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Ausschreibungen bei medizinischen Hilfsmitteln
"Unsägliche Zustände"

Die Parteil Die Linke erteilt jeglichem Vertragswettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung eine klare Absage. Die behindertenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Katrin Werner, weist auf "unsägliche Zustände" in der alltäglichen Praxis hin. Die Hilfsmittel selbst seien oft von minderwertiger Qualität.

28.05.2015
    Katrin Werner am Rednerpult im Bundestag
    Die Linken-Bundestagsabgeordnete Katrin Werner im Bundestag (dpa / Britta Pedersen)
    1. Frage: Warum wird auf Ausschreibungen im Bereich medizinischer Hilfsmittelbereich gesetzt?
    Katrin Werner (Die Linke): Laut Begründung des Gesetzentwurfs der Großen Koalition zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 24. Oktober 2006 sollte der "verstärkte Vertrags- und Preiswettbewerb" gefördert werden. Insbesondere durch Ausschreibungen könnten Einsparungen bei den Leistungsausgaben in relevanter Größenordnung erreicht werden (Bundestagsdrucksache 16/3100). Die Linksfraktion hat sich seit ihrer Einführung strikt gegen Hilfsmittelausschreibungen und andere Selektivverträge wie Arzneimittelrabattverträge ausgesprochen.
    2. Frage: Wie bewerten Sie diese Praxis? Werden Menschen mit Behinderung hierdurch zusätzlich belastet?
    Werner: Die Linke lehnt Vertragswettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich ab. Von all diesen Selektivverträgen haben die Hilfsmittelausschreibungen vermutlich die gravierendsten negativen Auswirkungen entfaltet. Die Qualität der Versorgung darf nicht einem kurzfristigen und kurzsichtigen Sparzwang geopfert werden.
    Menschen mit Behinderungen sind selbstverständlich insbesondere auf die Versorgung mit Hilfsmitteln angewiesen und von Problemen betroffen. Versicherte haben laut § 33 SGB V explizit Anspruch auf die Versorgung mit Hilfsmitteln, wenn sie erforderlich sind, "einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen".
    Die Linke verwendet grundsätzlich den Behinderungsbegriff der UN-Behindertenrechtskonvention, der auch etwa viele chronisch Erkrankte umfasst. Wie so häufig werden bei diesen Versicherten die Sparschrauben angezogen, während auf der anderen Seite durch die jetzt mit dem Versorgungsstärkungsgesetz geplante Ausweitung von Satzungsleistungen den Wettbewerb um lukrative Versicherte erhöht und mehr Mittel dafür verschwendet werden.
    Die Sparanstrengungen der letzten zwanzig Jahre sind vor allem dem Willen geschuldet, die Beiträge und damit die Lohnnebenkosten niedrig zu halten. Seit die Krankenkassenbeiträge der Arbeitgeber festgeschrieben wurden und Mehrausgaben durch Zusatzbeiträge allein durch die Versicherten geschultert werden müssen, beobachten wir eine großzügigere Ausgabenpolitik zugunsten bestimmter Interessensgruppen.
    3. Frage: Zur Begründung der Petition wird darauf hingewiesen, dass die Vorgaben aus dem SGB V, § 127 Abs. 1 (Sicherstellung der Qualität, wohnortnahe Versorgung) durch solche Ausschreibungen nicht gewährleistet sei. Ist das der Fall?
    Werner: Der Aussage stimme ich voll zu. Die Qualität der Hilfsmittel und der Versorgung spielt beim Zuschlag durch die Krankenkassen offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Bei der Inkontinenzversorgung etwa sind unsägliche Zustände bekannt geworden, wo etwa voll-inkontinenten Patienten ein wohnungsfüllender Halbjahresbedarf vor die Wohnungstür gestellt wurde. Die Hilfsmittel selbst sind oft von minderwertiger Qualität. Vom viel zitierten Wettbewerb um Qualität ist bei den Hilfsmittelausschreibungen nichts zu sehen.
    4. Frage: Stimmt es, dass die Versorgung mit medizinischen Hilfsmitteln wie Rollstühlen durch Ausschreibungen länger dauert? Kommt es dadurch zu einer Verlängerung der Lieferzeiten? Gibt es Verzögerungen bei Reparaturen, weil nicht mehr immer wohnortnah repariert werden kann?
    Werner: Die Versorgung durch weit entfernte Versandanbieter dauert logischerweise länger als die Versorgung durch einen Anbieter vor Ort. Wenn etwa ein Rollstuhl zur Wartung oder Reparatur eingeschickt werden muss, kann der Betroffene dies ohne Hilfe praktisch nicht bewältigen. Sofern die Betroffenen durch solche Verzögerungen eine Zeit ohne Rollstuhl leben müssen, sind ihre Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe in dieser Zeit extrem eingeschränkt. Einzelfallberichte können wir als Bundestagsfraktion leider nicht liefern. Wir empfehlen dafür den Kontakt zur Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) bzw. zur Bundesarbeitsgemeinschaft der Patientenstellen und -Initiativen (BAGP).
    5. Frage: Weiter wird bemängelt, dass bereits durchgeführte Ausschreibungen gezeigt hätten, sollte ein Versicherter eine an seine Behinderung besser angepasste Versorgung einfordern, gehe dies zulasten des Versicherten. Es werde über den Weg der Zuzahlung durch den Patienten eine Kostenbeteiligung eingefordert, die oft viel höher als marktüblich seien. Haben Sie eigene Hinweise auf diese Praxis? Wird über Zuzahlungen tatsächlich die Versorgungsanpassung gesteuert? Und wenn ja, liegen diese über einem marktüblichen Niveau?
    Werner: Gesetzlich Versicherte haben nach § 33 Abs. 8 SGB V grundsätzlich eine gesetzliche Zuzahlung zu leisten (Ausnahmen vor allem: Menschen unter 18 Jahre, Befreiung durch Überschreitung der jährlichen Belastungsgrenze gem. § 62 SGB V). Unabhängig davon müssen die Versicherten nach § 33 Abs. 1 SGB V die Mehrkosten tragen, die den Krankenkassen entstehen, wenn ein Hilfsmittel mehr kostet, als die Krankenkasse verpflichtet ist zu übernehmen bzw. die "über das Maß des Notwendigen hinausgehen". Diese Aufzahlung kann im Unterschied zu den Zuzahlungen von wenigen Cent bis hin zu hohen Summen betragen. Nach Auffassung der Linken sind diese hohen Aufzahlungen oft ein Zeichen für Fehlregulierung. Die Folgen einer Behinderung müssen bestmöglich ausgeglichen werden. Ein stringentes Festbetragssystem kann dabei Mondpreise der Anbieter wirksam verhindern. Nur Merkmale, die weder mit Krankheitsbekämpfung noch mit Behinderungsausgleich zu tun haben, sollten aufschlagpflichtig sein. Das "Maß des Notwendigen" muss vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention neu definiert werden.
    6. Frage: Wie lässt sich verhindern, dass durch Ausschreibungen und die damit verbundene Unterbietung der Preise die Einnahmen des Ausschreibungsgewinners so weit gedrückt werden, dass dies zulasten der Produktqualität geht?
    Werner: Das im Jahr 2004 eingeführte Festbetragssystem ist – sofern es richtig angewendet wird – ein wirksames Mittel, um ohne Qualitätsverluste eine wirtschaftliche Versorgung zu ermöglichen. Die Festbeträge sind so festzulegen, dass eine qualitativ hochwertige Versorgung bei wirtschaftlicher Arbeitsweise auch kleinen ortsansässigen Anbietern möglich ist.
    Im Übrigen sind nicht nur Hilfsmittelausschreibungen an einer verschlechterten Versorgungsqualität schuld. Auch etwa die privaten externen Hilfsmittelberater werden von den Kassen offenbar zur Ausgabensenkung eingesetzt (Bundestagsdrucksache 18/2549, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/025/1802549.pdf).
    7. Frage: Sehen Sie die Gefahr, dass durch Preisunterbietungen kleinere Anbieter von Produkten im medizinischen Hilfsmittelbereich aus dem Markt gedrängt werden?
    Werner: Durch die Monopolrechte des Ausschreibungsgewinners haben andere Anbieter keine Möglichkeit mehr, die Versicherten dieser Krankenkasse zu versorgen. Dadurch wird die Anbieterstruktur vor Ort schwer beschädigt. Wer etwa von der Versorgung auf Kosten der AOKen und der sechs Ersatzkassen ausgeschlossen ist, hat keinen Zugang zu mehr als zwei Drittel der Versicherten.
    Sanitätshäuser und Apotheken sind wichtige Komponenten für ein attraktives Wohnumfeld, gerade für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Wenn sich die Regierungskoalition einerseits um einen Ärztemangel auf dem Land sorgt und andererseits für - übrigens überschaubare - Einsparungen durch bundesrechtlichen Vorgaben die Attraktivität des ländlichen Raums beschädigt, handelt sie unglaubwürdig und fahrlässig. Einmal zerstörte Infrastruktur ist nur mit immensen Anstrengungen wieder aufzubauen. Die Attraktivität des ländlichen Raums zu erhalten bzw. wieder herzustellen, ist eine gesamtpolitische Aufgabe. Jeder Politikbereich muss sich fragen, was er dazu beitragen kann.
    Die Fragen wurden schriftlich beantwortet.