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Ausbruch aus der Harmonie

Zunächst ist alles eitel Sonnenschein auf der Insel: Alle sind gleich, alles gehört allen, keiner hat mehr Macht als der andere. Doch langsam kippt die Gesellschaft der Insulaner in Thomas Freyers Stück "Das halbe Meer" - der emanzipatorische Anspruch löst sich in Gewalt auf.

Von Hartmut Krug |
    Sie kennen sich seit der Schulzeit, der 1981 in Gera geborene Dramatiker Thomas Freyer und der 1979 in Weimar geborene Regisseur Tilmann Köhler. Bereits viermal hat Köhler ein Stück von Freyer auf die Bühne gebracht. Es sind Stücke, in denen der junge Autor Lebensmodelle und Ideologien auf den Prüfstand stellt, die in ostdeutscher Nachwendewirklichkeit verortet sind. In "Das halbe Meer" beschreibt Freyer keine konkreten Lebenswirklichkeiten mehr, sondern mit dem Lebensraum einer Insel ein existenzialistisches Modell, dessen Halt- und Lebbarkeit untersucht wird.

    Freyer stellt dem Theater nicht wie viele seiner Jungdramatikerkollegen Textflächen zur Verfügung, sondern "richtige" Theaterstücke, mit Figuren, Situationen, Konflikten und einer durchgehenden Handlung. Auch "Das halbe Meer" ist eine große, rückblickende Erzählung, mit Versmaß und chorischen Partien.

    Die Menschen scheinen anfangs in Harmonie glücklich und zufrieden auf der einsamen Insel im Atlantik zu leben.

    "Wir haben das, was wir verdienen: Unsere Insel!"

    In einer Reihe stehen die Insulaner und erzählen sich, wie ihre Insel entdeckt, dann vergessen, schließlich erneut gefunden und vom immer noch hier lebendem ersten Siedler mit den Regeln einer freien Gesellschaft versorgt wurde. Alle sind gleich, alles gehört allen, keiner hat mehr Macht als der andere. Ackerbau und Handel mit vorbeifahrenden Schiffen schaffen die Grundlage für diese gelebte Utopie.

    Leer ist die Bühne, und Cembalospiel klingt wie ein Harmonisierungssignal aus fremder Zeit. Denn das Modell ist bedroht von ökonomischen Schwierigkeiten und von unterschiedlichen Haltungen und Erfahrungen verschiedener Generationen. Durch einen auf die Insel gespülten jungen Mann, schweigsam und unangepasst an die herrschenden Regeln, brechen die Konflikte aus und das Solidarsystem bricht unter dem Anprall von Egoismen zusammen.

    Regisseur Köhler lässt einzelne, zuerst die Jungen einer neuen Generation, herausbrechen aus der harmonischen Arm-in-Arm-Gruppe. Seine körpersprachlich bestimmte Inszenierung setzt auf die rhythmisch strukturierte, kraftvolle Sprache Freyers und verdeutlicht dabei Haltungen und Handlungen in klaren Arrangements.

    Karoly Risz hat eine gleichermaßen ästhetisch, metaphorisch und bühnenpraktisch überzeugende Bühnenbildlösung gefunden: Eine leuchtend weiße Papierbahn wird auf die leere Bühne gezogen. Auf diesem unbeschriebenen Blatt hinterlassen die Menschen ihre Lebensspuren. Es wird viel mit Farben gemalt, auf dem Blatt und auf den Körpern. Der einstige Regelgeber beharrt starr auf den alten Regeln und vermag sich auf die Schwierigkeiten der neuen Situation nicht einzustellen. Während eine Frau, die einst aus Ekel vor dem Geld auf der Insel blieb, nun mit Intrigen und Erotik heftig um die Macht kämpft.

    Liebessehnsüchte spielen eine große Rolle. Die Alten trauern verstorbenen Partnern nach, die Jungen haben ungenaue Sehnsüchte. Das Stück überzeugt, auch wenn es allzu deutlich konstruiert erscheint. Freyers Figuren wirken oft allzu ausrechenbar. Immerhin verleihen ihnen die Schauspieler des überzeugenden und homogenen Dresdner Ensembles eigenes Leben jenseits ihrer funktionalen Zuschreibungen.

    Natürlich geht die Geschichte schlimm aus. Der Fremde wird als Mittel im Machtkampf missbraucht und misshandelt, die durch Nichthandeln oder falsches Handeln schuldige Elterngeneration enttäuscht, und die Gesellschaft und ihr emanzipatorischer Anspruch lösen sich in Gewalt auf. Am Schluss wird das ein wenig zu lang und zu dick vom Autor aufgetragen, selbst ein blutiger Kampf gegen ein Rattenheer fehlt nicht. Übrig bleiben zwei Junge, der Fremde und ein auf der Insel geborenes Mädchen, die sich im leeren Raum, ohne Religion, Gemeinschaft, Regeln, Utopie und Hoffnung fragen: "Was tun wir jetzt? Nichts." Also ist Hoffnung.

    Stück und Inszenierung überzeugen mit ihrer Ernsthaftigkeit. Doch zuweilen wünscht man sich, das Stück wäre nicht so gut, so eindeutig gebaut, sondern hätte mehr Widersprüchlichkeit und etwas Provokations- oder wenigstens Erregungspotenzial. So aber sitzt man vor einer gut formulierten und sinnlich inszenierten, irgendwie bekannten Parabel und empfindet nur: Ja, so ist es.

    Informationen:
    Staatsschauspiel Dresden