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Außer Kontrolle

Im dritten Roman des Hamburger Michael Weins dreht sich alles um die Frage des Erwachsenwerdens. Lazyboy, der Titelheld des Buches, kann durch Türen gehen und verschwinden – allerdings unwillkürlich.

Von Detlef Grumbach | 14.11.2011
    "Mich hat tatsächlich an dieser Idee fasziniert, dass sie so einfach ist, dass es, wenn ich das so sagen darf, eine sehr literarische Idee ist, finde ich, dass ich es aber noch nicht kannte, obwohl es so zwingend ist und so simpel."

    Die Idee, die dem Roman zugrunde liegt, basiert auf dem Traum, einfach verschwinden zu können, sich wie Mr. Spock von der Enterprise oder der 15-jährige David Rice im Actionfilm "Jumper" an jeden anderen Ort beamen zu können, egal ob angesichts von Ärger und Stress oder um Macht und Präsenz zu demonstrieren. Doch in einem wichtigen Punkt verändert Michael Weins die Idee:

    "Für das Originelle halte ich, dass der Held das nicht kontrollieren kann, dass er keine Kontrolle hat. Das ist ein Thema, das mich immer interessiert literarisch, in jedem Buch spielt das eine Rolle, dass irgendjemand etwas nicht kontrollieren kann. Dies hier ist ja ein Anti-Superheld, dem widerfährt etwas in seinem Leben, was eine Nummer zu groß ist und er versucht, damit irgendwie klarzu¬kommen."

    Auch in seinem Roman "Lazyboy" dreht sich alles um die Frage des Erwachsenwerdens. Ein falscher Schritt, einmal den Schalter umgelegt, und schon ist man erwachsen, ein anderer Mensch. Dann, so die Horrorvorstellung des immerhin schon 35-jährigen Heiner Boies, erschöpfen sich die Abenteuer des Lebens darin, auf dem Traktorrasenmäher zu sitzen oder zum Skatabend zu gehen. Alles ist vorbestimmt oder "ferngesteuert", wie Antonia Baum in ihrem Debüt "Vollkommen leblos, bestenfalls tot" den Vater, die Mutter, ältere Freunde erlebt. Um sich dagegen zu immunisieren, um seine gefühlte Spontanität und Jugendlichkeit zu bewahren, hat sich der Held in Michael Weins Roman seinen Künstlernamen als DJ in den Pass eintragen lassen. Als "Lazyboy", so hofft er, kann er so jugendlich bleiben, wie er sich fühlt, doch dabei bleibt es nicht. Seine Sehnsucht verselbstständigt sich. Heiner Boie steht morgens auf, muss zur Arbeit, doch statt im Badezimmer landet Lazyboy in einem Möbelhaus, noch ohne die Morgentoilette gemacht zu haben. Der Chef hat Boie gerufen, Boie ist mit der Freundin verabredet, sie will ihn heiraten, die künftigen Schwiegereltern warten, doch Lazyboy löst sich plötzlich in Luft auf, findet sich auf der Schwäbischen Alp, im Botanischen Garten, in Amsterdam oder sonst wo wieder.

    "Wenn es gelingt, schaffe ich damit einen Typen, der sich so durchlaviert und große Verantwortung scheut. Dem passt das mal, mal passt es ihm, überhaupt nicht und es dauert ja eine Weile, bis sein Leiden so groß wird, dass er es tatsächlich verändern muss, dass er immer so sprunghaft ist und irgendwo ankommt, wo er eigentlich nicht sein sollte vielleicht, und das er dort nicht ankommt, wo er sein soll: bei seiner Arbeitsstelle, bei seiner Partnerin, bei seinen Freunden, da, wo man ihn erwartet."

    In drei Kapiteln erzählt Michael Weins diese abenteuerliche Geschichte. Im ersten erzählt er spielerisch und rasant von den überraschenden Sprüngen, von den Irritationen, von Erklärungsnöten und der Frage: Wer bist du eigentlich? Langsam wandelt sich die Lust am Unvorhersehbaren in Sorge. Lazyboy geht zu einer Therapeutin. Weins widersteht hier der Versuchung, das Unvorstellbare auszuerzählen, bedient sich schneller Schnitte, lässt den Ausgang einzelner Situationen in der Schwebe. Das verleiht der Geschichte Tempo, hält die Spannung auf hohem Niveau. Auf der Schwäbischen Alp lernt Lazyboy ein junges Mädchen kennen, das ähnliches erlebt wie er. Durch eine Tür im Keller gelangt es in einen fernen Ort, eine Art Museumsdorf, in dem die Zeit stillsteht. Die Bewohner fühlen sich gefangen, sind vom anderen Teil ihres Ortes, wo das Leben weiter geht, durch eine unüberwindbare Mauer getrennt. Sie warten auf den "Mittler", der die Teilung ihres Kosmos überwindet. Im zweiten Teil erzählt Weins, wie Lazyboy – jetzt kontrolliert und auf eigenen Wunsch – durch diese Kellertür geht, auf der anderen Seite für den Mittler gehalten wird, seine Aufgabe und Bestimmung annimmt. In diesem Teil spielt der Autor das Instrumentarium der Fantasie-Literatur. Genauestens und mit einer gewissen Gemächlichkeit pinselt der die Details einer fremden Welt aus. Er ironisiert sie aber auch, wenn Lazyboy es nicht mit mächtigen Herrschern, Rittern oder Königen zu tun bekommt, sondern mit einem alten Dorflehrer, der ihn an ein Foto von Hermann Hesse erinnert. Die Wandlung, die Lazyboy in dieser wundersamen Gegenwelt durchmacht, scheint an manchen Punkten etwas dick aufgetragen, der Leser zuckt zusammen und fürchtet, dass die Geschichte vorhersehbar wird, dass Lazyboy hier die Grenze überwinden lernt, die ihn im wirklichen Leben von Heiner Boie trennt. Zeichnet der Psychologe Weins, der hauptsächlich mit jugendlichen Klienten arbeitet, einen bilderbuchartigen Weg eines jugendlichen Spontis in Welt von Verantwortung und Pflicht?

    "Das ist kein Patient, den ich da beschreibe, weil ich eben weiß aus beruflichen Gründen, dass man einen diffizilen Umgang mit sich selbst überall bei allen Menschen finden kann. Identitätsfragen zu haben, möglicherweise sich immer mal wieder innerlich viel kindlicher zu fühlen als man nach außen sich verhält, das, glaube ich, ist etwas ganz Verbreitetes, das ist eine Erfahrung, die ich selber mache, dass ich mich innerlich sehr jung fühle und nach außen aber immer älter aussehe und auch so angesehen wer¬de. Und ganz viele Leute fühlen sich einfach innerlich jünger als sie nach außen sein wollen oder müssen, das scheint mir etwas ganz Normales."

    Die für Nicht-Fantasie-Leser durchaus vorhandenen Längen im zweiten Teil des Romans fängt Weins durch eine gewisse Komik auf, wenn er Lazyboy zwischendurch in seine Hamburger Realität zurückkehren und beispielsweise mit seiner Therapeutin über das Erleben sprechen lässt. Doch kann diese ihm helfen? Irgendwie kommt Lazyboy am Ende in der Realität des 35-jährigen Heiner Boies an, bemerkt er, dass er eigentlich längst erwachsen ist, dass seine Horrorvorstellungen nicht ganz zutreffen und er stets auch ein bisschen der alte Lazyboy bleiben darf. Davon erzählt der dritte Teil des Buchs. So kurz er ausfällt, so verblüffend und überraschend entschädigt die Auflösung der abenteuerlichen Geschichte für alle vorher aufgekommenen Zweifel, straft sie vorschnelle Ahnungen Lügen. Hier etwas zu verraten würde die Achterbahn der Lektüre in ein Kinderkarussell verwandeln, zumal der Autor ganz am Ende noch eine halbe Rolle Rückwärts hinlegt.

    "Ich hoffe, es löst sich nicht ganz auf, die Wirklichkeitsebene. Man hat eine rationale Erklärung am Ende für das, was passiert ist, aber ich wünsche mir, dass die Tür doch ein Stück weit angelehnt bleibt, die Tür so ins Wunderbare hinein."

    Michael Weins: "Lazyboy", Roman, Mairisch-Verlag 2011, 336 Seiten, 18,90 Euro