Samstag, 04. Mai 2024

Archiv


Auschwitz in der geteilten Welt. Peter Weiss und die ‘Ermittlung’ im Kalten Krieg

Peter Weiss, ein deutschsprachiger Nachkriegsschriftsteller, aber nie deutscher Staatsbürger, vielmehr ein sogenannter ‘Halbjude’, der Deutschland im Zeichen der Nazi-Barbarei verlassen musste, der später die Qual des Entronnenseins auf sich nahm, Marxist im Spannungsfeld von Deutschland-West und Deutschland-Ost wurde, der berühmteste deutsche Thearterautor nach Brecht, der in den frühen und mittleren sechzigern Jahren mit seinen Dramen ‘Marat/Sade’ und vor allem mit der ‘Ermittlung’ Weltruhm erlangte.

Harro Zimmermann | 14.09.2000
    Kaum ein deutscher Nachkriegsautor hat so sehr im Kreuzfeuer ideologischer Kritik gestanden wie dieser Peter Weiss, und kaum einer hat einen so markanten Punkt gesetzt in der Geschichte der deutschen Nazi-Vergangenheitsbewältigung. Was aber, so die Frage an seinen Erforscher Christoph Weiß, macht die Rezeption dieses so hochpolitisierten Dichters von einst heute noch aus? Dazu Weiß: "Wenn Sie etwa die jüngste Veröffentlichung nehmen, einen bis vor kurzem noch ganz unbekannten Text aus den fünfziger Jahren ‘Die Situation’, den er auf Schwedisch geschrieben hat, so gilt das Interesse vor allem einem ausgezeichneten und in der deutschen Sprache hervorragenden Prosaautor, gar nicht so sehr dem Marxisten und Autor von politischen und Dokumentarstücken in den sechziger Jahren. Unbestritten ist die Qualität der frühen autobiografischen Texte ‘Fluchtpunkt’, ‘Abschied von den Eltern’, aber auch desjenigen Buches, mit dem er berühmt geworden ist, ‘Der Schatten des Körpers des Kutschers’. Es gibt also ein, jenseits des politischen Autors anhaltendes, Interesse an dem Prosaautor. Andererseits darf man annehmen, dass mit dem zunehmend hemmungsloser werdenden Kapitalismus auch eine antikapitalistisch motivierte Literatur, wie Weiss sie in seinen Analysen der späten sechziger Jahre geschrieben hat, durchaus wieder an Interesse gewinnen wird".

    Mit stark autobiografisch inspirierten, artistischen Texten hat Peter Weiss also begonnen. Für einen leicht esoterischen Avantgardisten hält man damals den Autor von ‘Der Schatten des Körpers des Kutschers’, des ‘Abschieds von den Eltern’, des ‘Gesprächs der drei Gehenden". Die hinter den autobiografischen Stoffen verborgenen gesellschaftlichen und politischen Motive haben die Rezensenten der fünfziger und frühen sechziger Jahre kaum zur Kenntnis genommen: "Vor allem in den beiden autobiografischen Schriften, die anfang der sechziger Jahre erschienen sind, ‘Fluchtpunkt’ und ‘Abschied von den Eltern’ ist natürlich seine Zeit während des Nationalsozialismus schon aufgearbeitet. Das war in den sechziger Jahren in Westdeutschland weitestgehend überdeckt von dem Bild des Sprachexperimentators, des Formkünstlers; und man hat diese inhaltliche Auseinandersetzung, mit dem Nationalsozialismus etwa, nicht wahrgenommen. Das gilt selbst für einen so hermetischen Text wie das ‘Gespräch der drei Gehenden’, der 1963 als das Äusserste an experimenteller Literatur gegolten hat, und selbst dort gibt es eine Massengrabszene, die im Grunde genommen unübersehbar ist, die aber von den Zeitgenossen, von den zeitgenösssischen Rezensenten in der Tat übersehen worden ist. Man muss im nachhinein wohl vermuten, dass diese Ausblendung der politischen Komponente im ’Frühwerk’ von Peter Weiss geradezu eine Voraussetzung gewesen ist für seine doch exzeptionelle literarische Karriere in Deutschland, exzeptionell für einen Emigrantren".

    Der Emigrant ist in Deutschland niemals wohlgelitten gewesen, hatte Thomas Mann gleich nach dem Krieg gegen das juste milieu der Inneren Emigration geschrieben - Peter Weiss macht nicht unähnliche Erfahrungen im Vaterland seiner deutschen Sprache. Dennoch, bald wird Hans-Werner Richter, Chef der legendären Gruppe 47, auf den jungen, in Schweden lebenden Autor aufmerksam. Die Schaltzentrale und Karrierebörse der Nachkriegsliteratur öffnet sich 1962 auch für Peter Weiss: "Der Auftritt in der Gruppe 47 und vor allem das ausserordentlich positive Echo auf seine Lesung war für Weiss mehr oder weniger der offizielle Eintritt in die westdeutsche Literaturszene. Die Gruppe 47 war die zentrale Schaltstelle, sowohl was die Verlage, als auch was die Feuilletons betroffen hat, und dadurch, dass Weiss dort in diesem Sinne aufgetreten ist, war es für sein Fortkommen in Westdeutschland ein ganz entscheidender Schritt."

    Peter Weiss absolviert eine erfolgreiche Lesung, verliert aber den Preis der Gruppe 47 an Johannes Bobrowski. Schuld seien bestimmte Fraktionen der Gruppe, meint er und zielt auf Günter Grass und dessen sozialdemokratisch gesinnte Literatur- und Reformfraktion. Doch das mögen blosse Mutmassungen gewesen sein. Denn noch ist Peter Weiss gar nicht der bekennende Marxist und DDR-geneigte Sozialist. Der Motor seines Schreibens ist nach wie vor das Schuldsyndrom des der Shoah Entronnenen:

    "Adorno hat von der drastischen Schuld des Verschonten gesprochen, und dieser Schuldkomplex ist bei Weiss psychobiografisch der Kern seiner schriftstellerischen Entwicklung seit den sechziger Jahren. Konkret, auch in seinen autobiografischen Texten immer wieder ausgesprochen, sind es die Vorwürfe, die er sich macht: überlebt zu haben, während andere in den Kzs vergast worden sind, und im schwedischen Exil sich nicht entschieden genug für die antifaschistische Bewegung eingesetzt zu haben. Das ist im Kern der Schuldkomplex, mit dem Weiss umzugehen hat".

    Was lag näher, als dass dieser Autor mit diesem Schicksal das vergangenheitspolitische Thema der fünfziger und sechziger Jahre aufnahm: den Auschwitz-Prozeß in Frankfurt, die "Strafsache gegen Mulka und andere" zwischen Dezember 1963 und August 1965. Es gab seit der ‘Ermittlung’ von Peter Weiss einen Diskursstand der Republik davor und danach. Das Drama, am 19. Oktober 1965 auf vierzehn Bühnen in Ost und West gleichzeitig uraufgeführt, wurde in über tausend Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen und Büchern diskutiert, der Autor sah sich des ‘linken’ Landesverrats gescholten im Westen, und im Osten der humanitären Entlarvung des Monopolkapitalismus belobigt. Ein literarisches Dokumentar- und Dikskursstück also wurde zum Ferment der politischen Selbstverständigung der Deutschen über ihre Nazi-Vergangenheit.

    "Weiss hatte den Plan gefasst, einen der grossartigsten Pläne der deutschen Nachkriegsliteratur, die ‘Divina Commedia’ Dantes neu zu schreiben. Aus diesem Großprojekt, begonnen 1964, sind alle seine weiteren Texte hervorgegangen, bis hin zur ‘Ästhetik des Widerstands’ und unmittelbar zunächst die ‘Ermittlung’. Innerhalb des ‘Divinia Commedia’-Planes hatte er vorgesehen, dass Material aus dem Auschwitz-Prozess im dritten Teil des ‘Paradiso’ zu verwenden. Während er anfängt zu schreiben, ist der Prozess 1964 gerade einen Monat alt. Natürlich gab es viele Vorberichte, es lag also unmittelbar nahe, dieses Material zu verwenden. Er hat dann sowohl selbst den Prozess besucht, im Frühjahr 1964 vor allem, dann aber aus den Zeitungsberichten, aus den Zeugenberichten und den Mitschriften der Aussagen, die vor allem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dokumentiert worden sind, geschöpft für die ‘Ermittlung’. Man kann es vielleicht am einfachsten im Vergleich sehen zu denjenigen Texten, Theaterstücken, Filmen, die in der Zeit vor 1965 zu diesem Thema gedreht und geschrieben und aufgeführt worden sind. Nehmen wir den ‘Stellvertreter’ von Hochhuth 1963 - da bleibt das Zentrum des Nationalsozialismus, die Ermordung der europäischen Juden, noch am Rande. Es wird zwar diskutiert, aber es bleibt gleichwohl am Rande. Während bei Weiss mit dem Auschwitz-Prozess nun der Holocaust ganz ins Zentrum der Darstellung rückt und auch bei den Zeitgenossen im Zentrum der Diskussion bereits gestanden hat."

    Nach der Amnestierungswut und Amnesie der fünfziger und sechziger Jahre stand nun der absolute Kulturbruch Auschwitz, ob man wollte oder nicht wie in der sogenannten ‘antifaschistischen’ DDR, als gesamtdeutsches Verantwortungsproblem vor aller Augen. Was Holocaust-Seifenopern später zu schmachtender Tränenseligkeit verwandelten, hat die ‘Ermittlung’ von Peter Weiss an bohrendem Problembewußtsein überhaupt erst geschaffen.

    Christop Weiß, gänzlich unverwandt mit dem namensgleichen Dichter, hat uns diese Zusammenhänge mit erstaunlicher Materialkenntnis vor Augen geführt.