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Ausflug in die Geschichte

"Aufbruch in die Gotik" - so heißt eine imposante Ausstellung, mit der in Magdeburg die Grundsteinlegung des ersten gotischen Doms in Deutschland begleitet wird. Das Gotteshaus wurde vor 800 Jahren gebaut - und ist heute die zweitgrößte gotische Kathedrale nach dem Kölner Dom.

Von Franz Nussbaum | 01.11.2009
    Wir hören die Domglocken hier aus den charakteristischen Doppeltürmen. Unterhalb des Domhügels fließt gemächlich die Elbe vorüber. Wenn wir diese Elbe befragen, sie könnte behaupten, ohne ihre Transporthilfe, ohne die vielen Schiffe vor 800 Jahren, wäre das gewaltige Kirchen-"Schiff" überhaupt nicht planbar gewesen. Die ungeheure Masse von Steinen, das Holz, alles, was die Bauschmiede brauchen - alles wird über diese Elbe damals antransportiert.

    Heute nennt man das "Just in Time", wenn 60 Kilometer von hier entfernt, in der Autostadt Wolfsburg, punktgenau 24 Stunden rund um die Uhr die Bauteile für die VW-Modelle angeliefert werden.

    "Just in Time" kommen 1209 hier auf dem Bauplatz Magdeburg nach den Plänen der französischen Baumeister die Materialien an. Einige der Baumeister tragen auch die Kutten der Zisterzienser-Mönche, quasi der abendländische "Bau-Orden", spezialisiert auf Gotik. Ich habe hier eine Kopie einer alten Zeichnung, wie es denn damals auf dem Bau ausgesehen haben mag. Die eher wackeligen, recht einfachen Seilaufzüge. An einer anderen Stelle werden diese Aufzüge von einem Laufrad angetrieben, wo also Menschen in einer Art Hamsterrad die Seilwinde bewegen. So kann alles für die jeweiligen Baustufen der Steinmetze hochgezogen werden. Und das bei einer Gewölbehöhe von 35 Metern. Ein gehöriges Stück gefährlicher Arbeit. Auf meinem Bild turnen die Bauleute, die Maurer, die Zimmerleute freihändig, ungesichert, auf allerlei Leitern und Gerüsten rum. Und wir wollen uns an die typischen Merkmale der Gotik erinnern. Zusammengefasst:

    "Die Kreuzrippengewölbe, die Spitzbögen, die ungeheure filigrane Verschlankung der Mauern und Pfeiler ermöglichen eine Durchlichtung und Höhensteigerung der Räume. Das bedeutet bautechnisch, vieles wird unten am Boden vorgefertigt. Und die Steinmetze der Gotik steigen vom Handwerker zum hoch bezahlten Spezialisten auf."

    1209 zur Grundsteinlegung hat Magdeburg rund 4.000 Einwohner, man verdient prächtig am Fernhandel. Wir müssen uns 1209 hier eine gewaltige Baugrube vorstellen. Neben der Baugrube liegen, unter anderem, kostbare antike Säulen, geborgen aus dem Vorgängerdom. Dieser romanische Dom ist 1207 abgebannt. Und nur zwei Jahren nach dem Brand sind 1209 "Just in Time" die gotischen Baupläne fertig, sind französische Fachleute in Magdeburg. Klammer auf, möglicherweise von anderen Baustellen abgeworben? Zum Baubeginn lesen wir:

    "Zur Grundsteinlegung kommen zwei päpstliche Legaten angereist, auch viele weitere kirchliche und weltliche-, sprich, adelige Würdenträger wieseln damals zur Feier des Tages hier auf dem Domplatz herum und erflehen Gottes Segen für den "Aufbruch in die Gotik", die erstmals im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in Magdeburg hochgezogen werden soll."

    Dass es aber 310 Jahre bis zur Fertigstellung dauern wird, das hat damals kein frommer Seher vorhergesagt. Die Hauptfigur und der Antreiber für den gotischen Dombau ist der damals knapp 40-jährige neue Erzbischof von Magdeburg, Albrecht II. von Käfernburg, aus einer der mächtigsten Fürstenfamilie Thüringens. Martin Günther:

    "Und dieser Erzbischof hatte in Paris sein Theologiestudium absolviert, Mitte der der 1190er-Jahre. Und hat natürlich dort die entstehende Kathedrale Notre Dame und rund um Paris die weiteren entstehenden Kathedralen gesehen. Und war schon überzeugt, dass er, wenn überhaupt, dann hier nach diesem neuen Bauprinzip bauen wollte."

    Nussbaum: "Wobei die ja auch noch nicht fertig waren, es waren ja auch noch Baustellen."

    Günther: "Er war da, er hat die Bauleute kennengelernt, er hat die Meister des Baues, die Maitre d’Oeuvre kennengelernt und hat natürlich deren geistiges Programm, das hinter der Gotik steht, kennengelernt. Und das muss ihn derartig überzeugt haben, dass es für ihn nichts anderes mehr gab. Und wir wissen ja, dass merkwürdigerweise fünf Tage nach seinem Amtsantritt hier, 1207 im April, dann der Brand des alten romanischen Doms stattfand. Ist doch merkwürdig, so kurz hinterher? Und kurz darauf hat Albrecht schon die richtigen Leute hier gehabt, die richtigen Baupläne, und hat den Grundstein gelegt."

    Nussbaum: "Ich habe da jetzt etwas zwischen den Zeilen von einem Tatort Magdeburg heraus gehört?"

    Günther: "Auch das hat er in Frankreich gesehen. Denn für manche der gotischen Kathedralen wurde bewusst die vorherige Kirche abgebrannt. Da hat man dann einfach freien Raum geschaffen. Und warum sollte nicht auch in Magdeburg? In Köln war es ebenso."

    Warum nicht? Und wir stehen hier im Zentrum des Chores vor dem Sarkophag Kaiser Otto des Großen. Der Sieger auf dem Lechfeld über die Ungarn, 955, was ihm die Kaiserkrone einträgt. Otto I. beginnt im gleichen Jahr in Magdeburg mit dem Bau des dann 250 Jahre später (1207) abgebrannten Vorgängerdoms. Er ist auch derjenige, der dieses Magdeburg an der Elbgrenze des Reiches, macht-politisch und handelsstrategisch aufpoliert. Wir lesen:

    "Otto I. gründet 968 das Erzbistum Magdeburg an der Furt durch die Elbe. Jenseits der Elbe leben die Slawen. Und über Magdeburg läuft dann in Folge der lukrative Fernhandel bis in den polnisch-russischen Raum. Vom Erzbistum Magdeburg aus läuft auch die schwierige Christianisierung der Slawen, über die unterstellen Bischofsstädte Havelberg, Brandenburg, Zeitz und Meißen."

    Hier in Magdeburg ist also "Geschichte" auf unterschiedlichsten Ebenen eingefädelt worden. Und drüben in den Chorumlaufskappellen ist Ottos erste Ehefrau, die aus England stammende Königin Editha, beigesetzt. Otto und Editha heiraten im Alter von 17 und 18 Jahren. Und wir sind nun zum sogenannten "Heiligen Grab" hier im Dom rüber gewechselt. Einer kleinen Rotunde, nachgebaut dem Jesusgrab in der der Grabeskirche in Jerusalem. Und in den beiden hier sitzend dargestellten Skulpturen - gotischen Skulpturen -, vermutet man Kaiser Otto, das ist der mit der Krone, und seine Frau Editha. Und der 17-jährige Otto schenkt nach der Hochzeitsnacht seiner Editha dieses Magdeburg mit allen Rechten, mit Klöstern, Kirchen, mit dem Elbzoll und den Steuereinnahmen. Das ist nach damaligem Recht eine Art Risterrente, also eine Altersversorgung, wenn der Ehegatte vorher verstirbt. Editha ist also die Besitzerin dieser Stadt.

    Und Editha ist nun auch der "Star" der Ausstellung "Aufbruch in die Gotik" im Historischen Museum, gleich hier in Domnähe. Der kürzliche Fund ihrer Gebeine ist eine archäologische Sensation.

    Und dann soll man auch noch eine andere Geschichte andeuten dürfen. Wenige Wochen vor der feierlichen Vermählung zwischen Otto und Editha 929 wird der 17-jährige Otto vorehelicher Vater eines Sohnes aus einer Liaison mit einer slawischen Fürstentochter. Diesem außerehelichen Sprössling gibt die Otto-Familie eine wahrlich königliche Erziehung mit. Und später setzt Otto I. den dann 25-jährigen Sohn in das Amt des Mainzer Erzbischofs ein. Damals eine 1 A Spitzenstellung in Ottos Reich, wo es häufig chaotisch zugeht. "Wilhelm von Mainz", ein Erzbischof mit slawischem Blut. Er ist in jener Zeit auch ein bevorzugter Ratgeber und Diplomat dieses Kaiser Ottos. Eine Revolution an Integration? Und Wilhelm von Mainz fühlt sich auch seinen slawischen Wurzeln mütterlicherseits verpflichtet. Der Erzbischof von Mainz weilt auch häufig in wichtigen Fragen hier an der Elbe.

    Und nun wollen wir hier im Dom wieder die Gotik und die Domgründung von 1209 aufgreifen:

    Günther: "Es war ein Umschwung in einen geistigen Prozess. Die romanischen Kirchen in ihrer Niedrigkeit, Gedrungenheit und in ihrer Höhlenhaftigkeit erinnerten noch an die Katakomben des alten Rom, wo sich die Christen im Verborgenen treffen mussten, und hatten alle etwas Kryptisches. Das hat die Gotik natürlich absolut aufgebrochen, durch dieses Streben nach oben, durch dieses Aufbrechen der geschlossenen Wandflächen zu Gunsten großer Fenster. Also dieses Streben in der Richtung, wie man sich aus der Apokalypse, also dem letzten Buch der Bibel herrührend, gedacht hat wie das himmlische Jerusalem einstmals sein würde."

    "Die Franzosen haben natürlich dieses geistige Programm und auch das Know-how, besonders in der Skulpturen-Herstellung, mitgebracht, während die anderen, zumeist zisterziensisch geschulten Bauleute für den Bau an sich zuständig waren, also für das Hochziehen der Säulen, für die Gestaltung der Kapitelle und der Pfeilervorlagen und ähnliches mehr. Und natürlich das Gewölbe oben."

    Nussbaum: "Die Gotik im Kirchenbau - wie eine Predigt in Stein. 1209 ein Kulturtransfer von West nach Ost. Wer waren damals die Sponsoren von Magdeburg?"

    Günther: "Ja, das bleibt im Dunkeln. Es ist zwar urkundlich bezeugt, dass Otto IV., nachdem sein Kontrahent Philipp von Schwaben ermordet worden war und er also allein auf dem deutschen Thron saß, und daraufhin auch der Magdeburger Erzbischof Albrecht, von dem wir schon gesprochen haben, auf Ottos Seite, auf die Welfische Seite umgeschwenkt ist, weiß man, dass Otto sich erkenntlich gezeigt hat, dadurch, dass er 3.000 Silbermark zur Auferbauung des neuen Domes bereitstellen wollte. 3.000 Silbermark ist für die Verhältnisse des frühen 13. Jahrhunderts sehr, sehr viel. Man weiß auch, dass es bei unserem Dom manchmal, sogar Jahrzehnte lange Baustopps gab, weil das Geld ausgegangen war. Und da gab es dann Ablass-Schreiben des Papstes, der bei entsprechenden Ablassgeldern Absolution erteilte. Und damit eben die weitere Finanzierung anschieben wollte."

    Es hat rund 310 Jahre gedauert, bis der Dom hier in seiner heutigen Größe endlich fertig ist. Und direkt danach kommt die Reformation in die reiche, stolze Stadt. Magdeburg wird in Gänsefüßchen "Unseres Herrgottes Kanzlei", wird das Zentrum der Reformation. Dafür zahlt die Stadt 1631, im 30-jährigen Krieg, einen immens hohen Preis. Bei der Belagerung durch die kaiserlich-katholischen Truppen unter Tilly wird die Stadt erobert, geplündert, platt gemacht, der Dom aber verschont.

    Und nun sind wir mit Oberbürgermeister Dr. Lutz Trümper verabredet und fragen ihn nach seiner ganz individuellen Beziehung zum Dom:

    "Ja, die hab ich. Dieser 9. Oktober 1989, da war ich eigentlich das erste Mal lange im Dom. Da war die erste große Ansammlung von Menschen zur Befreiung Magdeburgs auch von der Diktatur vorher. Und das war imposant wie ich das erste Mal in meinem Leben freie Reden gehört habe. Reden gegen die Regierung und gegen das System, das wir damals ja ertragen mussten. Und dann als wir aus dem Dom raus kamen und dachten, da die Russen überall bewaffnete Hundertschaften der Kampfgruppen und der Polizei, dass es ernst wird. Und dann nichts passierte, und wir alle nach Hause gehen konnten. Das ist ein besonderer Tag, der mich und meinen Freiheitswillen und den Gedanken an den Aufbau einer neuen Zeit mit dem Dom auf immer verbindet."

    Nussbaum: "Gehen Sie mit mir auch einen anderen Weg. Gehen wir 370 Jahre zurück, als einer Ihrer Vor-Vorgänger, der große Otto von Guericke, als der Ihren Job damals angetreten hat. Es war ein total zerstörtes Magdeburg. Die letzten Rauchschwaden standen noch über der Stadt."

    Trümper: "Das ist für Magdeburger heute fast unvorstellbar. Wenn wir an die Zeit denken, wie wir eine Metropole waren, mit 20.000 Einwohnern. Da waren noch 2.000 in zwei Tagen noch übrig geblieben. Und dann ein Bürgermeister die Aufgabe hatte, aus Schutt und Asche ne neue Stadt zu konzipieren. Er selber hat ja als Ingenieur Straßenzüge vorgeschlagen, den Aufbau der Stadt mit auf den Weg gebracht, und war dann 30 Jahre am Stück Bürgermeister."

    Nussbaum: "Wieso hat der Tilly eigentlich den Dom stehen lassen?"

    Trümper: "Da war ein Domprediger Bake. Und der Bake hat ja die 2.000 Magdeburger, die sich in den Dom geflüchtet hatten, und um Gnade gebeten hatten, hat den Kniefall vor Tilly gemacht. Und dem ist Tilly nachgekommen. Hat dann die 2.000, die im Dom überlebt haben, begnadigt und hat ihnen sogar Essen gegeben, sie frei gelassen, damit die Stadt wieder aufgebaut werde."

    Dom-Geschichten aus acht Jahrhunderten. So häutet sich diese Stadt immer wieder und kommt auch wieder auf ihre Füße. Und so treffen wir auch – indirekt - den großen Magdeburger Barockkomponisten Georg Philipp Telemann, gegen 1690. Der junge Telemann ist Schüler hier an der Domschule. Und wir bitten Georg Philipp Telemann um ein besonders festliches Konzert zu diesem Anlass der 800-jährigen Grundsteinlegung. Denn er hat ja täglich diesen Dom aus der Nähe gesehen.

    Wir stehen wieder auf dem Domplatz. Die Telemann Musik war aus einer seiner sogenannten "Tafelmusiken", so um 1730, als Telemann gefeierter Musikdirektor sämtlicher Hamburger Kirchen ist und auch für die Hamburger Oper komponiert. Und speziell den grade gehörten Konzertsatz, die Noten dazu besorgt sich damals auch der Magdeburger Domorganist. Und man darf wohl annehmen, dass Telemanns Konzert für Trompeten, Violinen und Streicher auch hier aufgeführt worden ist. Hier stand also früher, im Schatten des Domes, die Domschule des kleinen Telemann. Britt Reipsch:

    "Telemann ist ja hier am 14. März 1681 geboren. Die letzte Station seiner schulischen Ausbildung hier in Magdeburg war die Domschule."

    Nussbaum: "Jungs, damals, Acht-, Neun-, Zehnjährige, die konnten Noten lesen, die konnten vom Blatt singen. Hat er in diesem Domchor gesungen?"

    Reipsch: "Er hat sich darüber nicht geäußert. Wir sind auch der Meinung, dass er nie Mitglied eines Schulchores gewesen ist, weil hier in Magdeburg die Chöre wohl in erster Linie Versorgungsinstitutionen waren, für materiell bedürftigere Schüler. Und das hatte Georg Philipp an sich nicht nötig."

    Nussbaum: "Da gab es also ein paar Pfennige für, oder ein Essen?"

    Reipsch: "Ja, die berühmten Akzidenzien, wenn man eben sang, dann kriegte man Einahmen, sang man auch bei Hochzeiten oder bei Begräbnissen und kriegt man einen gewissen Obolus, den sie dann auch noch abgeben müssen, an den Kantor. Aber ein Teil blieb auch bei den Sängern."

    Nussbaum: "In welchem Alter ist er dann von Magdeburg weg?"

    Reipsch: "Er schreibt, so als 13-Jähriger. Er hatte seine Schulausbildung dann vervollständigt in Zellerfeld und Hildesheim. Kam dann als junger Mann nach Leipzig. Und hat das Leipziger Musikleben revolutioniert. Er hat selber in der Leipziger Oper mitgesungen, hat komponiert für die Leipziger Oper. Und Telemann war einer der ganz berühmten Opernkomponisten der Zeit. In Leipzig Kirchenmusik komponiert, die eben auch in der Thomaskirche aufgeführt worden ist. Und war Hans-Dampf in allen Gassen."

    Und mit all diesen vielen Eindrücken gehe ich hier über das Pflaster des Fürstenwalls. Und in den Weg sind eingelassene Erinnerungsplatten mit den Namen und Lebensdaten von Otto dem Großen, von den Kaiserinnen Editha, von Adelheid, von Theophanu, von Otto II. und Kaiser Otto III. Und diesen Namen werde ich gleich in der großen Landesausstellung im Kulturhistorischen Museum wieder begegnen. Die Ausstellung heißt "Aufbruch in die Gotik".

    Service:

    Die Ausstellung Aufbruch in die Gotik ist noch bis zum 6. Dezember 2010 geöffnet, wegen des großen Interesses auch montags. Im Kultur-Historischen Museum sind unter anderem der Bleisarg der Königin Editha ausgestellt und man kann den reich bebilderten "Sachsensenspiegel", das älteste erhaltene deutschsprachige Prosawerk, sehen.