    Capellan: Es soll den Menschen besser gehen - aber sicherlich - das war auch eine Idee der Sozialdemokratie, dass das Geld gerecht verteilt wird. Brauchen wir dafür z. B. die Erbschaftssteuerreform, dass man an die großen Vermögen jetzt rangeht?

    Müntefering: Erbschaftssteuer wird diskutiert. Schleswig-Holstein hat, das ist so abgesprochen, einen Vorschlag gemacht. Die Erbschaftssteuer ist eine Ländersteuer, und deshalb muss im Bundesrat geklärt werden, ob es dazu eine Mehrheit gibt. Allerdings gibt es zwei Dinge, auf die geachtet werden muss. Betriebe dürfen in der Erbfolge nicht kaputtgehen. Die müssen bestehen, auch der Arbeitsplätze wegen, aber auch der Zukunft der Betriebe wegen und das selbst genutzte Wohneigentum muss befreit sein, und das sind keine leichten Hürden. Deshalb glaube ich, muss man wissen, das wird nicht unendlich viel mehr Geld bringen, aber etwas schon.
    Capellan: Also d a s ist eigentlich nur ein Symbol?

    Müntefering: Nein, wenn etwas mehr Geld kommt, ist das ja auch schon was. Also ich finde das schon, dass die Erbschaftssteuer, die sich ja richtet auf die ganz besonders Vermögenden, dass das ein wichtiger Punkt ist, an dem auch gearbeitet werden muss. Das haben wir uns ja auch vorgenommen zu tun.

    Capellan: Anderes Stichwort: "Bürgerversicherung". Wie wird es da weitergehen?

    Müntefering: Das ist die Alternative zu der Merkelschen Formel der Kopfpauschale. Wir wollen, dass wir im Prinzip ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem behalten. Da müssen die Beiträge die gezahlt werden, vertieft und verbreitert werden, d. h., es müssen neben dem, was an Lohn herangezogen wird in Beiträgen, auch andere Einkünfte herangezogen werden. Erträge aus Kapital, Erträge aus Vermietung und Verpachtung. Und darüber reden wir intensiv im Verlauf des Jahres. Ich gehe davon aus, dass im Jahre 2005, vielleicht sogar zur Bundestagswahl, das die große Auseinandersetzung sein wird, was die Sozialsysteme angeht. Wir wollen einen Weg der Bürgerversicherung gehen, in dem es eine vernünftige Mixfinanzierung gibt, beitragsbezogen was die Einkommen angeht, Steuerkasse und Zuzahlungen und private Vorsorge miteinander.

    Capellan: Können solche Ideen solche Projekte auch dazu führen, endlich wieder das Verhältnis zu den Gewerkschaften zu verbessern?

    Müntefering: Die Agenda 2010 ist ein komplexes und breites Thema. Dass sich das im letzten Jahr sehr konzentriert hat auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme, war unvermeidlich. Aber es gehörte eben das, was wir jetzt besprochen haben, mit dazu. Erbschaftssteuer, Bürgerversicherung, Ausbildung aber auch Rentengesetze kommen noch und Pflegegesetze kommen noch. Bei den Gewerkschaften ist ganz wichtig, dass wir miteinander eine vernünftige Antwort finden, auf die Konsequenzen aus der Erweiterung der EU, und ich glaube, die Tatsache, dass wir die Tarifautonomie verteidigt und hochgehalten haben, hat auch zu einer Entspannung beigetragen.

    Capellan: Trotzdem werden wahrscheinlich die Gewerkschaften schon nächste Woche wieder Rabatz machen. Sie werden demonstrieren zum 1. Mai und auch gegen die Arbeitsmarktgesetze. Stichwort: "Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose" ... aber da gibt es keine Punkte, über die man noch reden kann?

    Müntefering: Nein, da wird nicht verändert, weil das sinnvoll ist, was wir da haben. Das Ganze führt in die Debatte des Niedriglohnsektors hinein. Da müssen wir uns in Deutschland klar werden, dass wir ein großes schwieriges Problem haben. Es gibt bestimmte Arbeit, die ist so schlecht bezahlt, dass sie nicht getan wird von Arbeitslosen, und die Frage ist, lassen wir es zu, dass die Arbeit abwandert ins Ausland oder holen wir uns, ich sage es mal in Anführungszeichen "Schuhputzer" aus anderen Ländern, die diese Arbeit tun, oder beginnen wir eine Debatte über Mindestlohnregelung? Das ist in den Gewerkschaften aber auch sehr umstritten. Wir müssen uns gegebenenfalls in der Debatte im Niedriglohnsektorbereich stellen. Ich glaube, dass wir einen Weg finden müssen, dass die Arbeit, die es in Deutschland gibt, von den Menschen getan wird, die legalerweise in Deutschland sind, und dazu brauchen wir oben in der Skala eine verbesserte Qualifikation bei Ingenieuren, bei naturwissenschaftlich Gebildeten und unten die Bereitschaft, auch Arbeit zu tun, die vom Status und vom Stundenlohn her, nicht so gut bezahlt wird. Da muss man eventuell drüber reden, wie man da mit Hilfen dieses interessanter machen kann.

    Capellan: Ist Ihre Strategie dann gegenüber den Gewerkschaften zu sagen: Die SPD ist das kleinere Übel gegenüber der Opposition, der Union?

    Müntefering: Nein, wird sind gar kein Übel, sondern wir haben schon sehr Recht. Das Problem ist, dass die Gewerkschaften auch dazu lernen müssen, dass sie eine Debatte führen müssen über die Zukunftsfähigkeit. Wir haben uns ja auch freundschaftlich gekabbelt da - in den letzten Wochen - immer mal wieder und meine Erwartung an die Gewerkschaften ist, dass sie nicht nur sagen, was sie nicht wollen, sondern dass sie sagen, was sie wollen. Wie sie sich dann die Lösung der Probleme, die es ja zweifellos gibt, vorstellen. Und die Gewerkschaften müssen mal wieder offensiver spielen.

    Capellan: Kritiker der Reform sind ja nicht nur die Gewerkschaften, zum Teil auch die Kommunen. Denen sind immerhin 2,5 Milliarden Euro versprochen worden, die sie nach Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe behalten dürfen. Bleibt's dabei?

    Müntefering: Die werden sie behalten. Dazu steht auch die Fraktion, dazu steht auch die Bundesregierung. Die Kommunen haben im Übrigen in diesem Jahr 2004 schon einmal durch die Gemeindefinanzreform 2,5 Milliarden mehr in ihrem Haushalt. Das läuft schon. Im nächsten Jahr 2,5 Milliarden über die Zusammenlegung Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe. Das Problem, was in dieser Tatsache steckt, ist, dass das Geld nicht vom Bund unmittelbar an die Kommunen laufen kann, dass deshalb die Länder mithelfen müssen, dass das Geld zielgenau an die Kommunen kommt, die es auch besonders brauchen, dass es nicht einfach gestreut wird, sondern dass es an die kommt, die eine besonders hohe Zahl von Sozialhilfeempfängern hatten, die dann ja zukünftig entlastet sind dadurch, dass sie die Sozialhilfe nicht mehr zahlen, sondern dass diese Menschen dann "Arbeitslosengeld zwei" bekommen durch die Bundesagentur.

    Capellan: Es gibt aber auch neue Belastungen. Sie sollen die Wohnkosten für Langzeitarbeitslose übernehmen. Da ist die Rede von fünf Milliarden Euro, die das im Jahr kosten könnte. Dann sollen sie die Kinderbetreuung für unter Dreijährige finanzieren. Können die das überhaupt schultern, die Gemeinden?

    Müntefering: Also, 2,5 Milliarden bei den Städten und Gemeinden. Davon, das ist richtig beschrieben, sind für die nächsten drei Jahre jeweils 1,5 Milliarden und mehr Ganztagsangebote bei den unter Dreijährigen in den Kommunen zur Verfügung zu halten. Das ist in der Tat so vereinbart, ja.

    Capellan: Ostdeutsche Gemeinden profitieren am wenigsten von der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, weil's mehr Langzeitarbeitslose dort gibt als Sozialhilfeempfänger, so die Argumentation. Ist das berechtigt, diese Klage?

    Müntefering: Ja, es gibt eben sehr ungleiche Situationen in Deutschland. In Ostdeutschland gibt es sehr viel mehr Arbeitslosenhilfeempfänger im Vergleich zu anderen Bundesländern. Es gibt allerdings auch sehr viel mehr ABM und SAM- Maßnahmen. Die werden bleiben, das heißt, es geht sehr viel mehr Geld - was die aktive Arbeitsmarkthilfe angeht - nach Ostdeutschland. Da brauchen wir ja auch diese Sondermaßnahmen ganz sicher weiterhin.

    Capellan: Müssen wir die Ostförderung, darüber ist viel diskutiert worden in den letzten Tagen und Wochen, komplett überdenken?

    Müntefering: Nein, nicht komplett. Der Solidarpakt steht. Das Geld, was da weiter fließt bis 2019, wird im Wesentlichen von den Bundesländern selbst verwaltet. Es wird selbst entschieden, wo sie es einsetzen dabei. Ich glaube, dass das eigentliche Geheimnis darin liegt, dass wir in Deutschland insgesamt einen Wachstumsschub brauchen, und erst wenn der da ist, wenn Deutschland insgesamt einen Wachstumsschub bekommt, wird's auch einen neuen großen Schub beim Aufbau Ost geben.

    Capellan: Wolfgang Thierse hat vor Jahren schon gesagt: "Der Osten steht auf der Kippe!" Da haben sich ja alle aufgeregt, dass er so was in den Mund nahm. Zeigt sich jetzt, dass er vielleicht doch Recht hat?

    Müntefering: Nein, ich glaube, dass ein solcher Begriff eher missverständlich wäre. Wer Ostdeutschland vor 15 Jahren gekannt hat und heute - oder vor 14 Jahren - der weiß, dass unendlich viel passiert ist, und es gibt kein vergleichbares Land, das eine solche Aufgabe zu bewältigen hat. Ein Gebiet, das so groß ist wie einzelne europäische Länder für sich alleine, bei Null anzufangen, aufzubauen und dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich an einen Wohlstand des Gesamtlandes herangeführt wird. Ich finde, ab und zu sollten wir uns mal gegenseitig auch bestätigen, dass unabhängig von Parteien und Ost und West, dass wir in den 14, 15 Jahren eine ganze Menge erreicht haben und geleistet haben und das insgesamt auf gutem Weg ist. Vier Prozent des Bruttosozialproduktes, 90 Milliarden, gehen jedes Jahr von West nach Ost. Aber ich empfehle, dass wir aufhören, über West und Ost zu sprechen, weil es immer so ein bisschen den Hauch hat, als ob da zwei Länder miteinander verglichen werden. Wir sind aber Gott sei Dank eins!

    Capellan: Trotzdem können Sie sicherlich nicht nur auf die Belebung der Konjunktur warten. Es fehlt viel Geld im Haushalt. Es ist die Rede von einer drohenden Haushaltssperre im Sommer. Da muss man sich neue Wege ausdenken. Da hatten wir die Streichung der Steuersubventionen. Wird's da neue Vorschläge geben in Richtung Union?

    Müntefering: Na, wir hoffen schon, dass in diesem Jahr ein Wachstum von im Durchschnitt 1,5 Prozent sein wird. Das würde bedeuten, dass im zweiten Halbjahr es über zwei Prozent hinausgeht. Das wird auch zusätzliches Geld dann in die Kasse spülen. Und das würde im Jahre 2005 dann bedeuten, dass wir deutlich über 1,5 im Jahresdurchschnitt sind.

    Capellan: Trotzdem noch mal die Frage nach konkreten Gesprächen mit der Union zum Beispiel über die Eigenheimzulage, hat Schröder in der Regierungserklärung vor einigen Wochen angekündigt, dass er darüber mit der Opposition reden will. Gibt's da Bewegung?

    Müntefering: Wird immer wieder versucht. Die Bewegung kann ich auf der anderen Seite nicht erkennen, wie ich überhaupt nicht erkennen kann, dass die Union irgendwo eine klare Linie hätte, sondern da wird immer munter durcheinander gequatscht. Interessant war ja in der letzten Woche, wie Herr Seehofer mal alles zusammengezählt hat und denen selbst vorgerechnet hat, bei all den Rechnungen, die die Union da macht, fehlen ungefähr 100 Milliarden. Also, bei dem was die Union macht, liegt die Lösung ganz sicher nicht. Das müssen wir, glaube ich schon, in unserer Verantwortung machen.

    Capellan: Die Union jubelt jetzt zum Beispiel in der Frage des neuen Bundesbankpräsidenten, dass man einen sozialdemokratischen Kandidaten da verhindert habe.

    Müntefering: Kommt sicher nicht drauf an, ob und welches Parteibuch ein Präsident einer Bundesbank hat. Wir sind sicher, dass Herr Weber eine gute Lösung ist. Er ist jemand, der parteipolitisch neutral ist - im Übrigen - aber der sich ausgewiesen hat, als ein qualifizierter Fachmann, und insofern ist - glaube ich - verständlich, dass alle Beteiligten im Lande sagen: Das ist eine gute Lösung!

    Capellan: Sie waren ja - die Sozialdemokraten - in letzter Zeit für Überraschungen gut bei Personalien. Axel Weber war eine Überraschung, Gesine Schwan als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt...

    Müntefering: ...ist eine tolle Frau, ja....

    Capellan: ....sicherlich auch. Geht das jetzt weiter? Werden da bald neue Minister aus dem Hut gezaubert?

    Müntefering: Nein, dann will ich doch mal lieber erst an dem 23.05. festhalten und da gibt's die große Chance, dass die Bundesversammlung die Gesine Schwan zur Bundespräsidentin wählt. Das wäre schon gut, nicht nur weil sie Frau ist, sondern weil sie eine solche Frau ist. Das täte dem Land sehr gut. Das würde viel Frischheit und viel Mut und Zuversicht ins Land bringen. Ansonsten gibt's da keinen aktuellen Bedarf, über Kabinett oder derlei zu sprechen.

    Capellan: Wann wäre denn der strategische günstigste Zeitpunkt, um über eine Kabinettsumbildung nachzudenken?

    Müntefering: Das macht ein Parteivorsitzender nie, ein vorsichtiger schon gar nicht. Im Übrigen sehe ich wirklich für absehbare Zeit keine Notwendigkeit. So einen strategisch richtigen Zeitpunkt, den weiß man auch nicht ein halbes Jahr oder ein Jahr vorher. Das muss man immer aus der Situation heraus entscheiden.

    Capellan: Sie spüren also auch kein Murren in der Partei, dass man da mal eine neue Truppe an der Spitze bräuchte?

    Müntefering: Es gibt immer welche, die mit den Hufen scharren. Das ist auch gesund, so muss das auch sein. Aber das ist noch kein Beweis dafür, dass man es besser könnte oder dass da was geändert werden müsste. Nein, nein....

    Capellan: Herr Müntefering, Sie sind jetzt seit ziemlich genau vier Wochen Parteivorsitzender der SPD. Diese Arbeitsteilung zwischen Kanzler und Parteichef hat ja den Sinn, die Sozialdemokraten aus dem Schlamassel zu holen. Was glauben Sie selbst, was haben Sie schon bewirken können in diesen vier Wochen?

    Müntefering: Ich glaube, dass das seine Zeit dauert, dass man da nicht übertriebene Erwartungen haben darf. Ich glaube, dass es für die Wählerinnen und Wähler im Lande insgesamt nicht so wichtig ist, wer Vorsitzender der SPD ist, dass es aber für die Partei ganz wichtig ist, dass der Vorsitzende Zeit hat für sie. Das macht auch deutlich, dass ich da nicht an einen Augenblickserfolg glaube, sondern dass man sich darauf einstellen muss, dass man intensiver als es in den letzten Jahren möglich war, die Partei wieder heranholt, an die Debatte, an die Grundsatzdebatte, an die Debatte über Bürgerversicherung und Erbschaft und viele andere Dinge. Über Parteireformen werden wir sprechen. Da ist einiges jetzt auch vorbereitet, aber man kann Vertrauenswürdigkeit nicht versprechen, sondern die muss man beweisen. Und ich glaube, dass wir im Verlauf des Jahres in der Partei dann wieder eine bessere Stimmung haben werden, und das wird sich dann auch niederschlagen in den Wahlen.

    Capellan: Was soll thematisiert werden in diesen wichtigen Wahlen? Die Union deutet an, dass man über Aufbau Ost zum Beispiel reden möchte. Wird es um den Irak gehen? Ein beliebtes Thema bei den Sozialdemokraten, da konnte man mit punkten bei der letzten Bundestagswahl!?

    Müntefering: Na, es wird bei Europa vor allen Dingen darum gehen, deutlich zu machen, dass Gerhard Schröder besser als jeder andere geeignet ist, die deutschen Interessen in Europa wahrzunehmen. Frau Merkel kann Europa erkennbar nicht,
    da hat sie vieles konfus im letzten Jahr durcheinander geredet. Dass wir außenpolitisch im Irak und an anderen Stellen klug gehandelt haben, Gerhard Schröder vorneweg, ich glaube, das beweist jeder Tag neu.

    Capellan: Es gibt Sozialdemokraten die sagen, 'wir werden uns zunutze machen, dass die Amerikaner derzeit relativ konzeptionslos im Irak daherkommen'. Wäre das klug?

    Müntefering: Nein, wir machen einen Wahlkampf für uns und für unsere Politik und dazu gehört eben die Gewissheit - die sich allerdings jeden Tag neu bestätigt - sehr gut, von Gerhard Schröder, von der Sozialdemokratie, nicht in den Krieg in den Irak einzutreten und es wird ganz vernünftig sein, im Nahen Osten einen Weg zu suchen, der Vermittlung und Verhandlung möglich hält, dass wir Frieden schaffen helfen müssen zwischen Israel und den Palästinensern, damit Israel in sicheren Grenzen leben kann, aber die Palästinenser auch eine solche Perspektive haben, und da muss der Verhandlungsweg weiter beschritten werden, auch wenn viele dramatische Ereignisse dagegen sprechen.

    Capellan: Franz Müntefering, eine abschließende Frage noch: Sie haben kürzlich auf der Kanzel einer Berliner Kirche gesprochen. Sie haben dem Papst zum Aachener Karlspreis gratuliert. Legendär ist ja Ihr Satz "SPD-Vorsitzender zu sein, das ist das zweitschönste Amt neben dem Papst". Also da fällt uns die Nähe zur Religion auf. Haben Sie schon für bessere Zeiten der Sozialdemokraten gebetet?

    Müntefering: Nein, aber ich bin sehr katholisch groß geworden. Ich mach ja auch nie ein Geheimnis daraus, und das hat mir ganz gut getan, und da gibt's Zugehörigkeitsgefühl und eine Sympathie dahin. Nein, aber im konkreten politischen Alltag merke ich oft nicht, wenn ich mit jemandem spreche, ist das jetzt ein Christ, ja oder nein? Ich glaube aber, dass Christ sein und eine solche Jugend, wie ich sie erfahren habe, den großen Vorteil hat, dass man Werte mitbekommt, die man in der Politik gut gebrauchen kann. Die Sache mit der Freiheit und der Gerechtigkeit und der Solidarität, das sind Dinge, die ich gelernt habe als Kind. - Und für die SPD bete ich nicht, dafür arbeite ich lieber!

    Capellan: Danke für das Gespräch

    Müntefering: Bitteschön.