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Ausgerechnet ich

Er macht am Flügel einen vollkommen unkapriziösen Eindruck, die Bewunderer von Ivo Pogorelich halten ihn eher für einen Langweiler. Skandale, in letzter Minute abgesagte Konzerte oder wegen Publikumshusterei mitten im Satz abgebrochene Auftritte sind von ihm nicht bekannt. Nein, der Pianist Alfred Brendel, der gerade 70 geworden ist, hat seine Weltkarriere anders gemacht, und das ist jetzt auf 336 Seiten nachzulesen in seinem dieser Tage im Münchner Carl Hanser Verlag erschienenen Buch "Ausgerechnet ich".

Christoph Bartmann |
    Martin Meyer, Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung, hat den Pianisten über Gott und die Welt und die Musik und ihre Götter befragt und, sehr souverän in der Materie, in ausgreifende Gespräche verwickelt/Und zwar sehr zum Vorteil des Lesers. Wer mehr und vor allem Grundsätzlicheres über Komponist, Komposition und Interpretation wissen möchte, als im CD-Booklet steht, profitiert enorm von Brendels Buch, obwohl oder weil diesem gottseidank jeder pädagogische Eros abgeht. Was Sie schon immer über klassische Musik wissen wollten, sich (zum Beispiel in der Konzertpause) aber nie zu fragen trauten -Brendels Überlegungen sind, da er meistens argumentiert und begründet, nachvollziehbar, hörgewinnbringend, horizonterweiternd, auch für den, der nicht viel mehr mitbringt als seine Musikbegeisterung.

    Wie lässt sich eine Komposition charakterisieren?, was hat Mozart erfunden, was macht er anders als der von ihm verehrte Haydn? Warum sind Bach, Mozart, Beethoven, Schubert Meilensteine der Musikgeschichte, und Mendelssohn oder Grieg nicht? Was macht einen guten Musiker und Pianisten aus?, wie spielt man Mozarts unglaubliches Adagio h-moll (KV 540) "angemessen", und vor allem: was ist das, angemessen? Und was Werktreue? Was hat der Komponist eigentlich genau gewollt, gemacht, gemeint? Und wieviel Spielraum hat in diesem Rahmen der Interpret?

    Brendel äußert sich zu diesen - für einen Interpreten übrigens nicht unheiklen -Fragen angenehm unwolkig, unverblasen und konkret. Ob es um die Fingertechnik bei Beethovens "Waldstein"-Sonate handelt oder die Spekulation, Bachs berühmte d-moll Toccata BWV 565 sei möglicherweise für Solovioline geschrieben und nicht für Orgel, Brendel bleibt stets präzise und argumentiert druckreif. Oder, wie er selbst sagt, "so einfach wie möglich, aber nicht einfacher".

    Brendels Auffassung, der Interpret solle sich als Person zurückhalten bis zur Unsichtbarkeit, denn entscheidend seien allein das Werk und die Intention des Komponisten, hat hinsichtlich seiner eigenen Biographie eine beredte Wortkargheit zur Folge. Umso lebendiger, leidenschaftlicher und auskunftsfreudiger wird der Pianist, wenn es um die Musik geht. Vor allem die von Mozart, Beethoven, Haydn, Schubert und - erstaunlich in dieser Reihe - Franz Liszt. Mit ihnen hat sich Alfred Brendel als Theoretiker wie als Interpret eingehend befasst. Er ist der einzige Pianist, der die 32 Sonaten und 5 Klavierkonzerte Beethovens vollständig auf Platte bzw. CD aufgenommen hat, die meisten im Laufe der Jahrzehnte sogar mehrfach. Gerade sind die Klavierkonzerte von Beethoven in einer Brendelschen Neueinspielung, dirigiert von Simon Rattle, erschienen, Aufnahmen, bei denen, so ein Kritiker in der ZEIT, der sonst eher vergrübelt spielende Pianist zum "aufgeräumten Springinsfeld" werde.

    Da Brendel z.B. alle Klaviersonaten Mozarts oder Beethovens Satz für Satz im Gedächtnis hat, kann er Entwicklung und Aufbau eines Themas, eines Satzes, des kompletten Sonatenwerks aus dem Stand erläutern, in das Oeuvre einordnen und Schaffensperioden zuordnen. Das mag den Laien bei der Lektüre beeindrucken und zugleich überfordern, es ist hilfreich, da der Band ein Werk- und Personenregister hat: Wer also gerade Mozarts c-moll Sonate (KV 457) hört, kann Brendels Ausführungen zu dem Werk rasch mit seinem eigenen Hörerlebnis in Beziehung setzen. Brendel ist dank seiner sprachliche Anschaulichkeit Augen und Ohren öffnend, weil er dem Musikliebhaber ein begriffliches und analytisches Besteck in die Hand gibt, das es einem schnell ermöglicht, über ein bloßes "gefällt mir", "wirkt abgründig" oder "schwer zugänglich" hinauszukommen. Das ist, angesichts der Komplexität der Materie, nicht wenig. Wenn ein Werk, ein Komponist oder Interpret dem analytischen Blick und Ohr des Musikers und Intellektuellen A.B. nicht standhält, führt das gelegentlich zu harschen Urteilen, die Brendel - dafür bittet er am Schluss des Bandes sogar um Vergebung - nur bei erwiesener Seriosität des Gegners begründet. So ist Rachmaninow "reine Zeitverschwendung", "Tschaikowski unter den berühmten Komponisten einer, ohne den ich gut leben könnte", Glenn Gould ein "reiner Exzentiker", der "den Komponisten um der puren Originalität willen geradezu misshandelt", und Friedrich Gulda "technisch unfehlbar, aber in seinen Aufrührungen der Klassiker immer unerträglich kaltschnäuzig und unsensibel". Aber auch solche Invektiven sind meist unangenehm einleuchtend und plausibel.weil sie stets die Brendelsche Kardinalfrage im Blick haben: Was fügt ein Werk, ein Komponist, ein Interpret an Erfahrung hinzu, die es vorher in dieser Weise nicht gegeben hat?