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Ausgabe 5/98

Wie sieht er heute aus, der typische "Lebenslauf" eines anspruchsvollen Dichters? Was unsere poetischen Individualisten wohl am meisten fürchten, ist die Unauffälligkeit, die "Durchschnittlichkeit" des Daseins ohne Erregungskurven und Skandale, ohne spektakuläre Auftritte oder finale Amokläufe. Ein Dichter, der sich mit dem moralischen Anspruch begnügt, bloß "ein brauchbarer Mensch" sein zu wollen, und daneben auf jede pathetische Selbsterhöhung verzichtet, ist heutzutage die absolute Ausnahmeerscheinung. Der im Juli dieses Jahres verstorbene polnische Dichter Zbigniew Herbert gehörte in diesem Sinn zu den untypischen Vertretern seiner Zunft. "Ich weiß, weit bin ich nicht gekommen", so heißt es in entschiedenem Understatement in Herberts Gedicht "Lebenslauf", "vollbracht habe ich/nichts nur Briefmarken/gesammelt Heilkräuter und nicht übel Schach gespielt." In Wahrheit hat Zbigniew Herbert seine schöpferischen Tätigkeiten zeit seines Lebens viel weiter ausgedehnt: Er hat nämlich philosophisch inspirierte Verse von weiser Skepsis und lakonischer Gelassenheit geschrieben, er hat poetische Denkbilder geschaffen, die in ihrer intellektuellen Klarheit einzigartig sind in der europäischen Lyrik der Gegenwart. Letzte Kostproben dieser poetischen Meisterschaft sind nun im aktuellen Heft, der Nummer 5/1998 der Literaturzeitschrift "Akzente" nachzulesen. Sechzehn Gedichte aus Herberts letzten Lebensjahren sind hier in der Übersetzung von Henryk Bereska dokumentiert, Gedichte, die aus Herberts letztem Gedichtband stammen, der noch kurz vor seinem Tod in Polen erschienen ist. Unter der Überschrift "Abschied" ist hier das poetische Vermächtnis Herberts zusammengestellt. Tatsächlich zieht hier der Autor bzw. sein poetisches Double "Herr Cogito" in skeptischer Selbstvergewisserung die Bilanz eines Dichterlebens. Hier präsentiert sich ein Lyriker, der seine intellektuellen Kräfte darauf konzentriert, sich nicht nur allen ideologischen Einflüsterungen zu verweigern, sondern auch die furchtbare Macht der letzten Worte, den Wahnsinn der letztgültigen, unumstößlichen Definitionen zu unterlaufen. "Das endgültige Wort", heißt es im Gedicht "Ich gab mein Wort", gleicht einer "schlinge um den hals": "und das gegebene wort/bleibt mir im halse stecken". Wenn der Schachspieler Herbert in einem anderen Gedicht die Unfehlbarkeit des Schachautomaten "Deep Blue" beklagt, so spiegelt das die Erkenntnisbewegung all seiner Gedichte: Denn sie trachten danach, die Wahrheit der persönlichen Erfahrung, die individuelle Epiphanie gegen die blinde Rationalität des Fortschritts und gegen die scheinbaren Gewißheiten der Ideologie zu verteidigen.

Michael Braun |
    Der Lyriker, so Herbert, zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, "in der Welt zu bleiben gleich einem denkenden Stein". In dieses intellektuelle Beharrungsvermögen, gepaart allerdings mit der Erwartung eines kommenden Verhängnisses, hat sich auch ein anderer großer Dichter eingeübt, der in den "Akzenten" mit einigen Haikus von düsterer Schönheit vertreten ist. Ich meine den schwedischen Dichter Tomas Tranströmer, der in seine poetischen "Wettergemälde" und Reisegedichte stets die Verlorenheit des Menschen mit einzeichnet. An Tranströmers Dichtung der drohenden Schatten und der rätselvollen "Menschenvögel" knüpft auch eine Dichterin an, die in den "Akzenten" erstmals für das deutsche Publikum entdeckt wird: die finnland-schwedische Dichterin Tua Forsström. Ein berühmtes Rilke-Zitat aus dem Gedicht "Archaischer Torso Apolls" ist ihrem Gedichtzyklus "Der Schneeleopard" vorangestellt. Es lautet: "Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern." Tua Forsström kann jedoch die Zuversicht Rilkes nicht mehr teilen: "Es gibt eine Verzweiflung/ so groß, daß niemand sie sieht".