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Aussagen statt Stimmungen

Karin Richner schreibt vom Verlust eines Menschen. Die Protagonistin ist nach dem Tod ihrer Schwester geradezu erstarrt. Je nüchterner die Autorin dem Leser die Katastrophe vor Augen führt, umso intensiver wird er in die Geschichte des Mädchens hineingezogen

Von Agnes Hüfner | 28.08.2006
    Die Geschichte beginnt mit dem Satz: "Wenn Anna noch hier wäre, würde ich ihr dieses Café zeigen". So beiläufig wie die Bemerkung, dass Anna nicht mehr da ist, geht es weiter. Die Erzählerin, ein 22-jähriges Mädchen, schildert die Einrichtung des Cafés, Gäste, die sie beobachtet, den Platz in einer Nische, den sie Abend für Abend einnimmt. Sie beschreibt den Heimweg durch die nächtliche Stadt, das große alte, abseits gelegene Haus ihrer Kindheit, in dem Katze und Hamster die einzigen Lebewesen sind.

    Nichts an diesem Anfang deutet daraufhin, dass hier die Geschichte eines Verlustes erzählt wird, der das junge Mädchen von Grund auf verstört hat. Allenfalls lässt sich ihren Reaktionen eine Irritation entnehmen. Sie fühlt sich müde, erschöpft, Übelkeit überfällt sie, gelegentlich Angst. Sie hat die Nacht zum Tag gemacht, dreht die Musikanlage auf volle Lautstärke, tigert, bevor sie sich morgens schlafen legt, wie eine Somnambule durch das menschenleere Haus. Im Zimmer der Schwester verharrt sie in Erinnerungen. Ein erstarrtes Wesen.

    Anna ist die Schwester des Mädchens. "In Annas Gegenwart", heißt es, "fühlte ich mich glücklich und geborgen". Und: "Ein Leben ohne sie kenne ich nicht". Während der Leser begreift oder zumindest ahnt, welche Katastrophe die Abwesenheit der Schwester für die Zurückgebliebene bedeutet, setzt die Erzählerin im gleichen kargen, teilnahmslosen Ton ihren Bericht fort. Sie rekapituliert Szenen ihres Lebens mit Anna, versucht, die Gegenwart im Nacherleben der Vergangenheit von sich fernzuhalten, indem sie an die früher gemeinsam aufgesuchten Orte zurückgekehrt. In keinem Augenblick gibt sie die Selbstbeobachtung auf.

    Nichts hätte bei der Wahl dieses Stoffes und der Entscheidung, eine Ich-Erzählerin sprechen zu lassen, näher gelegen als ein einfühlsamer Erzählgestus. Es spricht für den Kunstverstand und die Disziplin der Autorin Karin Richner, dass sie Sentimentalitäten vermeidet. Fast ganz. unsicher, als traue sie ihren Fertigkeiten nicht, hängt die Autorin der Geschichte einen Schluss an, in dem ausgesprochen wird, dass Anna tot ist. Eine unnötig dramatische Pointe. Dass der Fortgang der Schwester endgültig ist und das Mädchen alles daransetzt, vor dieser Erkenntnis zu flüchten, hat man längst verstanden. Auch der süße Buchtitel, "Sind keine Seepferdchen" stört. Er nimmt einen Besuch im Zoo auf, bei dem vor dem Becken der Seepferdchen davon die Rede ist, dass Seepferdchenpaare ein Leben lang zusammenbleiben. Debütantenfehler. Schade.

    Durchweg verwendet die Autorin kurze Sätze, spart mit Adjektiven und Bildern. Ihr geht es nicht um Stimmungen, sondern um Aussagen. Je nüchterner sie dem Leser die Katastrophe vor Augen führt, umso intensiver wird er in die Geschichte des Mädchens hineingezogen Ratlos entlässt Richner ihn nicht. Sie gibt zu verstehen, dass das Mädchen sich aus der Erstarrung lösen kann -, wann immer das sein wird. Einer der letzten Sätze heißt: "Ich habe das Gefühl, am Ende einer Reise angekommen zu sein".