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Ausstechförmchen am Meeresboden

Polarforschung. - Das Meereis schmilzt, Gletscher brechen ab. Die Arktis verändert sich zurzeit rasend schnell. Aber diese Veränderungen zu untersuchen ist alles andere als einfach, denn kaum eine Region ist so abgelegen und schwer zu erreichen, wie die Gewässer um den Nordpol herum. Die Forscher sind für ihre Arbeit darauf angewiesen, von einem Eisbrecher mitgenommen zu werden.

Von Monika Seynsche |
    "Je suis très fatigué, je ne peux rien dire…."

    Er sei viel zu müde zum reden, erklärt Charles Gobeil von der Universität von Québec in Kanada. Seit über 24 Stunden sind er und seine Doktorandin Danielle Dubien auf den Beinen. Die Geochemiker sind mit dem Forschungseisbrecher "Sir Wilfried Laurier" unterwegs im Arktischen Ozean vor der Nordküste Alaskas.

    Die beiden stehen in einem fünf Quadratmeter großen, blauen Container, der mit schweren Eisenketten auf dem Vorderdeck des Eisbrechers festgezurrt ist. Vor ihnen auf dem Tisch ragt ein rechteckiger Metallzylinder auf, voll mit braunem Schlamm. Danielle Dubien nimmt einen Spachtel, schabt vorsichtig den obersten Zentimeter Schlamm ab und streicht ihn in eine durchsichtige Plastikdose.

    "”Ich nehme etwas von den Sedimenten, die wir vom Boden des Ozeans hochgeholt haben. Der ist hier etwa 1000 Meter tief. Das machen wir schon den ganzen Tag: wir holen Sedimente aus verschiedenen Tiefen entlang des Kontinentalhangs.""

    Zentimeter für Zentimeter schabt sie den grünlich-braunen Schlamm ab und verpackt ihn. Für jeden Zentimeter eine Dose. Die zwei Forscher sind fasziniert von den Sedimentablagerungen auf dem Meeresgrund, also jener Mixtur aus zu Staub zerfallenen Resten von Steinen, Tieren und Pflanzen im Meer. Denn an ihnen lässt sich die Geschichte des arktischen Ozeans ablesen. Jedes Jahr stirbt und zersetzt sich eine bestimmte Menge Tiere und Pflanzen und bildet zusammen mit mineralischen Partikeln eine dünne Schicht Sediment. Im nächsten Jahr legen sich die Reste der später Verstorbenen darauf und so fort. Je nachdem wie viele Lebewesen in einer Meeresregion leben und wie viel verwittertes Gestein aus Flüssen oder von den Küsten herangespült wird, gibt es mehr oder weniger dicke Sedimentablagerungen. Nach etwa zwei Stunden stapeln sich 50 gefüllte Plastikdöschen auf dem Labortisch und der Metallzylinder ist leer. Der Eisbrecher hat mittlerweile den nächsten Halt erreicht.

    Auf dem Vorderdeck wuchten vier Seeleute ein riesiges, dreibeiniges Stahlgestell zur Reling und lassen es zu Wasser. Auf dem Grund angekommen, schiebt sich der eckige, hohle Rumpf des Ungetüms in den schlammigen Meeresboden. Dann ruckt die Winde am Kabel, der schaufelförmige Seitenarm schwingt nach unten und verschließt den Rumpf und seinen schlammigen Inhalt. Wenn der wieder Zentimeter für Zentimeter im Labor untersucht wird, interessiert sich Charles Gobeil besonders für ein Element: Kohlenstoff.

    "”Wenn man das Klima erwärmt, zieht sich das Eis zurück. Dadurch gelangt immer mehr Licht in den Ozean, die Photosynthese wird angekurbelt, und die kleinsten Pflanzen im Wasser wachsen - das Phytoplankton.""

    Bei der Photosynthese holen sich die Pflanzen Kohlenstoff aus dem Kohlendioxid in der Atmosphäre und bauen ihn in Pflanzenmaterial um. Wenn sie sterben, nehmen sie ihn mit in die Tiefe und legen sich als neue Sedimentschicht auf die alten. Durch das wärmere Klima könnten die kalten Ozeane also in Zukunft mehr Kohlendioxid aus der Atmosphäre binden als bisher und den Treibhauseffekt abmildern. Ob sie das tun, wird Charles Gobeil erst wissen, wenn er seine Plastikdöschen zuhause in Québec untersucht hat.