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Ausstellung im Mucem in Marseille
Jeder ist ein Tänzer

Eine Ausstellung im Marseiller Mucem, dem Museum für die Kulturen Europas und des Mittelmeeraums, kreist um die Frage: Wann und wie beginnt ein Tanz? Die Schau antwortet mit einer beeindruckenden Bilderflut - doch manche Antwort bleibt sie schuldig.

Von Kathrin Hondl |
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    Kinder im "studio de chauffe", dem "Aufwärmstudio", ein Projekt des Choreografen Boris Charmatz (Kathrin Hondl)
    Von der Decke des Museumsfoyers hängen zwei Discokugeln herab. Zehn Kinder bewegen sich, angeleitet von einem Choreografen, tanzend durch den Raum. Willkommen im "studio de chauffe", dem "Aufwärmstudio" - einem Projekt des Tänzers und Choreografen Boris Charmatz, der dieses Jahr als Gastkünstler in Marseille ist. Jedes Wochenende dürfen da alle mitmachen beim Warmmachen, dem Prolog für die Ausstellung "On danse?".
    Man tanzt also im Mucem, und das ist gar nicht so überraschend, wie es vielleicht scheinen mag. Denn schon im musealen Vorgänger, dem Pariser Museum für Volkskunst und Traditionen, war der Tanz wichtig, sagt Kuratorin Emilie Girard:
    "Wir beschäftigen uns im Mucem mit dem Tanz als Gesellschaftsphänomen. Schon im alten Volkskunst-Museum sammelten die Wissenschaftler Zeugnisse regionaler oder folkloristischer Tänze. Und so gibt es heute in der Sammlung des Mucem zahlreiche Filme, die unterschiedliche Tanzsitten dokumentieren."
    Keine volkstümlichen Traditionen
    Allerdings spielen diese Archive in der aktuellen Ausstellung jetzt kaum eine Rolle. Denn nicht Folkloregeschichte oder volkstümliche Traditionen interessierten die Kuratorinnen sondern das Tanzen an und für sich:
    "Es geht um das Tanzen jenseits historischer oder geographischer Grenzen. Die Titelfrage "Tanzen wir?" meint auch – Tanzen wir nicht viel mehr, als wir meinen? Ist Tanzen nicht Alltag?"
    Na ja, was zum Beispiel Daniil Simkin, Solotänzer des American Ballet Theatre, in den Straßen von New York macht, ist nicht alltäglich. Ein Video zeigt ihn, wie er sich durch die Stadt bewegt und dabei das Repertoire des klassischen Tanzes ausführt: Perfekte Posen, Sprünge, Schrittfolgen, auf die Passanten kopfschüttelnd reagieren. Jenseits der Bühne sind die Codes des klassischen Balletts unangebracht, wenn nicht lächerlich.
    Das Video "Simkin in the City" ist Teil eines mehrere Stunden langen Flows von Filmen und Videos, die in der Ausstellung zu sehen sind – und zwar nacheinander und überall, auf großen und kleinen Leinwänden und Bildschirmen, sogar auf dem Vorhang, durch den man die Ausstellung am Ende verlässt. Wobei: Installation ist hier der treffendere Begriff. Denn die Annäherung an das Thema Tanz ist immersiv, nicht diskursiv.
    Besucher können rutschen und schaukeln
    Wie beim Tanzen geht es um die Erfahrung von Körper, Raum und Zeit. Die Museumsbesucher bewegen sich in einer mit weichem Teppichboden ausgelegten Raumlandschaft. Sie können in Liegestühlen ruhen, auf Wippen schaukeln, Rampen hinunterrutschen oder sich einfach hinlegen, und die Flut der bewegten Bilder wirken lassen. Wer allerdings alle 59 Filme sehen wollte, müsste den ganzen Tag im Museum bleiben.
    "Shirtologie" von dem Choreographen Jérôme Bel zeigt einen Mann, der mit allen Verrenkungen, die das erfordert, liest, was auf seinem T-Shirt steht und das dann als Aufforderung zum Handeln versteht – zum Beispiel zum Singen nach den Noten, die aufs T-Shirt gedruckt wurden.
    Auch großes Kino ist dabei. Ein Ausschnitt aus Jean-Luc Godards Film "Bande à part", in dem der Regisseur eine Tanzszene unterbricht, um im Off die Gefühle und Gedanken seiner Protagonisten zu beschreiben.
    Und im Oscar-prämierten Animationsfilm "Tango" von 1983 sieht man immer mehr Personen in einem Zimmer immer wieder gleiche Alltagsbewegungen wiederholen, was am Ende eine beeindruckende kollektive Choreographie ergibt.
    Jede Bewegung - ein Tanz?
    Es ist angenehm, sich der Tanz-Bilderflut im Mucem hinzugeben. Aber nach einer Weile gesellt sich zur hübschen Titelfrage "Tanzen wir?" auch die Frage: "Und was lernen wir hier nun?" Okay - Menschen bewegen sich, immer und überall, ob choreografiert oder nicht. Oder haben die Kuratorinnen noch eine tiefergehende Botschaft?
    "Die Botschaft", sagt Emilie Girard, "wäre die: Sie tanzen vielleicht nicht gern, denken vielleicht, dass Sie nie tanzen, aber hier sehen Sie, dass Sie alle irgendwann einmal Tänzer sind. Es geht um die Universalität des Tanzaktes."
    Fazit also: Wir tanzen. Ob wir wollen oder nicht? Jede Bewegung oder auch Bewegungslosigkeit – ein Tanz? Das aber ist leider eine ziemlich lapidare Message – etwas weniger Immersion und mehr Diskussion hätte diesem Ausstellungsprojekt jedenfalls gut getan.