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Ausgezeichnete Reportagen
Der Post-Relotius-Reporterpreis

Vor einem Jahr flogen die Fälschungen von Claas Relotius auf. Bei der ersten Verleihung des Deutschen Reporterpreises nach dem Skandal gibt sich die Branche geläutert, wie Samira El Ouassil in ihrer Kolumne beschreibt - auch wenn das nicht in allen Texten erkennbar sei.

Von Samira El Ouassil | 04.12.2019
Ein Mann schreibt mit einem Stift in seinen Notitzblock.
Viele Reporter sind bei ihrer Arbeit nach dem Fall Relotius sensibilisiert (www.imago-images.de)
Es war die erste Ausgabe nachdem vor einem Jahr enthüllt wurde, dass der Reporterpreis-Wiederholungs-Preisträger Claas Relotius etliche seiner Reportagen gefälscht hatte.
Das berufsethische Entsetzen überwand die Branche im vergangenen Jahr mit Selbstreflexion und Selbstkasteiung: zerknirscht konstatierte man die handwerkliche Verwässerung der Reportage zugunsten von atmosphärischer Unterhaltsamkeit. Zudem wurde die gesamte Preisverleihungskultur des Journalismus infrage gestellt. Der rasende Relotius Sound wurde in seinem ornamentalen Pathos zur Parodie der Reportage. Aber er stand im Grunde auch exemplarisch für berichterstatterischen Kitsch, den man in prämierten Texten fand.
Diese Erschütterung der Presselandschaft hatte daher auch etwas Reinigendes. Man erinnerte sich daran, dass eine nicht unwesentliche Funktion der Reportage der Report, also der Bericht sein kann. Journalistische Sachverhalte sollten nun wieder befreit werden, aus ihren "narrativen Gefängnissen" wie Frank Schirrmacher es mal bezeichnet hatte - und wie es Reporterpreis-Moderator Cordt Schnibben am Montag wiederholte.
Neue Auszeichnungsregeln für Reporter
Es stand zur Debatte, ob man den Preis in diesem Jahr ausfallen lassen sollte - aber man entschied sich stattdessen für neue Auszeichnungs-Regeln. Die Jury und der Bewertungsprozess wurden umstrukturiert. Außerdem wird nun von den Autoren ein sogenanntes "Making of" benötigt, das Quellen und Kontakte offenlegt, damit die Juroren die Entstehungsgeschichten der Texte nachvollziehen können.
Schaute man sich nun die 90 nominierten und auf dem Reporterforum verfügbaren Werke an, konnte man sich dennoch fragen, ob die neuen guten Vorsätze tatsächlich auch in die Bewertungen der Einreichungen einflossen. So wie Harald Staun in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung kommt man nicht umhin, in der Gesamtheit der Texte bei all dem geballten Elend als thematisches Leitmotiv ein bisschen zu schlucken: Zwangsprostitution, Kinder im Krieg, Tote Babys. Fast prototypische Reportagesujets in Texten, die, wie Staun schreibt, "mit großem Aufwand und geschärftem Blick für Kleidungsstücke moderne Sozialtragödien anhand von traurigen Einzelschicksalen erzählen. Geschichten, die nichts erschüttern außer den Glauben an die Menschlichkeit".
Auch über Stilisierungen und szenische Nacherzählungen wundert man sich in den Texten, da wird sich "noch ganz genau erinnert", Dinge "liegen in der Luft", da gibt es Protagonisten, "die sind einfach so ein Mensch". Man liest Dialoge, bei denen der Journalist gar nicht dabei gewesen sein kann und von Wetter, das wie zufällig die Psychologie der Protagonisten spiegelt.
Keine parfümierten Betrachtungen
Ein großer Fortschritt aber: in keinem Text gab es einen reingeschriebenen Soundtrack. Wenn man aber nun betrachtet, welche Texte an dem Abend gewonnen haben, lässt sich feststellen: die Jury scheint sich die Kritik an der Preisvergabe zu Herzen genommen zu haben und ließ sich von einer Ästhetik der Atemlosigkeit nicht beeindrucken.
Die preisgekrönten Reportagen zeichnen sich nicht mehr durch parfümierte Betrachtungen aus, sondern wagen einen beobachtenden Blick, der die Sachverhalte mit ihrer unfilmischen Wirklichkeit aushält und würdigt - und der die Dramatik des Seins nicht zwanghaft zu Tragödien hinfiktionalisiert.
Als beste Reportage prämierte die Jury Harald Maass’ Text "Die Welt, von der niemand wissen soll". Ein unfassbar relevanter Text über geheime Umerziehungslager in der chinesischen Region Xinjiang und über ein hiesiges Hightech-Überwachungssystem, mit dem die muslimische Minderheit unterdrückt wird. Maass beschreibt, wozu China digital und despotisch in der Lage ist. Das Stück ist nüchtern, abbildend, fast pragmatisch in seiner Diktion.
Die Jury hat verstanden, nicht alle ReporterInnen
Auch das preisgekrönte Essay "Kriegerin" von Else Buschheuer ist in seiner Direktheit von furchtloser Schonungslosigkeit – sowohl dem Leser als auch der Autorin gegenüber. Er beginnt mit einer verpfuschten Brust-Operation und entwickelt sich zu einer Introspektion über die eigene Sexualität, die geschlechtliche Identität und das erzählende Ich der Autorin. Er ist Chronik gewordene Aufrichtigkeit.
Diese und die anderen Gewinnertexte klingen in ihrer Schnörkellosigkeit geradezu wie Gegenentwürfe zu den prämierten Texten der Vorjahre. Sie machen genau die Fehler nicht, die zu Beginn des Jahres moniert wurden - aber das Wichtigste: kein Text klingt so als sei er nur geschrieben worden, um einen Reporterpreis zu gewinnen. Die Preisverleihung ein Jahr nach Relotius - hat sich was verbessert?
Die Jury hat verstanden, jedoch noch nicht alle ReporterInnen.