Monika Maron:
Ausgerechnet heute schien in B. die Sonne. Ein Indiz gegen die Wahrheit.
In B. scheint keine Sonne. Es kommt vor, dass mattes gelbes Licht sich durch den Nebel quält, wie durch Milchglas. Aber heute schien die Sonne. Ein kräftiger Nordostwind trieb den Nebel aus der Stadt. Fast immer wehte der Wind aus der entgegengesetzten Richtung, und die Stadt lag im Windschatten des Werkes.
Alfred Thal saß krumm, noch unscheinbarer als ohnehin, an seinem Schreibtisch und las Josefas Beitrag. In Thals Gesicht war nichts zu erkennen, das auf seine Zustimmung oder Ablehnung hätte schließen lassen. Alfred Thal blätterte um. "Hodriwitzka ist tot", sagte er. "Ein Unfall." "Dieses Scheißkraftwerk", sagte Josefa. "Nicht im Kraftwerk", sagte Thal, "hier auf der Straße. Er ist überfahren worden. Er war selbst schuld. Wollte auf dem Fahrrad links abbiegen und hat nicht gewinkt. Ist direkt vor den Bus gefahren und war gleich tot."
Hodriwitzka mit dem viereckigen Schädel und den viereckigen Händen war tot. Lag tot in einem Kasten, mit sauberen Händen, und war schuld. Hatte in einer Stadt gelebt, in der die Leute fünfmal häufiger Bronchitis haben als anderswo, in der Kirschblüten über Nacht an den Zweigen verdorren, weil ein giftiger Wind durch sie gefahren ist, hatte in einem Kraftwerk gearbeitet, in dem das Wort Sicherheit nicht erwähnt werden darf, und starb schuldig unter einem Bus.
Vielleicht hatte Hodriwitzka nur das Gleichgewicht verloren, weil ihm ein paar Körnchen von den hundertachzig Tonnen Flugasche in die Augen geflogen waren. Oder er hatte keine Kraft, das Fahrrad mit einer Hand zu lenken, nachdem er mit dem fünf Meter langen Feuerhaken zwanzigmal die Schlacke durch die Roste der Öfen gestoßen hatte. Für Hodriwitzka gab es Chancen genug, an seiner Stadt zu sterben. Er brauchte dazu keinen Bus. Ebenso gut hätte es ein undichtes Ventil sein können oder Kohlenmonoxid oder die alte steile Eisentreppe. Thal war froh darüber, dass es ein Bus war. Nicht im Kraftwerk, auf der Straße. Schuld.
Sendezeichen aus 50 Jahren DLF
50 Jahre Deutschlandfunk
Ausgerechnet heute schien in B. die Sonne. Ein Indiz gegen die Wahrheit.
In B. scheint keine Sonne. Es kommt vor, dass mattes gelbes Licht sich durch den Nebel quält, wie durch Milchglas. Aber heute schien die Sonne. Ein kräftiger Nordostwind trieb den Nebel aus der Stadt. Fast immer wehte der Wind aus der entgegengesetzten Richtung, und die Stadt lag im Windschatten des Werkes.
Alfred Thal saß krumm, noch unscheinbarer als ohnehin, an seinem Schreibtisch und las Josefas Beitrag. In Thals Gesicht war nichts zu erkennen, das auf seine Zustimmung oder Ablehnung hätte schließen lassen. Alfred Thal blätterte um. "Hodriwitzka ist tot", sagte er. "Ein Unfall." "Dieses Scheißkraftwerk", sagte Josefa. "Nicht im Kraftwerk", sagte Thal, "hier auf der Straße. Er ist überfahren worden. Er war selbst schuld. Wollte auf dem Fahrrad links abbiegen und hat nicht gewinkt. Ist direkt vor den Bus gefahren und war gleich tot."
Hodriwitzka mit dem viereckigen Schädel und den viereckigen Händen war tot. Lag tot in einem Kasten, mit sauberen Händen, und war schuld. Hatte in einer Stadt gelebt, in der die Leute fünfmal häufiger Bronchitis haben als anderswo, in der Kirschblüten über Nacht an den Zweigen verdorren, weil ein giftiger Wind durch sie gefahren ist, hatte in einem Kraftwerk gearbeitet, in dem das Wort Sicherheit nicht erwähnt werden darf, und starb schuldig unter einem Bus.
Vielleicht hatte Hodriwitzka nur das Gleichgewicht verloren, weil ihm ein paar Körnchen von den hundertachzig Tonnen Flugasche in die Augen geflogen waren. Oder er hatte keine Kraft, das Fahrrad mit einer Hand zu lenken, nachdem er mit dem fünf Meter langen Feuerhaken zwanzigmal die Schlacke durch die Roste der Öfen gestoßen hatte. Für Hodriwitzka gab es Chancen genug, an seiner Stadt zu sterben. Er brauchte dazu keinen Bus. Ebenso gut hätte es ein undichtes Ventil sein können oder Kohlenmonoxid oder die alte steile Eisentreppe. Thal war froh darüber, dass es ein Bus war. Nicht im Kraftwerk, auf der Straße. Schuld.
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