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Auslaufmodell Großbritannien?

Die schottische Regierung unter Alex Salmond von der Scottish National Party kann sich seit 2011 auf eine absolute Mehrheit stützen. Nach fast acht Jahrzehnten Parteiarbeit sollen nun die Weichen Richtung Unabhängigkeit Schottlands gestellt werden.

Von Jochen Spengler | 16.11.2011
    Lasst uns Schottland zu Wohlstand und Unabhängigkeit führen, verkündet Alex Salmond in seiner Videowerbung, die auf viele, oft schon ergraute Delegierte herabflimmert. Sie lauschen seiner Botschaft und sind beglückt – ein Parteitag der Schottischen Nationalpartei wie ein Jungbrunnen. Begeistert applaudieren sie ihrer unumstrittenen Nummer eins.

    Alex Salmond erinnert von Aussehen und Statur an eine etwas größere und etwas schlankere Ausgabe des Schauspielers Dany de Vito. Seit 2007 ist der humorvolle 56-Jährige First Minister in Edinburgh, der Ministerpräsident Schottlands. Und er ist der Vorsitzende der SNP – der Scottish National Party. Sie wurde vor 77 Jahren gegründet mit dem Ziel, Schottland zur Unabhängigkeit zu führen. In diesem Jahr hat Salmond seine Partei erst einmal zur absoluten Mehrheit geführt.

    Bei den Wahlen zum schottischen Regionalparlament im Mai erzielten die sozialdemokratisch orientierten Nationalisten völlig überraschend einen Erdrutschsieg. Die beiden Parteien, die das Vereinigte Königreich derzeit regieren, Konservative und Liberaldemokraten, kamen im Norden nur auf eine Zustimmung von 20 Prozent. Labour landete in seiner einstigen Hochburg bei 29, die SNP dagegen bei 45 Prozent der Stimmen und bei 54 Prozent der Mandate. Umgehend bekräftigte Alex Salmond das Versprechen aus dem Wahlprogramm:

    "Das Volk hat der SNP Vertrauen geschenkt, wie niemals einer Partei zuvor während einer schottischen Wahl. Wir werden dieses Mandat nutzen, um voranzuschreiten und die Befugnisse unseres Parlaments zu erweitern. Und wir sollten umgekehrt den Menschen vertrauen. Deswegen werden wir in dieser Legislaturperiode ein Referendum ansetzen und dem Volk Schottlands seine eigene verfassungsmäßige Zukunft anvertrauen."

    Eine Volksabstimmung also, bei der die Schotten entscheiden, ob die Regierung in Edinburgh mit der britischen Regierung in London Verhandlungen aufnehmen soll, mit dem Ziel, das United Kingdom zu verlassen. Das Referendum ist für 2014 oder 2015 geplant. Das verschafft Alex Salmond Zeit, Zweifler zu überzeugen; auch davon, dass Schottland in guten Händen ist. Seit Mai regiert die SNP allein. Und der konservative britische Premierminister David Cameron in Westminster ist alarmiert.

    "Ich glaube leidenschaftlich an unser Vereintes Königreich. Ich gratuliere Alex Salmond zu seinem überzeugenden Sieg und werde alles tun als britischer Premierminister, um mit dem First Minister von Schottland zusammenzuarbeiten, wie ich es immer tue. Ich werde das schottische Volk und seine Regierung mit dem gebührenden Respekt behandeln, aber wenn sie ein Referendum durchführen wollen, werde ich mit jeder Faser meines Körpers versuchen, unser Vereinigtes Königreich zusammenzuhalten."

    Tatsächlich könne man das Votum der schottischen Wähler am 5. Mai noch nicht als Votum für die Unabhängigkeit des Landes werten, analysiert Professor John Curtice von der Strathclyde-University in Glasgow das Wahlergebnis:

    "Im Mai konnten die Menschen entscheiden, wer die für Schottland effektivste Landesregierung bilden kann. Um die verfassungsmäßige Zukunft ging es aber nicht. Alex Salmond ist ein ungewöhnlich charismatischer Politiker. Mit ihm als First Minister sind immer noch mehr Menschen zufrieden als unzufrieden. Seit der Dezentralisierung 1999 hat die SNP ihre beste Mannschaft nach Holyrood geschickt. Im Gegensatz dazu sind die guten Leute von Labour ins Parlament nach Westminster gezogen und in Holyrood spielt nur ihre Ersatzelf. Das haben die Wähler erkannt und deswegen so überwältigend für die SNP gestimmt."

    Seitdem kann die Partei vor Selbstbewusstsein kaum laufen. Zurück zu ihrem Jubelparteitag, den sie Mitte Oktober vier Tage lang im Eden Court Theatre in Inverness zelebriert, wo zwei Farben dominieren: blau für Schottland – gelb für die SNP. Nicola Sturgeon ist erst 41, aber die Stellvertreterin Salmonds in Regierung wie Partei. Eine zierliche Frau mit spitzem Kinn, schmalen Lippen und eisernem Willen – der Liebling der Basis.

    "Die anderen Parteien fordern uns auf auszusprechen, was Unabhängigkeit meint. Dann lassen Sie es mich aussprechen: Unabhängigkeit bedeutet, nicht mehr länger zusehen zu müssen, wie unser nationaler Reichtum von Westminster-Regierungen vergeudet wird."

    Das spricht den meisten aus der Seele hier. Nach fast acht Jahrzehnten Parteiarbeit sollen jetzt die Weichen Richtung Unabhängigkeit gestellt werden. Pam ist 50, Gary halb so alt, aber beide sind überzeugt, dass Schottland wirtschaftlich besser dran wäre, wenn es selbst entscheiden und über die Ressourcen Öl und alternative Energien allein verfügen könnte.

    David ist schon 75 mit Halbglatze, das verbliebene, weiße Haar schulterlang. Stolz trägt er seinen Kilt, einen Schottenrock mit gelbblauem Karomuster und sagt:

    "Früher habe ich geglaubt, dass die Machtverlagerung, die Regionalisierung genügen könnte. Aber jetzt glaube ich, dass nur die völlige Unabhängigkeit funktioniert. Eine unabhängige Regierung kann dann anschließend ja Teile ihrer Souveränität abgeben, wenn sie will. Kein Land ist ja völlig unabhängig in der modernen Welt."

    Schon jetzt ist Schottland in weiten Bereichen autonom. Es verfügt über ein eigenständiges Rechts- und Kirchensystem. Es pflegt den eigenen Dialekt, hat eine eigene Flagge, eigene Nationalmannschaften, ob Fußball oder Rugby, sogar eigene Pfundnoten. Die sogenannte Devolution, die unter Tony Blair eingeführte Dezentralisierung der Macht, hat dem Norden 1999 ein eigenes Parlament beschert, das über mehr Befugnisse als ein deutscher Landtag verfügt. In Holyrood, dem Regierungsviertel in Edinburgh, wird über Gesundheit, Erziehung, Umwelt, Polizei, Tourismus, Landwirtschaft und anderes mehr entschieden.

    Doch wichtige Bereiche wie soziale Sicherheit, Arbeitsmarkt, Energie – vor allem aber Finanzen, Außen- und Verteidigungspolitik werden nach wie vor in London bestimmt. Nicht mehr lange geht es nach dem Willen der SNP. Die Mehrheit der Schotten von der Unabhängigkeit zu überzeugen, wird nach Ansicht des Politikwissenschaftlers John Curtice aber nicht so einfach sein.

    "Wenn man die Umfragen insgesamt betrachtet, sieht es so aus, als ob die Unterstützung für die Unabhängigkeit eine Minderheitsmeinung in Schottland bleibt. Es hängt natürlich ein wenig davon ab, wie die Fragen gestellt werden. Aber wenn die Leute gefragt werden, sich zu entscheiden zwischen einem höheren Grad der Dezentralisierung, der völligen Unabhängigkeit oder gar keinem eigenen Parlament, dann stimmt nur ein Viertel bis ein Drittel für die Unabhängigkeit. Dieses Verhältnis hat sich offenbar nicht wesentlich verändert seit dem Beginn der Devolution 1999 oder seit der Regierungsbeteiligung der SNP ab 2007."

    Die Analyse des Politikwissenschaftlers wird bestätigt, hört man sich bei den Menschen in Inverness um, dem Tor zu den Highlands.

    Schnell fließt der flache, breite River Ness durch das saubere, blumengeschmückte Städtchen. Wie überall in Schottland flattern viele blaue Flaggen mit dem weißen Andreaskreuz. Der Union Jack, die Flagge Großbritanniens, ist dagegen deutlich weniger oft zu sehen. Pubs werben auf Tafeln mit der Liveübertragung der Rugby-WM und preisen Haggis an, Schafsmagen mit Innereien gefüllt, eine schottische Spezialität. In vielen Schaufenstern warten Lammwollpullover, Schals und Schottenröcke auf Käufer. Doch davon abgesehen findet man in Inverness die gleichen Supermarkt- und Schnellimbissketten wie in England. Obwohl es sich hier um das Kernland der schottischen Nationalpartei SNP handelt, nehmen viele Einwohner den Parteitag gar nicht zur Kenntnis. Begeisterte Separatisten scheinen sie auch nicht zu sein.

    "Junge: Nein, Schottland ist Teil Britanniens und sollte nicht unabhängig werden.

    Mädchen:Ich weiß nicht, hängt davon ab, wer uns führt.

    Mann: Ich würde mich freuen, wenn wir Teil des Vereinigten Königreichs blieben und nicht abgespalten würden.

    Frau: Nein, wir würden nicht überleben.

    Mann: Ich bin mir nicht sicher, ich kann es nicht sagen.

    Mädchen: Nein, wir haben nicht genug Geld.

    Junge: Ich bin durch und durch britisch.

    Junge: Ich bin unentschieden, aber es macht nicht viel Unterschied, was soll’s?"

    Auch wenn die SNP ein Referendum zur Unabhängigkeit Schottlands nach Ansicht der Meinungsforscher derzeit nicht gewinnen würde, strahlt Angus Robertson Optimismus aus. Der kräftige 42-Jährige mit blondem Lockenschopf sitzt für die SNP im Londoner Unterhaus und soll die Volksbefragung organisieren.

    "Die schottische Innenpolitik hat sich seit Mai vollkommen geändert. Zuvor war die Idee eines unabhängigen schottischen Staates für manche ein Traum, für manche ein Albtraum, jedenfalls irgendwas Abstraktes. Das, was früher abstrakt war, ist jetzt greifbar. Die wissen jetzt, es kommt und die, die früher dagegen waren, sagen heute, ja, es ist möglich, ich will mehr darüber lernen und werde dann in Zukunft entscheiden. Das heißt nicht nein, aber vielleicht."

    Bis 2020 könne die Unabhängigkeit ausgehandelt werden, schätzt Robertson. Auf alle Fälle aber hat sich der gewiefte Parteivorsitzende Alex Salmond eine Rückfallposition gesichert – falls es nicht gelingen sollte, die fünf Millionen Schotten zu überzeugen, dass es ihnen besser geht ohne die 56 Millionen in England, Wales und Nordirland.

    "Unser Ziel ist Unabhängigkeit. Ein normaler Staat innerhalb der EU zu werden. Es gibt aber viele Stimmen in Schottland, die sagen, es gibt eine weitere Möglichkeit, nämlich die finanzielle Autonomie, ein zwar nicht unabhängiges, aber ökonomisch selbstständiges Schottland. Und darüber sollte auch abgestimmt werden. Es gibt also zwei mögliche Fragen: Ja oder Nein zur Unabhängigkeit und: ja oder nein zur finanziellen Eigenverantwortung. Es ist noch nicht endgültig entschieden, aber wir haben zwei, drei Jahre, bis wir das dem schottischen Volk vorlegen."

    Tatsächlich signalisieren Umfragen, dass für eine Finanzautonomie schon jetzt zwei Drittel der Schotten stimmen würden. Die zumindest soll erreicht werden. Was aber genau darunter zu verstehen ist, darüber streiten die Gelehrten.

    "Eins hat uns die Devolution, die Dezentralisierung der Macht von 1999, gelehrt: Wir können unsere eigenen Angelegenheiten regeln. Seither haben alle schottischen Regierungen das Gesundheitssystem, die Erziehung, das Rechtswesen, Umweltfragen sehr zufriedenstellend geregelt. Warum sollten sie dann ihre Steuern nicht managen können?"

    Fragt sich der Wirtschaftswissenschaftler Professor Andrew Scott von der University of Edinburgh. Schottland sei ökonomisch durchaus überlebensfähig. Allein die Ölquellen vor den Küsten sind noch auf Jahrzehnte nicht erschöpft und werfen derzeit Steuereinnahmen von 13 Milliarden Pfund ab, die die Regierung in Westminster kassiert. Schottland dagegen erhält nach einer ausgeklügelten Formel rund 30 Milliarden Pfund Zuwendungen aus London. In der sogenannten Scotland Bill will Westminster die Formel demnächst verändern – zulasten Schottlands, sagt der Ökonom. Auch der Politikwissenschaftler Professor David McCrone in Edinburgh hegt stärkere Sympathien für die Unabhängigkeit als sein Glasgower Kollege John Curtice, mit dem er regelmäßig die Stimmungslage der Schotten auswertet. McCrones These lautet: Der Zusammenschluss zu Großbritannien vor 304 Jahren war eine Frage der Bequemlichkeit und bot seinerzeit Vorteile, die heute allesamt verschwunden sind.

    "Die Schotten traten der Union 1707 bei. Es war eine Vernunftehe, denn es gab Vorteile mit England zusammenzugehen. Und sie behielten die Kontrolle über viele institutionelle Unterschiede: Recht, Religion, Geld, eine andere Identität. Was den britischen Staat geformt hat, waren Religion und Krieg. Religion und Krieg schmiedeten die Briten zusammen. Dankenswerterweise spielt Krieg heute keine Rolle mehr und Religion im säkularen Staat auch nicht. Das dritte Element, das nach dem Zweiten Weltkrieg das Britische ausmachte, war der Wohlfahrtsstaat. Aber nach dessen Rückbau seit den 70er- und 80er-Jahren und vor allem heute – was bedeutet es da noch, britisch zu sein. Weder Religion noch Krieg noch Wohlfahrtsstaat - was ist übrig? Es war eine Weile nett, britisch zu sein. Aber, offen gesagt – was soll’s?"

    David McCrone meint, dass es eine quasi natürliche, kaum aufzuhaltende Entwicklung hin zur Unabhängigkeit gibt, vielleicht über den Zwischenschritt einer weitgehenden Autonomie. In den Augen der meisten Schotten hat die britische Regierung schlechte Karten, was auch immer sie tut. Erst recht, wenn in London die Tories am Ruder sind. Deren wirtschaftsliberale Politik kommt in Schottland nicht gut an und lässt viele weiter auf Distanz gehen. Hinzu kommt, dass die unionistischen Parteien in Schottland, ob Labour, Liberaldemokraten oder Konservative, allesamt in der Krise und der Defensive stecken. Ihre alten Führungsfiguren sind zurückgetreten, und ihnen fällt wenig Positives ein, um die Regentschaft in London und den Verbleib im Vereinigten Königreich zu begründen.

    "Die Leute werden sagen: warum? Warum? Erklärt uns, wo die Vorteile liegen, zu bleiben. Politisch, materiell. Und dann lautet die Antwort: Aber es ist doch eine gute Sache – und überhaupt: die Geschichte. Geschichte? Die ist tot. Warum soll Schottland Teil des United Kingdom bleiben? Sie haben keine gute Antwort darauf. Abgesehen von Sentimentalität: Wir waren doch solange zusammen. Kein gutes Argument!","

    sagt David McCrone, der Schotte, der in der prachtvollen, stolzen Hauptstadt Edinburgh lehrt, dem Regierungssitz.

    Sein Kollege John Curtice sieht das völlig anders, und das könnte auch daran liegen, dass er im englischen Cornwall geboren ist und in Glasgow lehrt, der regierungsfernen, wenig ansehnlichen Arbeiterstadt und ehemaligen Labourhochburg. Gerade die vielfältigen familiären und freundschaftlichen Verflechtungen im Vereinigten Königreich würden eine endgültige Trennung schwierig machen, sagt er. Es gehe nicht nur um ökonomische Vorteile, sondern auch um emotionale Bindungen, um Identität und Gefühle.

    ""Wenn man Leute befragt: Wie würden Sie sich fühlen, wenn sie am Morgen aufwachten und Schottland unabhängig wäre? Würden Sie sich zuversichtlich oder besorgt fühlen? Dann sagen mehr als die Hälfte: besorgt. Die SNP muss nicht nur die Leute von ihrem ökonomischen Argument überzeugen, sondern auch mit dem offensichtlichen Unwohlsein über die Aufkündigung der Union fertig werden. Es gibt in gewisser Hinsicht durchaus noch eine gemeinsame Identität, auch wenn sie in Schottland weniger ausgeprägt ist, als in England oder Wales. Und wir teilen noch einige politische Institutionen: Wir haben dieselbe Verteidigungs- und Außenpolitik. Es gibt eine britische Armee, die auch in Schottland geschätzt wird. Und wir haben noch die BBC, und wir haben die Queen."

    Ach die Queen, winkt David McCrone ab und widerspricht seinem Kollegen. Die Schotten scherten sich nicht um die Monarchie, sie seien nicht antimonarchistisch, aber sie wollten damit nicht belästigt werden. First Minister Alex Salmond hat jedenfalls einen möglichen königlichen Stolperstein auf dem Weg zur Unabhängigkeit vorsorglich beiseite geräumt. Natürlich werde auch ein unabhängiges Schottland stolz und glücklich sein, Ihre Majestät als Staatsoberhaupt zu behalten, versichert er und lächelt verschmitzt: