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Ausstellung in der Tate Britain
Die Rohheit feiern

Von Francis Bacon über William Coldstream zu Lucian Freud: das pralle, das schlaffe, das ungeschönte Leben – wie es britische Malerinnen und Maler sahen und sehen. Dies wird in einer Londoner Ausstellung anhand von 100 Werken gezeigt.

Von Hans Pietsch | 28.02.2018
    Eine übergewichtige nackte Frau schlummert auf einem Sessel, riesige Brüste, überall quellen Fleischwülste hervor. "Sleeping by the Lion Carpet" von 1996 ist eines der Hauptwerke von Lucian Freud, ein Paradebeispiel für sein nichts schonendes Auge und seine bravouröse Maltechnik. "Ich möchte, dass die Farbe wie Fleisch arbeitet", schrieb er einmal. Im nächsten Raum hängt "Triptych", das letzte große Triptychon, das Francis Bacon Mitte der Siebzigerjahre schuf – drei nackte männliche Körper am Strand, schmerzlich verzerrt, trotz gleißender Sonne keine Urlaubsstimmung.
    Die beiden Giganten der britischen Nachkriegsmalerei stehen im Zentrum der Schau, die zeigen will, wie in den letzten 100 Jahren Wirklichkeit dargestellt wurde. Der Untertitel lautet ’Das Leben malen‘ und nicht ’Malen nach dem Leben‘. Kuratorin Elena Crippa erläutert, dass einige Künstler sich am Modell orientieren, andere dagegen nicht:
    "Das beste Beispiel für diese Maler ist Francis Bacon, der sich immer geweigert hat, in Anwesenheit eines Modells zu malen. Er hätte sich dabei sehr unwohl gefühlt und glaubte, das würde sich auf die Leinwand übertragen. Es geht also darum, eine lebende Erfahrung darzustellen, das Leben selbst, die schiere Vitalität der Figur."
    Ein Jahrhundert britische Kunstgeschichte
    Die weitgehend chronologisch gehängte Schau geht zurück bis zu Walter Sickert zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinen düsteren Aktdarstellungen, für die ihm hauptsächlich Prostituierte Modell standen. Die beiden großen Lehrer kommen zu Wort, die mehrere Generationen von Künstlern auf ganz unterschiedliche Weise beeinflussten: William Coldstream, der auf genaues Hinsehen und strenges Messen pochte, und David Bomberg, der einen freieren Umgang mit dem Motiv bevorzugte.
    Er unterrichtete zwei der anderen Großen: Leon Kossoff, der mit grobem Pinsel vor allem seine städtische Umgebung malt, Märkte im Londoner East End, Eisenbahnlinien, ein Schwimmbad; und Frank Auerbach, dessen pastose Porträts und Stadtansichten einen Höhepunkt der Schau darstellen.
    Was nun vereint diese so unterschiedlichen Künstler? Noch einmal Kuratorin Elena Crippa:
    "Wir sehen Maler, die keine idealisierten Motive malen. Sie schauen auf die rohe Gegenwart ihres Umfelds, sei es eine Person, ihre Stadt, ein Gegenstand. Sie feiern diese Rohheit, und das ist sehr persönlich und oft auch sinnlich."
    Keine idealisierten Modelle
    Eine der wenigen, die mit ihren Bildern Geschichten erzählt, ist die aus Portugal stammende Paula Rego. Ihre großformatigen Leinwände, oft mit Wachskreide gemalt, sind stark autobiografisch, erzählen von Verlangen und Angst, von männlicher Dominanz und weiblicher Schläue.
    Trotz großer Namen und einiger wunderbarer Werke ergibt die Ausstellung aber irgendwie kein kohärentes Ganzes. Die Chronologie ist ein zu schwerfälliges Konzept, was fehlt, ist eine zentrale These, ’Das Leben malen‘ ist da zu weit gefasst. Und zu viel Peripheres ist zu sehen: Was soll hier etwa der obskure Francis Newton Souza, dessen an Bernard Buffet erinnernde Porträts ein ganzer Raum gewidmet ist?
    Wirklich enttäuschend ist der letzte Raum, in dem vier Malerinnen die Gegenwart und die Zukunft repräsentieren sollen. Den Arbeiten von Cecily Brown, Jenny Saville und Lynette Yoadom-Boakye fehlt die Wucht ihrer Vorgänger, von Sickert bis Freud. Lediglich Celia Paul, die mit einer Familiengruppe und einem starken Selbstporträt in farbbespritztem Malerkittel vertreten ist, kann sich mit ihnen messen.