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Ausgegrenzt und fasziniert vom Berauschtsein

Das Schicksal des heroinsüchtigen Straßenmädchens Christiane F. hat Millionen Menschen bewegt. 35 Jahre nach dem Welterfolg ihres autobiografischen Buches "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" stellt die Berlinerin Christiane Felscherinow, inzwischen 51 Jahre, ihr neues Buch vor - ein Resümee ihres Lebens. Corso traf Co-Autorin Sonja Vukovic.

Das Gespräch führte Florian Fricke |
    Die Journalistin Sonja Vukovic wollte eigentlich nur einen Artikel über Christiane F. schreiben, als sie vor drei Jahren an Frau Felscherinows Tür klingelte. Das erste Treffen dann verlief ziemlich unerwartet, wie sie unserem Reporter Florian Fricke erzählt.

    Sonja Vukovic: Ich war total verwundert. Wir haben uns in einem Bierbrauhaus in Berlin Mitte getroffen, und ich konnte es kaum glauben, dass die schöne Frau, die da durch die Tür hereintritt, Deutschlands bekanntester Junkie sein soll. Die hatte die Haare frisch gefärbt. Sie hatte sich sichtbar auch Mühe gegeben, sie hatte die Lippen rot angemalt und die Nägel und einen ganz feinen Mantel an. Erst als sie sich hinsetzte und ihre Handschuhe auszog, sah man an den Händen eben auch die Spuren der Vergangenheit. Die Hände sind vernarbt von den Einstichen. Und es war so, dass ich keine Fragen stellen brauchte. Sie sprudelte nur so aus sich heraus. Alle möglichen Themen kamen sofort zur Sprache. Das lag, glaube ich, auch daran, dass sie über zwei Jahre mit keinem Journalisten mehr gesprochen hatte.

    Florian Fricke: Warum, glauben sie, ist dieser Mythos Christiane F. so unglaublich groß, immer noch über 30 Jahre nach dem Erscheinen?

    Vukovic: So seltsam es sich vielleicht anhören mag: Ich glaube, dass der Wiedererkennungswert eines selbst in der Geschichte von Christiane unheimlich hoch ist. Ich glaube, dass sehr viele Menschen da draußen sich in einer gewissen Art und Weise einfach wiedererkennen. Die müssen nicht unbedingt Heroin nehmen. Aber die haben vielleicht auch ein zerrüttetes Elternhaus oder die finden ihre Peer Group nicht, wie man das so nennt. Die haben vielleicht Komplexe und suchen durch irgendeine Art die zu kompensieren, sei es durch exzessiven Sport, durch exzessives Essen. Die kennen das Gefühl, stigmatisiert zu werden. Und in so einem Teufelskreis sich zu bewegen – aber auch fasziniert zu sein von dem Berauschtsein, egal wodurch. Ich glaube einfach, dass ein breiter Teil der Bevölkerung sich wiedererkennt, auch anhand der Nachrichten und der Kommentare, die wir auf der Facebook-Seite von Christiane sehen und lesen – es ist unglaublich, was dort passiert.

    Fricke: Wie steht sie denn mittlerweile selber zu dem Buch? Ist das mehr Fluch oder Segen?

    Vukovic: Wenn das mal zur Sprache kam und ich war dabei, habe ich halt erlebt, dass sie sagt: Es war für sie im Nachhinein ein Fehler, dieses Buch zu veröffentlichen. Einfach die Ambivalenz auf der einen Seite, gegen einen Teil von sich selbst kämpfen zu müssen, der einen auf der anderen Seite ernährt. Das ist einfach schwer zu ertragen auch. Und das Stigma, mit dem sie seit über 30 Jahren durch die Welt laufen musste, ich habe das ja auch selber erlebt. Wenn ich mit Leuten über Christiane gesprochen habe, dann haben mich die als Erstes gefragt: Und, ist sie noch Junkie oder nicht? Es hat aber die wenigsten interessiert, was sie alles ist noch außer Junkie.

    Fricke: Wenn man sich nach dem ersten Buch und dem Film nicht mehr groß mit dem Thema beschäftigt hat, ist man schon erstaunt, wenn man das neue Buch liest, "Mein zweites Leben", wie viele Chancen sie einerseits hatte, aber auch wie viele interessante Menschen sie kennengelernt hat. Das ist ja Wahnsinn, diese Liste. Erste Freundin von Alexander Hacke, sie trifft sogar David Bowie ziemlich schnell nach dem Film, sie wird Au-pair-Mädchen bei den Diogenesverlegern. Aber irgendwie – es reißt immer wieder ab. Und auch da stellt sich immer wieder die Frage: Kann man ihr das zugute halten, dass sie eigentlich eine gewisse Oberflächlichkeit durchschaut, oder ist sie einfach nicht fähig, wirklich langfristig Bindungen einzugehen?

    Vukovic: Es ist megakomplex, und darum haben wir eben auch dieses Buch geschrieben. Also ich würde mal sagen, man könnte fast anfangen in ihrer Kindheit. Also das Verhältnis zu ihrem Vater war auch geprägt durch Liebe und Gewalt. Und das hat sie halt maßgeblich für ihr ganzes Leben geprägt. Sie hat daraus resultierend eine Faszination für das entwickelt, was ihr wehtut. Und sie hat auch gelernt, dass ihr die Menschen, die ihr am nächsten stehen und die sie lieben, ihr gleichzeitig wahnsinnig wehtun können. Das hat sie halt geprägt, und das wirkt sich auch auf alle Beziehungen bis zum heutigen Tage aus. Dass sie Oberflächlichkeit durchschaut, und dass ihr Promistatus auch überhaupt nichts wert ist, ist auch eine tolle Geschichte. Genauso Geld bedeutet ihr nicht viel. Es gibt einige Stars, die ein ähnliches Vermögen viel, viel schneller durchgebracht haben als Christiane. Ich meine, die lebt jetzt schon 35 Jahre von diesem Buch, das soll ihr mal jemand nachmachen. Gerade ein Junkie, dem man vielleicht vorwerfen würde, er würde das Ganze in Badewannen voll Heroin investieren – hat sie nie getan, sie geht sehr sorgsam mit ihrem Geld um. Ich glaube vielmehr, das große Problem in ihrem Leben ist, dass sie von Anfang an nicht gelernt hat, sich selbst zu lieben und sich selbst zu schützen und ein Interesse daran zu entwickeln, ein gesundes und nicht destruktives Leben zu führen.

    Fricke: Was erhofft sie sich denn selber von dem Buch?

    Vukovic: Na ja, das Eine ist, dass das Interesse an ihr nie richtig abgeebbt ist. Es war bis heute so, das habe ich auch im Rahmen unserer Arbeit miterlebt, dass plötzlich Boulevardpresse tagelang vor der Tür ausharrt und irgendwas wollte, zuletzt zum Tod von Bernd Eichinger zum Beispiel. Dass ihr das Vertrauen in die Medien aber auch so ein bisschen fehlte, weil sie in den Medien auch oft abgestempelt wurde, ohne dass man wirklich nach den Hintergründen gefragt hat. Sie hat das Buch schon als Chance genutzt, um auch noch mal ihre Wahrheit zu erzählen. Sie sagt ja auch gar nicht, das habt ihr euch alles ausgedacht, was ihr geschrieben habt, aber es gibt schon Gründe, und ich bin am Ende des Tages auch ein Opfer.

    Fricke: Ist das Buch jetzt eine direkte Fortsetzung von "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", oder haben sie wirklich versucht, was Neues zu kreieren?

    Vukovic: Ich würde sagen beides. Es fängt natürlich genau da an, wo "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" aufhört. Ich hatte auch die große Aufgabe, 35 Jahre zu rekapitulieren mit ihr zusammen. Das erste Buch, da geht es ja nur um anderthalb Jahre. Es ist viel passiert, wir haben das stakt natürlich zusammengeschrieben. Sie hat noch unfassbar viele Geschichten, die ich zum Teil auch noch nicht kenne, auch nach drei Jahren nicht. Aber die andere Sache ist auch, dass ich während der Gespräche mit ihr gemerkt habe: Ich brauch erst mal so ein Basiswissen, um überhaupt zu verstehen, in was für einer Lebenswirklichkeit sie lebt – um Dinge einordnen zu können, um zu verstehen, warum sie bestimmte Dinge so bewertet oder anders sieht. Dann habe ich gemerkt, okay, ich muss mich erst mal auseinandersetzen, wie sieht die Szene eigentlich heute aus. Da kommt zum Beispiel so ein Misstrauen auch her aus dieser Gruppe. Aber wie funktioniert auch Substitution? Was macht das Mittel mit dem Körper, mit der Psyche, und ist überhaupt jemand, der fast 40 Jahre lang stark und viele Opiate zu sich nimmt, gibt es überhaupt die Chance, den komplett clean zu bekommen und in die Abstinenz zu bringen? Heute weiß ich, die Chance steht gleich null, aus medizinischen Gründen schon allein. Und das habe ich versucht auch in Sachkapiteln in dem Buch ein bisschen zu beleuchten, damit das auch für den Leser nachvollziehbar wird, und ehrlich gesagt auch aus der Intention heraus, dass ich sensibilisieren will dafür.

    Fricke: Wie geht es ihr gesundheitlich jetzt?

    Vukovic: Schlecht. Man muss halt sagen, sie leidet seit mehr als 20 Jahren an einer schweren Hepatitis C, die halt irgendwann zwangsläufig zu einer Leberzirrhose führt, und in dem Stadium befindet sie sich gerade. Sie wird halt im Rahmen des Methadonprogramms medizinisch ordentlich überwacht, aber eine Leberzirrhose ist irreversibel.

    Fricke: Sieht sich Christiane F. denn selber in der Verantwortung für ihr Schicksal?

    Vukovic: Ja, auf jeden Fall. Sie hat zu mir mal gesagt, Sonja, ganz ehrlich, ich habe mich für ein anderes Leben entschieden. Also das heißt nicht, dass sie nicht auch unter gewissen Dingen leidet und dass auch alles Hand in Hand geht, aber sie weiß schon, also sie sagt auch, wir wissen, dass wir nicht normal sind.

    Fricke: Und man kann ihr durchaus zugute halten, dass sie irgendwas geheuchelt hat. Also sie ist jetzt auch nicht irgendeine Alibi-Aufklärerin, zum Beispiel.

    Vukovic: Richtig. Genau. Also sie sagt auch auf die Frage, die wird ihr relativ häufig gestellt: Was würden sie denn anderen Jugendlichen raten? Dann sagt sie immer so, ganz ehrlich, ich kann Anderen nichts raten. Ich kann nur sagen: Ich wahrscheinlich als der Mensch, der ich bin, würde immer wieder denselben Fehler machen.

    Fricke: Also wenn man sich die Faszination für das erste Buch anschaut und analysiert, das kalte West-Berlin, und dann diese todessehnsüchtigen, wahnsinnig jungen Menschen. Und da geht ja auch eine gewisse Romantik von aus. Und ich glaube, wenn man jetzt dieses Buch liest von, na sagen wir es ganz böse, einem alternden Junkie, dann bleibt dann nicht mehr so viel Romantik über, oder?

    Vukovic: Warum denn nicht? Also ich finde, am Ende sagt sie doch eines - also der letzte Satz ist der: was mich von anderen Junkies unterscheidet, dass ich immer wieder meine Träume wahr mache. Viele sind geplatzt, aber es ist ja nicht nicht vorbei. Ich glaube, das Entscheidende ist, dass wir jetzt auch an einem Punkt sind, an dem wir halt Anfangen müssen zu differenzieren. Das eine ist der Rausch, den jeder irgendwie lebt, und er in Form von Alkohol zum Beispiel legal ist, in anderen wieder illegal, und das andere ist etwas wirklich Morbides, also was Süchtiges, etwas Destruktives. Da geht es im Allerersten um Aufklärung, romantisch bleibt das am Ende des Tages aber trotzdem.

    Fricke: Steht Christiane F. vielleicht pars pro Toto für diesen Faustschen Pakt, den jeder eingeht mit den Freuden des Lebens, dass eben alles trotzdem seinen Preis hat?

    Vukovic: In jedem Fall! Das wird Christiane mit Sicherheit auf jeden Fall unterschreiben.